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11.07.2025, 13:15 Uhr
Andrea Heuser
Text & Debatte

Nachruf auf Margot Friedländer

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Außenminister Antony J. Blinken hält eine Rede bei der Eröffnung des deutsch-amerikanischen Dialogs zum Thema Holocaust in Berlin, Deutschland, am 24. Juni 2021. Rechts im Bild: Margot Friedländer [State Department, Foto: Ron Przysucha/ Public Domain]

Am 9. Mai 2025 verstarb Margot Friedländer, geborene Anni Margot Bendheim, im Alter von 103 Jahren in ihrer Heimatstadt Berlin. Nach einem langen, bewegten Leben geprägt von Verfolgung und Emigration kehrte sie, knapp neunzigjährig, von New York nach Berlin zurück, wo sie am 5. November 1921 zur Welt gekommen war. Als eine erste, vorsichtige Wiederannäherung an Deutschland war dem Ehepaar Friedländer von Freunden zunächst München empfohlen worden – hier sei es weniger „deutsch“, sondern mehr wie in der Schweiz. Doch Margot Friedländer zog es heim nach Berlin. Andrea Heuser hat der bis zuletzt unermüdlich wirksamen Shoah-Zeitzeugin einen persönlichen Nachruf gewidmet. 

*

„Versuche, dein Leben zu machen.“ 

So lautete die letzte Botschaft der Mutter Auguste Bendheim an ihre Tochter Margot. Margot, damals einundzwanzigjährig, musste nach der Deportation der Familie allein im nun feindlichen Berlin überleben. 

Am 29. Januar 1943 waren die Mutter und Margots Bruder Ralph in ihrer Heimatstadt Berlin von der Gestapo aufgegriffen, mit dem so genannten Osttransport nach Auschwitz-Birkenau deportiert und wenig später dort vergast worden. Margots Vater Arthur Bendheim, von der Mutter geschieden, war bereits 1942 in Frankreich erfasst und ebenfalls in Auschwitz ermordet worden. Untergetaucht, getarnt, versteckt, verfolgt. Dann später durch Verrat aufgespürt und im Konzentrationslager Theresienstadt interniert, wo sie ihren späteren Mann, Adolf Friedländer wieder traf, mit dem sie nach dem Krieg in die USA emigrierte  – die junge Margot Bendheim verbrachte jeden ihrer Tage bis zum 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung aller von den Nationalsozialisten Verfolgten, wohl in dem Wissen, dass sie gerade nicht ihr Leben machte, sondern schlicht überlebte. Was bedeute also dieser Satz?

„Versuche, dein Leben zu machen.“ Ein Satz, den jede Mutter ihrer Tochter ausgesprochen wie unausgesprochen mitgibt oder mitgeben könnte. Aber welche unfassbaren Abgründe muss dieser Satz wohl überbrücken, wenn er von einer Mutter gegenüber dem eigenen Kind in dem Wissen ausgesprochen wird, dass allein der Versuch, ein Leben unter den unwürdigsten aller Lebensumstände zu wagen, höchstwahrscheinlich in den Tod führt. 

Wie muss einer Mutter zumute sein, die ihre Kinder inmitten des Terrors nicht mehr schützen kann, die ihre Tochter zurücklassen muss mit nichts als diesem Satz. Und nicht einmal diesen konnte sie der Tochter noch persönlich mitteilen. Margot Friedländer hat später gesagt, dass ihr diese Worte Kraft gegeben haben. Zusammen mit einem Adressbuch und einer Bernsteinkette, die Auguste Bendheim bei den Nachbarn für Margot hinterlegt hatte, war dieser Satz alles, was ihr von der Mutter geblieben war. Ein Satz, der für die Tochter zum Leitstern wird.

„Dein Leben machen“. Margot Friedländer machte ihr Leben. Für ihre Mutter. Für sich selbst. Und Jahrzehnte später auch im stetigen öffentlichen Gedenken für all die unzähligen, verstummten Menschen sprechend, die die Shoah nicht überlebten und denen es nicht vergönnt war, ihr Leben zu leben.

Es wird oft von dem Schuldgefühl der Überlebenden gesprochen. Für Margot Friedländer war es, wie sie sagt, eine "Beruhigung", den Toten eine Stimme geben zu können. Sie zog aus dem Auftrag der Mutter, das Leben zu versuchen, ihre Kraft und eine Verpflichtung, etwas daraus zu machen. Es scheint, als habe die Aufgabe, zu den Menschen als Zeitzeugin über die Shoah, über die Vernichtung des europäischen Judentums zu sprechen, ihr Leben verlängert: „Es gibt noch so viel zu tun.“ Und so sprach sie noch zwei Tage vor ihrem Tod, im Alter von einhundertdrei Jahren, anlässlich des 80. Jahrestag des Kriegsendes, zu hunderten von Menschen. 

„Seid Menschen!“ – Die Grenzen der Menschheit

Im Rahmen des Gedenkens wird viel über Margot Friedländer gesagt: über ihren unermüdlichen Einsatz als Mahnerin, dass sich ein derartiges Verbrechen nicht wiederhole. Nun ahnen wir allerdings, dass sich die Dinge sowieso niemals gänzlich wiederholen. Umso mehr gilt es, ihren vielen perfiden Variationen gegenüber wachsam zu bleiben. Auch über Margot Friedländers staunenswerteste aller Fähigkeiten wird viel gesprochen; eine Haltung, nach der wir uns als Nachkommen der Täter, Mitläufer und Opfer in dieser postgenozidalen Gesellschaft so sehr sehnen: Versöhnung. „Hass“, so Friedländer, „bringt niemandem etwas“.

Dies spiegelt auch ihr tiefes Bedürfnis, ihre Hand nach der nächsten Generation auszustrecken: "Ich möchte nicht, dass ein Mensch so etwas erleben muss, was wir erlebt haben, was damals gemacht wurde. Was war, war. Aber es darf nie wieder geschehen.“ Und: „Ich bin gekommen, um euch die Hand zu reichen. Ich tue es für euch."

Selbst Mutter einer Tochter unter den, vergleichsweise, privilegiertesten Lebensbedingungen schlechthin, bleibe ich in diesem Nachruf aber weniger aufs große gesellschaftliche Ganze bezogen. Vielmehr bleibe ich an diesem persönlichen Vermächtnis der Auguste Bendheim haften. Über dessen Abgrund komme ich nicht hinweg. Keine Mutter, nirgendwo auf der Welt, denke ich, sollte das eigene Kind so zurücklassen müssen: mit der irrwitzigen verzweifelten Hoffnung, dass der Tochter wenigstens ein Versuch auf Leben bleiben möge. Ein Leben, an dem man selbst keinerlei Anteil mehr haben wird. Die Brücke zu dieser Art von Schmerz, die sich per Einfühlungsvermögen jeder Mutter und jedem Vater hier anbietet, kann nicht das Verstehen sein. Ich zumindest kann das Ausmaß dieses Leidens weder verstehen noch mir anmaßen dies nachzufühlen, Die Brücke für mich ist schlicht die Tatsache des Mutterseins selbst. Auguste Bendheim, die zusammen mit ihrem Sohn Ralph in den Tod ging, wurde ihres Mutterseins beraubt. Margot aber, so stelle ich es mir vor, blieb ewig Tochter. 

Ab und an, insbesondere zu so wichtigen Anlässen wie zur Rückgewinnung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft, trug sie die Bernsteinkette, die ihr die Mutter hinterließ.  Neben dem Trost und der Kraft, die ihr dieses Erinnerungsstück sicherlich spendete, besitzt diese Kette für mich auch eine große Symbolkraft: 

Ein kleiner Ring
Begrenzt unser Leben 
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins 
Unendliche Kette

An Goethes Vers aus Grenzen der Menschheit denkend, sehe ich Margot Friedländer, die Halskette ihrer Mutter tragend, sowohl eingereiht als auch gekettet an das Vermächtnis ihrer Familie (Perle) und an das Erinnerungsgebot des Judentums (Perlenkette): Zachor, erinnere dich!

Und während ich im Zusammenhang mit der Shoah über die Grenzen der Menschheit und der Menschlichkeit nachdenke, sprach Margot Friedländer über das, was gerade aus Sicht ihres Lebens ebenso wenig selbstverständlich wie überlebensnotwendig war: „Schaut nicht auf das, was euch trennt, sondern auf das, was euch verbindet. Respektiert einander. Seid vernünftig. Seid Menschen!“

Selbst zu Zeitzeugen werden 

Amerika, so äußerte sie einmal, sei niemals ihr Land geworden. Mit ihrem Mann sprach Margot Friedländer weiterhin deutsch. Sie, die als junge Frau davon geträumt hatte Modezeichnerin und Designerin zu werden, arbeitete in New York unter anderem als Änderungsschneiderin. Nach dem Tod ihres Mannes Adolf Friedländer im Jahr 1997, begann sie ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Durch die Veröffentlichung ihrer Geschichten lernte Margot Friedländer den Dokumentarfilmer Thomas Halaczinsky kennen, der mit ihr in ihrer alten Heimatstadt Berlin einen Dokumentarfilm drehte. 2003 besuchte sie entsprechend erstmals wieder ihre Heimatstadt. 2008 erschien ihre Autobiographie Versuche, dein Leben zu machen. Nach weiteren Besuchen beschloss die inzwischen Achtundachtzigjährige schließlich, ganz nach Deutschland zurückzukehren.

Dass nach über sechzig Jahren Leben in einem anderen Land, die alte Heimat, aus der sie so grausam vertrieben wurde, weiterhin eine solche Anziehung ausübte, dass ihr so langes Leben als erwachsene Frau in New York und mit all den Menschen dort dagegen offenbar verblasste, lässt mich über die ambigue Magie und die Strahlkraft von Kindheit nachdenken.  

Nach vierundsechzig Jahren Exil lebte Margot Friedländer also ab 2010 wieder in Berlin. Seitdem hielt sie bis zum ihrem Tod unermüdlich im wöchentlichen Turnus Vorträge, insbesondere an Schulen und vor Jugendlichen, da die junge Generation, deren Unschuld vor der Geschichte und deren zukünftige Verantwortung für dieses Land, ihr ganz besonders am Herzen lag. 

Sie erhielt viel Post von Schülerinnen und Schülern, die ihr zurück spiegelten, wie sehr sie ihre Botschaft „Seid vernünftig. Seid Menschen!“ verinnerlicht hätten. Daraus zog Margot Friedländer wohl ihren Lebenssinn, der dieser körperlich so zierlich anmutenden Person eine erstaunliche Kraft verlieh. Sie, die einst aus dem Satz der Mutter ihre Kraft zog, so stelle ich es mir vor, konnte nun wirksame Worte zurückgeben.

Worte, die mir in anderen Zusammenhängen und von anderen öffentlichen Rednerinnen und Rednern geäußert, leider oft leer und floskelhaft erscheinen: „nie wieder!“ Bei Margot Friedländer hingegen sind sie beglaubigt und durchlitten. Diese Beglaubigung wird uns in Zeiten eines zunehmenden Antisemitismus und alarmierenden Rechtsrucks in ganz Europa schmerzhaft fehlen.   

"Ein Gefühl der Leere begleitet uns seit ihrem Tod, seit dem 9. Mai. Sie fehlt uns. Wir vermissen sie", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier entsprechend auch in seiner Gedenkrede.

Ich tue mich etwas schwer mit dem Wort „vermissen“. Es scheint mir für den privaten, intimen Umgang mit Menschen vorbehalten, die man nah und gut kannte. 

Ich vermisse Margot Friedländer nicht, denn ich habe sie nicht persönlich gekannt. Aber sie wird mir fehlen. Sie hinterlässt als Persönlichkeit und in ihrer berührend unbeirrbaren Eigenschaft als Zeit- und Augenzeugin, die sich aussetzte, die sich ins Wort und in den Dialog wagte, eine nagende Leerstelle.

Eine Leerstelle, die zu füllen wohl ihr eigenes Vermächtnis an uns ist. „Wir sind alt. Für die jungen Menschen gebe ich die Aufgabe, dass sie die Zeitzeugen sein sollen, die wir nicht mehr lange sein können.“

Selbst zu Zeugen zu werden und für unsere Zeit achtsam und ehrbar einzustehen, das verlangt uns durchaus etwas ab. Bequem ist es jedenfalls nicht. Für mich ist Margot Friedländer eine Autorität, vor deren Menschlichkeit und, ja, ich nenne es gern beim Namen: vor deren moralischer Größe; vor deren berechtigter Forderung ich mich nicht wegducken kann. 

Im Sinne des „Muttersatzes“ wünsche ich mir, dass wir, das Vergangene gedenkend, unser gegenwärtiges und zukünftiges Leben in diesem Land so zu machen versuchen, dass das Fehlen Margot Friedländers gesellschaftlich verkraftbar wird. Dass wir dankbar dafür bleiben, dass es sie gab. Dankbar dafür, dass sie diesem Land, das ihr alles genommen hat, dennoch so viel geschenkt hat. 

Danke.