Vom Frauenbuchladen zum queerfeministischen Raum – Die Buchhandlung „Glitch“ in München
Seit 2023 kann man in der Barerstraße 70 in den Räumen des feministischen Buchladens Glitch nach Büchern abseits des Kanons stöbern. Wie der Feminismus selbst, so hat auch dieser Ort eine spannende, wechselvolle Geschichte, die weit zurückreicht. Eine Zeitreise von den 70ern bis in die Gegenwart. Von Anna Weber und Pauline May.
*
Eins steht fest: Eine dröge Wasserglaslesung wird das hier sicher nicht. Alle Plätze sind belegt. Der Buchladen ist zwar nicht groß, aber immerhin bietet er Platz für etwa 70 Gäst*innen. Im Hintergrund läuft queerfeministische Popmusik. Die Stimmung ist ausgelassen, fast familiär. Wir sind beim queerfeministischen Comedyabend im Buchladen Glitch. Die auftretenden Acts sind vielfältig, genau wie die Themen: Es geht um Familienurlaub mit anderen Eltern, um Reiten auf Menschen UND Pferden oder darum, dass man als kleiner Mensch auf Konzerten ungefragt auf die Schultern genommen wird.
Manches hier wirkt provisorisch. Für etwas mehr Privatsphäre während der Veranstaltung sorgt beispielsweise ein großes Tuch, das vor dem Schaufenster festgeknotet wurde. Im Laufe des Abends löst es sich und fällt den Zuschauer*innen auf den Kopf – sie sehen kurz aus wie Gespenster. Aufgehängt wird es danach nicht mehr. Doch gerade dieses Provisorische – die selbstgemachten Regalbeschriftungen, das zusammengewürfelte Mobiliar – macht den Laden so sympathisch.
Geschichten des Kampfes fortschreiben
Dass es auch im Jahr 2025 noch einen so belebten feministischen Buchladen in München geben würde, war nicht immer so selbstverständlich, wie es an diesem Abend scheint. Zwar wurde der Vorgänger von Glitch, der Frauenbuchladen Lillemor’s schon in den 1970er Jahren gegründet – 2023 sieht es jedoch so aus, als ob der Buchladen endgültig schließen muss. Die langjährigen Inhaberinnen Ursula Neubauer und Andrea Gollbach finden keine Nachfolger*innen. Sebastian vom Glitch-Kollektiv erinnert sich noch gut an diese Zeit: „Als Kund*innen von Lillemor’s waren wir ziemlich geschockt, als der Laden schließen sollte“, sagt er. Daraufhin hätten sich „erst ein paar wenige und dann schnell sehr viele mehr ein Herz gefasst und versucht, diesen für München so wichtigen politischen und kulturellen Raum zu erhalten.“ Das Bewusstsein für das Erbe und die Kontinuitäten im feministischen Kampf sei dabei sehr ausgeprägt. Für Sebastian ist allerdings auch klar: „Geschichten (auch des Kampfes) fortzuschreiben, ist genauso wichtig wie sie anzufangen.“ Das bedeute durchaus, Dinge „bewusst anders“ zu machen.
So werde Glitch heute auf Kollektivbasis geführt. Was das in der Praxis bedeutet, erzählt uns Ronny. Ronny ist seit Februar bei Glitch aktiv und dort Teil der AG Buchladen. Außerdem engagiert sich Ronny beim Slutwalk München. „Wir machen alles ehrenamtlich, so wie wir Zeit haben. Bei uns sind um die 60 Leute aktiv. Glitch als Kollektiv ist nicht nur der Buchladen, es gibt eine Kunst- und eine Events-AG, Social Media, die Homepage. Dank des Ehrenamtes sparen wir unheimlich an Personalkosten. Außer, dass kein Lohn gezahlt wird, ist es aber eine ganz normale Buchhandlung.“
Von Lillemor’s zu Glitch, vom Frauenbuchladen zum Queerfeminismus
Wie viel sich seit den 70er Jahren verändert hat, auch in der Zielsetzung feministischer Projekte, zeigt sich zudem am Namen, den Sebastian und seine Mitstreiter*innen für den neuen-alten Buchladen gewählt haben: Glitch, eine Störung im System. Sie ist dabei keineswegs unerwünscht, sondern dient als ästhetisches Ausdrucksmittel. Im Namen drückt sich so eine Verbundenheit zum Digitalen aus – gleichzeitig ist die Idee einer produktiven Störung auch auf andere, analoge Räume übertragbar, Stichwort: Cyberfeminismus.
Als der Frauenbuchladen Lillemor’s im Jahr 1975 eröffnete, wollte man bewusst nur Frauenbuchladen heißen – der Namenszusatz Lillemor’s (dänisch, norwegisch, schwedisch für „Mütterlein“) war eine Notlösung. Denn der von den Gründerinnen ursprünglich gewählte Name Frauenbuchladen wurde von den Behörden nicht anerkannt – begleitet von der Frage, was ein Ort mit solch einem merkwürdigen Namen überhaupt sein sollte. Dabei war die Entscheidung der Gründerinnen dafür, von einem Frauenbuchladen und eben nicht einer Buchhandlung zu sprechen, eine sehr bewusste. Der Name sollte Frauen an vertraute Orte wie Milch- oder Schreibwarenladen erinnern – und dafür sorgen, dass die Hemmschwelle, das Geschäft zu betreten, möglichst gering ist – vor allem für Frauen, die nicht aus akademischen Kontexten kommen. Außerdem sollte der Titel Frauenbuchladen – offensichtlich – vor allem Frauen ansprechen.
Der Buchladen als sicherer Raum
In den Anfangsjahren waren Männer im Frauenbuchladen dennoch erlaubt, ab 1978 dann nicht mehr. Die Gründerinnen bemerkten, dass viele Männer den Frauenbuchladen aus Voyeurismus betraten, nicht aus ehrlichem Interesse. Zudem ging mit dem Männerverbot ein sozialarbeitender Anspruch einher: Durch das Verbot sollte für Frauen, die von männlicher Gewalt betroffen waren, ein sicherer Raum geschaffen werden. Teilweise, das erzählt Andrea Gollbach im Gespräch mit der taz, waren sie und ihre Mitstreiterinnen die ersten, die diesen Frauen zuhörten und sagten: „Das ist Gewalt, was du da erlebst.“ Auch Selbstverteidigung brachte man sich gegenseitig bei, um sich gegen patriarchale Gewalt wehren zu können, erzählen Mitarbeiterinnen aus den Anfangsjahren im Dokumentarfilm „Außer Männer hatten wir nichts zu verlieren“. In den 2000er Jahren lockerte sich das Männerverbot. Die Mitarbeiterinnen hatten schlichtweg keine Lust mehr, allen Männern erklären zu müssen, dass sie hier nicht erlaubt waren.
Dass Männer heute bei Glitch willkommen sind, führt Ronny aus dem Kollektiv auf den queerfeministischen Anspruch des Buchladens zurück. Dieser tritt anstelle des Ideals einer reinen Frauenbewegung, das noch in den 70er Jahren weit verbreitet war – und in manchen gegenwärtigen Strömungen des Feminismus noch immer ist. Bei Glitch wolle man hingegen einen Raum schaffen, in dem sich alle ausdrücken können. „Für mich be- steht darin der Charme von Glitch“, sagt Ronny. Einen queerfeministischen Anspruch zu verfolgen, bedeutet darüber hinaus für die Mitglieder des Kollektivs ganz im Sinne eines Glitches, binäre Ordnungen zu stören – etwa die von Mann und Frau oder Natur und Kultur. „Wir möchten den Blick auf die Graustufen werfen, auf die Zwischentöne und die Zweifel und Ambivalenzen, die darin liegen“, schreiben die Glitchies, die Mitglieder des Kollektivs, auf ihrer Webseite.
So hat man heute bei Glitch also nicht einmal mehr die Männer zu verlieren. Workshops zur Selbstverteidigung werden allerdings noch immer organisiert, heute läuft die Anleitung zum Boxen aufmüpfiger Männer jedoch unter dem Stichwort „Empowerment“. Dass das noch immer notwendig ist, liegt daran, dass manches sich eben nicht verändert hat – oder im Gegenteil, nicht unbedingt ins Positive. Noch immer ist jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von sexualisierter Gewalt betroffen, beinahe jeden zweiten Tag stirbt eine Frau infolge eines Femizids, die Abtreibungsversorgung in Bayern ist desolat, die Pille für den Mann gibt es noch immer nicht. Trans Menschen sind weltweit Gewalt ausgesetzt. Aber auch ein positiver Anspruch gegen diese Tendenzen besteht nach wie vor fort: etwa der Glaube daran, dass Lesen verbinden und befreien kann – dass es für die Befreiung allerdings auch Räume braucht, und Geld, und Menschen, die für sie arbeiten. Das ist inmitten des rechten Backlashes, den wir gerade erleben, womöglich die frohe Botschaft: Bei Glitch sind die Störer*innen des konservativen Zeitgeistes noch zu finden.
Vom Frauenbuchladen zum queerfeministischen Raum – Die Buchhandlung „Glitch“ in München>
Seit 2023 kann man in der Barerstraße 70 in den Räumen des feministischen Buchladens Glitch nach Büchern abseits des Kanons stöbern. Wie der Feminismus selbst, so hat auch dieser Ort eine spannende, wechselvolle Geschichte, die weit zurückreicht. Eine Zeitreise von den 70ern bis in die Gegenwart. Von Anna Weber und Pauline May.
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Eins steht fest: Eine dröge Wasserglaslesung wird das hier sicher nicht. Alle Plätze sind belegt. Der Buchladen ist zwar nicht groß, aber immerhin bietet er Platz für etwa 70 Gäst*innen. Im Hintergrund läuft queerfeministische Popmusik. Die Stimmung ist ausgelassen, fast familiär. Wir sind beim queerfeministischen Comedyabend im Buchladen Glitch. Die auftretenden Acts sind vielfältig, genau wie die Themen: Es geht um Familienurlaub mit anderen Eltern, um Reiten auf Menschen UND Pferden oder darum, dass man als kleiner Mensch auf Konzerten ungefragt auf die Schultern genommen wird.
Manches hier wirkt provisorisch. Für etwas mehr Privatsphäre während der Veranstaltung sorgt beispielsweise ein großes Tuch, das vor dem Schaufenster festgeknotet wurde. Im Laufe des Abends löst es sich und fällt den Zuschauer*innen auf den Kopf – sie sehen kurz aus wie Gespenster. Aufgehängt wird es danach nicht mehr. Doch gerade dieses Provisorische – die selbstgemachten Regalbeschriftungen, das zusammengewürfelte Mobiliar – macht den Laden so sympathisch.
Geschichten des Kampfes fortschreiben
Dass es auch im Jahr 2025 noch einen so belebten feministischen Buchladen in München geben würde, war nicht immer so selbstverständlich, wie es an diesem Abend scheint. Zwar wurde der Vorgänger von Glitch, der Frauenbuchladen Lillemor’s schon in den 1970er Jahren gegründet – 2023 sieht es jedoch so aus, als ob der Buchladen endgültig schließen muss. Die langjährigen Inhaberinnen Ursula Neubauer und Andrea Gollbach finden keine Nachfolger*innen. Sebastian vom Glitch-Kollektiv erinnert sich noch gut an diese Zeit: „Als Kund*innen von Lillemor’s waren wir ziemlich geschockt, als der Laden schließen sollte“, sagt er. Daraufhin hätten sich „erst ein paar wenige und dann schnell sehr viele mehr ein Herz gefasst und versucht, diesen für München so wichtigen politischen und kulturellen Raum zu erhalten.“ Das Bewusstsein für das Erbe und die Kontinuitäten im feministischen Kampf sei dabei sehr ausgeprägt. Für Sebastian ist allerdings auch klar: „Geschichten (auch des Kampfes) fortzuschreiben, ist genauso wichtig wie sie anzufangen.“ Das bedeute durchaus, Dinge „bewusst anders“ zu machen.
So werde Glitch heute auf Kollektivbasis geführt. Was das in der Praxis bedeutet, erzählt uns Ronny. Ronny ist seit Februar bei Glitch aktiv und dort Teil der AG Buchladen. Außerdem engagiert sich Ronny beim Slutwalk München. „Wir machen alles ehrenamtlich, so wie wir Zeit haben. Bei uns sind um die 60 Leute aktiv. Glitch als Kollektiv ist nicht nur der Buchladen, es gibt eine Kunst- und eine Events-AG, Social Media, die Homepage. Dank des Ehrenamtes sparen wir unheimlich an Personalkosten. Außer, dass kein Lohn gezahlt wird, ist es aber eine ganz normale Buchhandlung.“
Von Lillemor’s zu Glitch, vom Frauenbuchladen zum Queerfeminismus
Wie viel sich seit den 70er Jahren verändert hat, auch in der Zielsetzung feministischer Projekte, zeigt sich zudem am Namen, den Sebastian und seine Mitstreiter*innen für den neuen-alten Buchladen gewählt haben: Glitch, eine Störung im System. Sie ist dabei keineswegs unerwünscht, sondern dient als ästhetisches Ausdrucksmittel. Im Namen drückt sich so eine Verbundenheit zum Digitalen aus – gleichzeitig ist die Idee einer produktiven Störung auch auf andere, analoge Räume übertragbar, Stichwort: Cyberfeminismus.
Als der Frauenbuchladen Lillemor’s im Jahr 1975 eröffnete, wollte man bewusst nur Frauenbuchladen heißen – der Namenszusatz Lillemor’s (dänisch, norwegisch, schwedisch für „Mütterlein“) war eine Notlösung. Denn der von den Gründerinnen ursprünglich gewählte Name Frauenbuchladen wurde von den Behörden nicht anerkannt – begleitet von der Frage, was ein Ort mit solch einem merkwürdigen Namen überhaupt sein sollte. Dabei war die Entscheidung der Gründerinnen dafür, von einem Frauenbuchladen und eben nicht einer Buchhandlung zu sprechen, eine sehr bewusste. Der Name sollte Frauen an vertraute Orte wie Milch- oder Schreibwarenladen erinnern – und dafür sorgen, dass die Hemmschwelle, das Geschäft zu betreten, möglichst gering ist – vor allem für Frauen, die nicht aus akademischen Kontexten kommen. Außerdem sollte der Titel Frauenbuchladen – offensichtlich – vor allem Frauen ansprechen.
Der Buchladen als sicherer Raum
In den Anfangsjahren waren Männer im Frauenbuchladen dennoch erlaubt, ab 1978 dann nicht mehr. Die Gründerinnen bemerkten, dass viele Männer den Frauenbuchladen aus Voyeurismus betraten, nicht aus ehrlichem Interesse. Zudem ging mit dem Männerverbot ein sozialarbeitender Anspruch einher: Durch das Verbot sollte für Frauen, die von männlicher Gewalt betroffen waren, ein sicherer Raum geschaffen werden. Teilweise, das erzählt Andrea Gollbach im Gespräch mit der taz, waren sie und ihre Mitstreiterinnen die ersten, die diesen Frauen zuhörten und sagten: „Das ist Gewalt, was du da erlebst.“ Auch Selbstverteidigung brachte man sich gegenseitig bei, um sich gegen patriarchale Gewalt wehren zu können, erzählen Mitarbeiterinnen aus den Anfangsjahren im Dokumentarfilm „Außer Männer hatten wir nichts zu verlieren“. In den 2000er Jahren lockerte sich das Männerverbot. Die Mitarbeiterinnen hatten schlichtweg keine Lust mehr, allen Männern erklären zu müssen, dass sie hier nicht erlaubt waren.
Dass Männer heute bei Glitch willkommen sind, führt Ronny aus dem Kollektiv auf den queerfeministischen Anspruch des Buchladens zurück. Dieser tritt anstelle des Ideals einer reinen Frauenbewegung, das noch in den 70er Jahren weit verbreitet war – und in manchen gegenwärtigen Strömungen des Feminismus noch immer ist. Bei Glitch wolle man hingegen einen Raum schaffen, in dem sich alle ausdrücken können. „Für mich be- steht darin der Charme von Glitch“, sagt Ronny. Einen queerfeministischen Anspruch zu verfolgen, bedeutet darüber hinaus für die Mitglieder des Kollektivs ganz im Sinne eines Glitches, binäre Ordnungen zu stören – etwa die von Mann und Frau oder Natur und Kultur. „Wir möchten den Blick auf die Graustufen werfen, auf die Zwischentöne und die Zweifel und Ambivalenzen, die darin liegen“, schreiben die Glitchies, die Mitglieder des Kollektivs, auf ihrer Webseite.
So hat man heute bei Glitch also nicht einmal mehr die Männer zu verlieren. Workshops zur Selbstverteidigung werden allerdings noch immer organisiert, heute läuft die Anleitung zum Boxen aufmüpfiger Männer jedoch unter dem Stichwort „Empowerment“. Dass das noch immer notwendig ist, liegt daran, dass manches sich eben nicht verändert hat – oder im Gegenteil, nicht unbedingt ins Positive. Noch immer ist jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von sexualisierter Gewalt betroffen, beinahe jeden zweiten Tag stirbt eine Frau infolge eines Femizids, die Abtreibungsversorgung in Bayern ist desolat, die Pille für den Mann gibt es noch immer nicht. Trans Menschen sind weltweit Gewalt ausgesetzt. Aber auch ein positiver Anspruch gegen diese Tendenzen besteht nach wie vor fort: etwa der Glaube daran, dass Lesen verbinden und befreien kann – dass es für die Befreiung allerdings auch Räume braucht, und Geld, und Menschen, die für sie arbeiten. Das ist inmitten des rechten Backlashes, den wir gerade erleben, womöglich die frohe Botschaft: Bei Glitch sind die Störer*innen des konservativen Zeitgeistes noch zu finden.