Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 22: Maria Leitner, Hotel Amerika (1930)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
„Sie ist nicht nur eine gute, sehr aktive antifaschistische Schriftstellerin, sondern auch eine der mutigsten und bescheidensten Frauen,“ schreibt der Schriftsteller Oskar Maria Graf über Maria Leitner im August 1938 an Hubertus Prinz zu Löwenstein, den Gründer von American Guild for German Cultural Freedom, einer Hilfsorganisation in den USA, die deutschen Exilanten, vor allem Autoren und Intellektuellen, Hilfe bei der Beschaffung von Visa, Pässen und Geld zukommen ließ. Maria Leitner steht damals auf einer internationalen Liste von 150 besonders gefährdeten Personen. Aber sie erhält dennoch kein Visum für die USA, da sie Kommunistin war. Paradoxerweise gilt sie für beide Lager als politisch unzuverlässig, bekommt daher keine Aufträge mehr und hungert in Frankreich. Ihre letzte Hoffnung ist ein Scheck der amerikanischen Hilfsorganisation: „Nur ist der Scheck noch nicht da“, schreibt sie im Januar 1939 aus Paris. „Hoffentlich kommt er bald, denn meine Lage wird immer unhaltbarer. Sie fragen mich, ob ich die Familiengeschichte abschließen konnte? Ganz im Gegenteil, glauben Sie mir, es ist unmöglich zu schreiben, wenn man kaum zu essen hat und obendrein in ewiger Unruhe lebt. Jedenfalls mir ist es nicht möglich.“ Im Jahr darauf wird Maria Leitner von den französischen Behörden zusammen mit anderen deutschen Exilanten im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert. Ihr gelingt die Flucht über Toulouse nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebte.
Mit den folgenden, eindringlichen Worten richtet Maria Leitner im Mai 1941 einen letzten Hilferuf an den amerikanischen Schriftsteller Theodore Dreiser: „Ich veröffentlichte einige Bücher über meine Reisen und einen Roman, Hotel Amerika, der sehr erfolgreich war und in einigen Sprachen veröffentlicht wurde. Neue Auflagen dieser Bücher und meines neuen Romans (der als Hintergrund die Bauxit-Minen in Surinams Dschungel hat, die ich besucht habe) wurden gedruckt, als die Nazis an die Macht kamen. Aber dann wurden meine Bücher verbrannt und mein Name erschien auf der Schwarzen Liste. Das geschah hauptsächlich, weil viele Berichte von den Lebensbedingungen in Deutschland und der bereits frühen Manifestierungen der Nazis handelten. Ich machte mit dieser Arbeit für antifaschistische Zeitungen weiter, aber natürlich im Geheimen und unter sehr gefährlichen Umständen, als die Nazis an die Macht kamen, und zeigte die gigantischen deutschen Kriegsvorbereitungen … Ich wurde in verschiedene KZ-Lager gesteckt, und ich war in der Gefahr, von den französischen Behörden an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Ich habe immer gegen die Ungerechtigkeit gekämpft und gegen die Nazis, die ich als Gefahr für den Weltfrieden betrachtete. Aber ich war niemals Mitglied einer politischen Partei. Lassen Sie mich nicht zugrunde gehen!!! Ich bin gesund und munter, aber wie lange noch? Das ist die Frage.“ Ihr Hilferuf bringt nicht die ersehnte Rettung. Leitner verstirbt im Alter von fünfzig Jahren, physisch und psychisch erschöpft, am 14.3.1942 in Marseille.
Maria Leitner, 1892 in der Nähe von Budapest geboren, engagiert sich mit ihren Brüdern früh im antimilitaristischen und antifaschistischen Widerstand und muss deshalb bereits 1919 ihre Heimat verlassen. Von Einfluss auf ihre journalistische Karriere sind vor allem ihre Verbindungen zum Ullstein-Verlag, in dessen Zeitungen und Zeitschriften sie seit Mitte der 1920er-Jahre Beiträge platzieren kann. Ab 1925 reist sie im Auftrag des Ullstein Verlages in die USA: „Wir haben unsere Mitarbeiterin Fräulein Maria Leitner mit der schwierigen und mutigen Aufgabe nach Amerika geschickt, die dortigen Erwerbsmöglichkeiten durch das Opfer persönlicher Dienststellung zu studieren.“ Drei Jahre lang durchquert sie den amerikanischen Kontinent, Mittel- und Südamerika und die Karibik. Rund 80 Stellen nimmt Leitner an, um mit ihrem Lohn als Kellnerin, Zigarrendreherin, Tabakarbeiterin, Packerin oder Köchin ein Auskommen zu finden und sich auch ihre inneramerikanischen Reisen finanzieren zu können. Ihre Sozialreportagen aus Amerika fasst Maria Leitner in der Sammlung Eine Frau reist durch die Welt zusammen, die 1932 im Berliner Agis-Verlag erscheint und sofort starke Beachtung findet.
Der Roman Hotel Amerika (1930) schildert einen Tag aus dem Leben einer Wäscherin in einem Luxushotel, die zum Schluss „nicht mehr auf den ersehnten Märchenprinzen wartet, sondern eine neue Lebensperspektive an der Seite ihrer Klassengenossen findet“ (W. Emmerich). Das Buch wird 1933 von der Nazi-Reichsschriftttumskammer verboten, und Leitner muss noch einmal fliehen, wahrscheinlich erst nach Prag und dann nach Paris.
Eingebettet in eine Kriminalhandlung wird die Geschichte des irischen Wäschemädchens Shirley O’Brien erzählt, parallel zu den sozialen Missständen in einem New Yorker Luxushotel. Hotel Amerika findet einen großen Leserkreis und erscheint auch in spanischer und polnischer Übersetzung. 1933 kam das Buch auf die Liste der zu verbrennenden Bücher. Shirley leistet ihre Arbeit im New Yorker Luxushotel „Amerika“ unter unwürdigen Bedingungen zunächst im Vertrauen auf ihre Träume von einem besseren Leben: „Nun, Shirley wird herauskommen aus all dem Dreck, sie wird ein anderes Leben führen als bisher, ein gutes Leben. Sie wird nicht ewig ausgeschlossen bleiben von allem, was angenehm ist.“
Die Ereignisse eines einzigen Tages aber, den der Entwicklungsroman skizziert, lassen Shirley ihre Träume verabschieden und sie zu einer klassenbewussten Mitstreiterin für sozialistische Ideen werden. Ein mittäglicher Aufstand der Belegschaft führt am Ende zu Shirleys Entlassung. „Aber die Fabel ist Nebensache im Vergleich mit dem Beiwerk der Beschreibungen und Einzelbezüge“, gibt Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung 1930 für Leitners Erforschung der „Wolkenkratzerwelt von unten bis oben“ in seiner Besprechung zu bedenken: „Der Roman ist ein nützliches Buch; nützlich insofern, als er von amerikanischen Lebensverhältnissen erzählt, die in den üblichen Amerikabüchern unberücksichtigt bleiben … Im Interesse ihrer Wirkung sollten sich die revolutionären Schriftsteller um genauere Einblicke in die Gesellschaftsschichten bemühen, die sie aufheben wollen.“
Anhand der Mittagsspeisung der Arbeiter und Angestellten etwa veranschaulicht Leitner nicht nur die Kehrseite zum überbordenden Luxus, der den Hotelgästen bereitsteht, sondern auch eine rigide Hierarchie unter der Belegschaft, die die mit dem Schlagwort „Amerika“ in der Zwischenkriegszeit evozierten Ideen von Freiheit und Gleichheit konterkariert: „Es ist Mittagsessenzeit für das Personal. Nicht alle essen gleichzeitig und freilich auch nicht alle im gleichen Raum … Rein äußerlich wird so schon die besondere Stellung des Personals stufenweise zum Ausdruck gebracht. Die Trennung erfolgt aber nicht nur nach der Stellung, sondern auch nach den Geschlechtern und der Rasse: Männer und Frauen essen in getrennten Räumen, die Neger werden nicht mit den Weißen vermischt.“
Erst erfolgt die Ausgabe an die Direktion und die „Offiziere“ – die höheren Angestellten –, dann an mittlere Angestellte, die sich bereits selbst bedienen müssen, sodann an das „niedere“ Personal – an Haushälterinnen, Telefonistinnen, Stenotypistinnen und Kellnerinnen –, bis Leitner schließlich in die „Speiseanstalt für die Angestellten der niedrigsten Stufe“ führt: Hier essen alle Schwerarbeiter des Hotels, die Hausmänner, die die Korridore reinigen und die schweren Staubsauger handhaben, die Männer, die die Wände in den Zimmern abwaschen, die Fensterputzer, die Kammerjäger, die „nützlichen Männer“, wie man jene nennt, die die Marmorböden und Steinfliesen aufzuwaschen haben, die Heizer, auch die Träger, die Pagen und die Küchenjungen sowie „die Scheuerfrauen, die Stubenmädchen, die Wäscherinnen, die Wäschereimädchen, natürlich nur die weißen. Die Negerinnen essen in einem kleineren Nebenraum.“ Als faule Pellkartoffeln ausgegeben werden, wird der Unmut im Kollektiv („es ist etwas Neues, dass hier im Speiseraum Frauen und Männer, Schwarze und Weiße zusammentreffen“) immer lauter: „Man verwechselt uns mit Schweinen.“ Doch als der Personaldirektor sich bereit zeigt, Einzelne anzuhören, schweigen alle – aus Furcht, entlassen zu werden; und als er denn auch demonstrativ von den verdorbenen Speisen isst, löst sich die Ansammlung allmählich auf – bis Shirley ihre Stimme an den Personaldirektor richtet: „Sag, Papachen, wenn es dir hier so schmeckt, warum isst du nicht immer mit uns?“ Shirley reklamiert hier erstmals eine Stimme für sich, wird von einer „Nummer“ zu einer klassenbewussten Einzelnen, die sich für das Speisesaal-Kollektiv stark macht: „Ich heiße Shirley O’Brien. Es ist schön, dass ich auch einmal meinen ganzen Namen sagen darf. Ich arbeite hier schon seit sechs Jahren, aber man hat mich selten nach ihm gefragt. Genügt es nicht, wenn man meine Arbeitsnummer weiß? Ich bin Nummer 2122.“
„Es ist ein Buch, wir aber werden das Gefühl nicht los, als hätten wir eine der großen amerikanischen Zeitungen aufgeschlagen und läsen die Reportage einer ausgezeichneten Journalistin“, konstatiert Marianne Pollak im sozialdemokratischen Kleinen Blatt mit Blick auf Maria Leitners ersten Roman Hotel Amerika.
Maria Leitner: Hotel Amerika. Mit einem Nachwort von Katharina Prager. Reclam Verlag, Ditzingen, 2024
Lesen Sie nächste Woche, welcher Bestseller von 1930 den Ersten Weltkrieg aus weiblicher Sicht schildert.
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300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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„Sie ist nicht nur eine gute, sehr aktive antifaschistische Schriftstellerin, sondern auch eine der mutigsten und bescheidensten Frauen,“ schreibt der Schriftsteller Oskar Maria Graf über Maria Leitner im August 1938 an Hubertus Prinz zu Löwenstein, den Gründer von American Guild for German Cultural Freedom, einer Hilfsorganisation in den USA, die deutschen Exilanten, vor allem Autoren und Intellektuellen, Hilfe bei der Beschaffung von Visa, Pässen und Geld zukommen ließ. Maria Leitner steht damals auf einer internationalen Liste von 150 besonders gefährdeten Personen. Aber sie erhält dennoch kein Visum für die USA, da sie Kommunistin war. Paradoxerweise gilt sie für beide Lager als politisch unzuverlässig, bekommt daher keine Aufträge mehr und hungert in Frankreich. Ihre letzte Hoffnung ist ein Scheck der amerikanischen Hilfsorganisation: „Nur ist der Scheck noch nicht da“, schreibt sie im Januar 1939 aus Paris. „Hoffentlich kommt er bald, denn meine Lage wird immer unhaltbarer. Sie fragen mich, ob ich die Familiengeschichte abschließen konnte? Ganz im Gegenteil, glauben Sie mir, es ist unmöglich zu schreiben, wenn man kaum zu essen hat und obendrein in ewiger Unruhe lebt. Jedenfalls mir ist es nicht möglich.“ Im Jahr darauf wird Maria Leitner von den französischen Behörden zusammen mit anderen deutschen Exilanten im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert. Ihr gelingt die Flucht über Toulouse nach Marseille, wo sie in extrem ärmlichen Verhältnissen im Untergrund lebte.
Mit den folgenden, eindringlichen Worten richtet Maria Leitner im Mai 1941 einen letzten Hilferuf an den amerikanischen Schriftsteller Theodore Dreiser: „Ich veröffentlichte einige Bücher über meine Reisen und einen Roman, Hotel Amerika, der sehr erfolgreich war und in einigen Sprachen veröffentlicht wurde. Neue Auflagen dieser Bücher und meines neuen Romans (der als Hintergrund die Bauxit-Minen in Surinams Dschungel hat, die ich besucht habe) wurden gedruckt, als die Nazis an die Macht kamen. Aber dann wurden meine Bücher verbrannt und mein Name erschien auf der Schwarzen Liste. Das geschah hauptsächlich, weil viele Berichte von den Lebensbedingungen in Deutschland und der bereits frühen Manifestierungen der Nazis handelten. Ich machte mit dieser Arbeit für antifaschistische Zeitungen weiter, aber natürlich im Geheimen und unter sehr gefährlichen Umständen, als die Nazis an die Macht kamen, und zeigte die gigantischen deutschen Kriegsvorbereitungen … Ich wurde in verschiedene KZ-Lager gesteckt, und ich war in der Gefahr, von den französischen Behörden an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Ich habe immer gegen die Ungerechtigkeit gekämpft und gegen die Nazis, die ich als Gefahr für den Weltfrieden betrachtete. Aber ich war niemals Mitglied einer politischen Partei. Lassen Sie mich nicht zugrunde gehen!!! Ich bin gesund und munter, aber wie lange noch? Das ist die Frage.“ Ihr Hilferuf bringt nicht die ersehnte Rettung. Leitner verstirbt im Alter von fünfzig Jahren, physisch und psychisch erschöpft, am 14.3.1942 in Marseille.
Maria Leitner, 1892 in der Nähe von Budapest geboren, engagiert sich mit ihren Brüdern früh im antimilitaristischen und antifaschistischen Widerstand und muss deshalb bereits 1919 ihre Heimat verlassen. Von Einfluss auf ihre journalistische Karriere sind vor allem ihre Verbindungen zum Ullstein-Verlag, in dessen Zeitungen und Zeitschriften sie seit Mitte der 1920er-Jahre Beiträge platzieren kann. Ab 1925 reist sie im Auftrag des Ullstein Verlages in die USA: „Wir haben unsere Mitarbeiterin Fräulein Maria Leitner mit der schwierigen und mutigen Aufgabe nach Amerika geschickt, die dortigen Erwerbsmöglichkeiten durch das Opfer persönlicher Dienststellung zu studieren.“ Drei Jahre lang durchquert sie den amerikanischen Kontinent, Mittel- und Südamerika und die Karibik. Rund 80 Stellen nimmt Leitner an, um mit ihrem Lohn als Kellnerin, Zigarrendreherin, Tabakarbeiterin, Packerin oder Köchin ein Auskommen zu finden und sich auch ihre inneramerikanischen Reisen finanzieren zu können. Ihre Sozialreportagen aus Amerika fasst Maria Leitner in der Sammlung Eine Frau reist durch die Welt zusammen, die 1932 im Berliner Agis-Verlag erscheint und sofort starke Beachtung findet.
Der Roman Hotel Amerika (1930) schildert einen Tag aus dem Leben einer Wäscherin in einem Luxushotel, die zum Schluss „nicht mehr auf den ersehnten Märchenprinzen wartet, sondern eine neue Lebensperspektive an der Seite ihrer Klassengenossen findet“ (W. Emmerich). Das Buch wird 1933 von der Nazi-Reichsschriftttumskammer verboten, und Leitner muss noch einmal fliehen, wahrscheinlich erst nach Prag und dann nach Paris.
Eingebettet in eine Kriminalhandlung wird die Geschichte des irischen Wäschemädchens Shirley O’Brien erzählt, parallel zu den sozialen Missständen in einem New Yorker Luxushotel. Hotel Amerika findet einen großen Leserkreis und erscheint auch in spanischer und polnischer Übersetzung. 1933 kam das Buch auf die Liste der zu verbrennenden Bücher. Shirley leistet ihre Arbeit im New Yorker Luxushotel „Amerika“ unter unwürdigen Bedingungen zunächst im Vertrauen auf ihre Träume von einem besseren Leben: „Nun, Shirley wird herauskommen aus all dem Dreck, sie wird ein anderes Leben führen als bisher, ein gutes Leben. Sie wird nicht ewig ausgeschlossen bleiben von allem, was angenehm ist.“
Die Ereignisse eines einzigen Tages aber, den der Entwicklungsroman skizziert, lassen Shirley ihre Träume verabschieden und sie zu einer klassenbewussten Mitstreiterin für sozialistische Ideen werden. Ein mittäglicher Aufstand der Belegschaft führt am Ende zu Shirleys Entlassung. „Aber die Fabel ist Nebensache im Vergleich mit dem Beiwerk der Beschreibungen und Einzelbezüge“, gibt Siegfried Kracauer in der Frankfurter Zeitung 1930 für Leitners Erforschung der „Wolkenkratzerwelt von unten bis oben“ in seiner Besprechung zu bedenken: „Der Roman ist ein nützliches Buch; nützlich insofern, als er von amerikanischen Lebensverhältnissen erzählt, die in den üblichen Amerikabüchern unberücksichtigt bleiben … Im Interesse ihrer Wirkung sollten sich die revolutionären Schriftsteller um genauere Einblicke in die Gesellschaftsschichten bemühen, die sie aufheben wollen.“
Anhand der Mittagsspeisung der Arbeiter und Angestellten etwa veranschaulicht Leitner nicht nur die Kehrseite zum überbordenden Luxus, der den Hotelgästen bereitsteht, sondern auch eine rigide Hierarchie unter der Belegschaft, die die mit dem Schlagwort „Amerika“ in der Zwischenkriegszeit evozierten Ideen von Freiheit und Gleichheit konterkariert: „Es ist Mittagsessenzeit für das Personal. Nicht alle essen gleichzeitig und freilich auch nicht alle im gleichen Raum … Rein äußerlich wird so schon die besondere Stellung des Personals stufenweise zum Ausdruck gebracht. Die Trennung erfolgt aber nicht nur nach der Stellung, sondern auch nach den Geschlechtern und der Rasse: Männer und Frauen essen in getrennten Räumen, die Neger werden nicht mit den Weißen vermischt.“
Erst erfolgt die Ausgabe an die Direktion und die „Offiziere“ – die höheren Angestellten –, dann an mittlere Angestellte, die sich bereits selbst bedienen müssen, sodann an das „niedere“ Personal – an Haushälterinnen, Telefonistinnen, Stenotypistinnen und Kellnerinnen –, bis Leitner schließlich in die „Speiseanstalt für die Angestellten der niedrigsten Stufe“ führt: Hier essen alle Schwerarbeiter des Hotels, die Hausmänner, die die Korridore reinigen und die schweren Staubsauger handhaben, die Männer, die die Wände in den Zimmern abwaschen, die Fensterputzer, die Kammerjäger, die „nützlichen Männer“, wie man jene nennt, die die Marmorböden und Steinfliesen aufzuwaschen haben, die Heizer, auch die Träger, die Pagen und die Küchenjungen sowie „die Scheuerfrauen, die Stubenmädchen, die Wäscherinnen, die Wäschereimädchen, natürlich nur die weißen. Die Negerinnen essen in einem kleineren Nebenraum.“ Als faule Pellkartoffeln ausgegeben werden, wird der Unmut im Kollektiv („es ist etwas Neues, dass hier im Speiseraum Frauen und Männer, Schwarze und Weiße zusammentreffen“) immer lauter: „Man verwechselt uns mit Schweinen.“ Doch als der Personaldirektor sich bereit zeigt, Einzelne anzuhören, schweigen alle – aus Furcht, entlassen zu werden; und als er denn auch demonstrativ von den verdorbenen Speisen isst, löst sich die Ansammlung allmählich auf – bis Shirley ihre Stimme an den Personaldirektor richtet: „Sag, Papachen, wenn es dir hier so schmeckt, warum isst du nicht immer mit uns?“ Shirley reklamiert hier erstmals eine Stimme für sich, wird von einer „Nummer“ zu einer klassenbewussten Einzelnen, die sich für das Speisesaal-Kollektiv stark macht: „Ich heiße Shirley O’Brien. Es ist schön, dass ich auch einmal meinen ganzen Namen sagen darf. Ich arbeite hier schon seit sechs Jahren, aber man hat mich selten nach ihm gefragt. Genügt es nicht, wenn man meine Arbeitsnummer weiß? Ich bin Nummer 2122.“
„Es ist ein Buch, wir aber werden das Gefühl nicht los, als hätten wir eine der großen amerikanischen Zeitungen aufgeschlagen und läsen die Reportage einer ausgezeichneten Journalistin“, konstatiert Marianne Pollak im sozialdemokratischen Kleinen Blatt mit Blick auf Maria Leitners ersten Roman Hotel Amerika.
Maria Leitner: Hotel Amerika. Mit einem Nachwort von Katharina Prager. Reclam Verlag, Ditzingen, 2024
Lesen Sie nächste Woche, welcher Bestseller von 1930 den Ersten Weltkrieg aus weiblicher Sicht schildert.