Über eine Lesung von Lena Gorelik in Marktoberdorf
Lena Gorelik, geb. 1981 in Sankt Petersburg, kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie heute lebt. Am 29.6.2025 las die Autorin im Rahmen des Kulturformats „buchmusikfilm“ in der Marktoberdorfer Filmburg aus ihrem Roman Wer wir sind. Johanna Mayer war für das Literaturportal Bayern vor Ort. Ein Bericht über eine Lesung, die den Blick auf die Vergangenheit schärft, die Macht der Erinnerung demonstriert und in eine fremde Welt entführt.
*
Marktoberdorf im Ostallgäu an einem hochsommerlichen Sonntagabend: In der Ferne sieht man die blauen Berge, die Martinskirche schlägt gerade sieben, und leise Geigenklänge wehen von der Musikakademie hinab in die Stadt. In nicht allzu weiter Entfernung läuten Kuhglocken auf den grünen Wiesen. Währenddessen läuft in der Filmburg, dem Retro-Theaterkino Marktoberdorfs, erbaut in den 1950er-Jahren, alles auf Hochtouren: Die letzten Gäste suchen sich eilig einen Platz im nostalgisch anmutenden Kinosaal, vorne auf der Bühne werden Mikrofone, Stühle und Instrumente noch einmal umplatziert, im Hintergrund hört man das leise, erwartungsvolle Gemurmel von Stimmen. Anlass für die gespannte Stimmung: Die in München lebende Schriftstellerin Lena Gorelik liest an diesem Abend aus ihrem Roman Wer wir sind vor, musikalisch begleitet von dem international bekannten Schlagzeuger Harald Rüschenbaum (Schlagzeug), Pianist und Musikprofessor Daniel Eberhard (Klavier) und dem renommierten Bassisten Uli Fiedler. Das Trio, dessen Mitglieder alle privat mit dem Allgäu verbunden sind, trat im Rahmen verschiedener Konzerte schon öfters in der Filmburg auf und konnte so auch für die Lesung gewonnen werden.
Nach einer kurzen Begrüßung durch die Autorin und Filmburg-Chefin Monika Schubert und einem einleitenden „gejazzten“ Tschaikowski-Klavierstück liest Gorelik die ersten Seiten ihres autofiktionalen Romans. Sie lässt die Zuhörer, eine kleine, aber feine Gruppe Allgäuer Literaturinteressierter, teilhaben an ihren Erinnerungen an eine Kindheit in St. Petersburg, aber auch an ihre Gegenwart, die oft von der Vergangenheit eingeholt wird. Gorelik liest klar und deutlich, geht fließend vom Deutschen ins Russische und vom Russischen ins Deutsche über. Das verstärkt ihre Inhalte zusätzlich und macht den Spagat zwischen beiden Kulturen unmissverständlich deutlich. Es wird klar, Wer wir sind ist ihre ganz persönliche Form der Erinnerung.
Als nächste Textstelle liest Gorelik das Kapitel, in dem sie ihre Zugfahrt von Petersburg nach Deutschland beschreibt, das Land, in dem ihre Eltern ein neues Leben beginnen möchten. Die Sicht der Elfjährigen auf die Situation, ihre Vorstellungen vom Westen und die ersten Erinnerungen an Deutschland, die in krassem Gegensatz zu ihrer idealisierten kindlichen Vorstellung stehen, zeigen erst, was für einen emotionalen Riss diese Zugfahrt bedeutet haben muss. Nach einer kurzen Musikeinlage beschreibt die Autorin die ersten Monate in Deutschland, die sie mit ihrer Familie in einem Flüchtlingsheim verbringt. Besonders im Gedächtnis bleibt dabei die Erzählung über ihr erstes Schaumbad in Deutschland:
„Ich sitze in diesem weißen Badeschaum. Wie bei weißen Menschen, so sitze ich darin. Ich habe noch nie von Rassismus gehört. Ich habe bis vor einer halben Stunde noch nie Badeschaum im wahren Leben gesehen, jenseits einer Leinwand … Der Badeschaum umarmt uns größer, weiter, ferner, nah. Wenn ich hineingreife: Wie alles, was ich mir von Deutschland versprach. Meine Liebe zu Deutschland besteht aus weißen Seifenblasen, die zwischen meinen Fingern zerplatzen …“
Auch die abschließende Romanstelle – von den drei Musikern stimmungsvoll begleitet – lässt erneut durchscheinen, wie schmerzhaft prägend das Leben in Deutschland anfänglich gewesen sein muss, wie auch die Eltern in dem neuen Land an ihre Grenzen stoßen, die das Beste für ihre Tochter wollen und dabei teilweise versagen. Und doch erscheint der Roman – besonders diese letzte gelesene Passage – wie eine Liebeserklärung der Schriftstellerin an ihre Mutter:
„Nach der Veranstaltung (eine Lesung der Protagonistin, Anm. d. V.) steht meine Mutter am Rand, wartet, bis ich mit fremden Menschen gesprochen habe, winkt ab, als ich sie zu mir rufe, beobachtet mich, ist stolz, weiß nicht, wie sie manchmal sagt, wie ich das wurde, was ich bin. Durch euch, will ich sagen … Später, nachdem wir uns verabschiedet haben, erzählt meine Freundin mir, wie meine Mutter sich zu ihr beugte, um ihr auch von der Vergangenheit zu erzählen. Wie sie ihr erzählte, was sie mir nie erzählte …, wie leid ich ihr tat, weil ich alleine war …, weil ich nicht mehr das Mädchen war, das sie mitgenommen hatte ... Mir erzählt sie das nie, ihre Sorgen, dass sie immer nur an mich dachte … Erzählte sie das nicht, oder hörte ich einfach nicht zu?“
Im Anschluss an die Lesung hat das Publikum die Möglichkeit, sich mit der Schriftstellerin auszutauschen und eigene Gedanken zu teilen. Besonders wichtig werden dabei aktuelle politische Themen wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Situation im Nahen Osten. Gorelik, die sowohl russischstämmig als auch Jüdin ist und der beide Konflikte nah sind, erzählt eindrucksvoll von ihren persönlichen Erfahrungen und Gesprächen mit Verwandten und Freunden und gibt einen Einblick in die Leben von direkt Betroffenen. Den Abschluss des Abends bildet eine letzte Musikeinlage des wunderbaren Jazz-Trios.
Es ist zu hoffen, dass auch in Zukunft Lesungen in der einmaligen, nostalgischen Atmosphäre der Filmburg stattfinden und dabei nicht nur Publikum aus dem Allgäu anlocken werden. Dieser Abend beweist einmal mehr: Literatur öffnet die Augen für andere Perspektiven und andere Meinungen, lässt Menschen zusammenkommen und regt sie zum Austausch an. Vor allem kann Literatur eines: Menschen ändern – und damit die Welt.
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Lena Gorelik, geb. 1981 in Sankt Petersburg, kam 1992 mit ihrer Familie als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland. Sie studierte Journalismus und Osteuropastudien in München, wo sie heute lebt. Am 29.6.2025 las die Autorin im Rahmen des Kulturformats „buchmusikfilm“ in der Marktoberdorfer Filmburg aus ihrem Roman Wer wir sind. Johanna Mayer war für das Literaturportal Bayern vor Ort. Ein Bericht über eine Lesung, die den Blick auf die Vergangenheit schärft, die Macht der Erinnerung demonstriert und in eine fremde Welt entführt.
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Marktoberdorf im Ostallgäu an einem hochsommerlichen Sonntagabend: In der Ferne sieht man die blauen Berge, die Martinskirche schlägt gerade sieben, und leise Geigenklänge wehen von der Musikakademie hinab in die Stadt. In nicht allzu weiter Entfernung läuten Kuhglocken auf den grünen Wiesen. Währenddessen läuft in der Filmburg, dem Retro-Theaterkino Marktoberdorfs, erbaut in den 1950er-Jahren, alles auf Hochtouren: Die letzten Gäste suchen sich eilig einen Platz im nostalgisch anmutenden Kinosaal, vorne auf der Bühne werden Mikrofone, Stühle und Instrumente noch einmal umplatziert, im Hintergrund hört man das leise, erwartungsvolle Gemurmel von Stimmen. Anlass für die gespannte Stimmung: Die in München lebende Schriftstellerin Lena Gorelik liest an diesem Abend aus ihrem Roman Wer wir sind vor, musikalisch begleitet von dem international bekannten Schlagzeuger Harald Rüschenbaum (Schlagzeug), Pianist und Musikprofessor Daniel Eberhard (Klavier) und dem renommierten Bassisten Uli Fiedler. Das Trio, dessen Mitglieder alle privat mit dem Allgäu verbunden sind, trat im Rahmen verschiedener Konzerte schon öfters in der Filmburg auf und konnte so auch für die Lesung gewonnen werden.
Nach einer kurzen Begrüßung durch die Autorin und Filmburg-Chefin Monika Schubert und einem einleitenden „gejazzten“ Tschaikowski-Klavierstück liest Gorelik die ersten Seiten ihres autofiktionalen Romans. Sie lässt die Zuhörer, eine kleine, aber feine Gruppe Allgäuer Literaturinteressierter, teilhaben an ihren Erinnerungen an eine Kindheit in St. Petersburg, aber auch an ihre Gegenwart, die oft von der Vergangenheit eingeholt wird. Gorelik liest klar und deutlich, geht fließend vom Deutschen ins Russische und vom Russischen ins Deutsche über. Das verstärkt ihre Inhalte zusätzlich und macht den Spagat zwischen beiden Kulturen unmissverständlich deutlich. Es wird klar, Wer wir sind ist ihre ganz persönliche Form der Erinnerung.
Als nächste Textstelle liest Gorelik das Kapitel, in dem sie ihre Zugfahrt von Petersburg nach Deutschland beschreibt, das Land, in dem ihre Eltern ein neues Leben beginnen möchten. Die Sicht der Elfjährigen auf die Situation, ihre Vorstellungen vom Westen und die ersten Erinnerungen an Deutschland, die in krassem Gegensatz zu ihrer idealisierten kindlichen Vorstellung stehen, zeigen erst, was für einen emotionalen Riss diese Zugfahrt bedeutet haben muss. Nach einer kurzen Musikeinlage beschreibt die Autorin die ersten Monate in Deutschland, die sie mit ihrer Familie in einem Flüchtlingsheim verbringt. Besonders im Gedächtnis bleibt dabei die Erzählung über ihr erstes Schaumbad in Deutschland:
„Ich sitze in diesem weißen Badeschaum. Wie bei weißen Menschen, so sitze ich darin. Ich habe noch nie von Rassismus gehört. Ich habe bis vor einer halben Stunde noch nie Badeschaum im wahren Leben gesehen, jenseits einer Leinwand … Der Badeschaum umarmt uns größer, weiter, ferner, nah. Wenn ich hineingreife: Wie alles, was ich mir von Deutschland versprach. Meine Liebe zu Deutschland besteht aus weißen Seifenblasen, die zwischen meinen Fingern zerplatzen …“
Auch die abschließende Romanstelle – von den drei Musikern stimmungsvoll begleitet – lässt erneut durchscheinen, wie schmerzhaft prägend das Leben in Deutschland anfänglich gewesen sein muss, wie auch die Eltern in dem neuen Land an ihre Grenzen stoßen, die das Beste für ihre Tochter wollen und dabei teilweise versagen. Und doch erscheint der Roman – besonders diese letzte gelesene Passage – wie eine Liebeserklärung der Schriftstellerin an ihre Mutter:
„Nach der Veranstaltung (eine Lesung der Protagonistin, Anm. d. V.) steht meine Mutter am Rand, wartet, bis ich mit fremden Menschen gesprochen habe, winkt ab, als ich sie zu mir rufe, beobachtet mich, ist stolz, weiß nicht, wie sie manchmal sagt, wie ich das wurde, was ich bin. Durch euch, will ich sagen … Später, nachdem wir uns verabschiedet haben, erzählt meine Freundin mir, wie meine Mutter sich zu ihr beugte, um ihr auch von der Vergangenheit zu erzählen. Wie sie ihr erzählte, was sie mir nie erzählte …, wie leid ich ihr tat, weil ich alleine war …, weil ich nicht mehr das Mädchen war, das sie mitgenommen hatte ... Mir erzählt sie das nie, ihre Sorgen, dass sie immer nur an mich dachte … Erzählte sie das nicht, oder hörte ich einfach nicht zu?“
Im Anschluss an die Lesung hat das Publikum die Möglichkeit, sich mit der Schriftstellerin auszutauschen und eigene Gedanken zu teilen. Besonders wichtig werden dabei aktuelle politische Themen wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Situation im Nahen Osten. Gorelik, die sowohl russischstämmig als auch Jüdin ist und der beide Konflikte nah sind, erzählt eindrucksvoll von ihren persönlichen Erfahrungen und Gesprächen mit Verwandten und Freunden und gibt einen Einblick in die Leben von direkt Betroffenen. Den Abschluss des Abends bildet eine letzte Musikeinlage des wunderbaren Jazz-Trios.
Es ist zu hoffen, dass auch in Zukunft Lesungen in der einmaligen, nostalgischen Atmosphäre der Filmburg stattfinden und dabei nicht nur Publikum aus dem Allgäu anlocken werden. Dieser Abend beweist einmal mehr: Literatur öffnet die Augen für andere Perspektiven und andere Meinungen, lässt Menschen zusammenkommen und regt sie zum Austausch an. Vor allem kann Literatur eines: Menschen ändern – und damit die Welt.