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17.12.2025, 07:02 Uhr
Abraham Katz
Rezensionen

Rezension zur Anthologie „Geteilter Horizont – Die Zukunft der Ukraine “

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(c) Suhrkamp Verlag

Mit Aus dem Nebel des Krieges – Die Gegenwart der Ukraine legte der Suhrkamp Verlag im Jahr 2023 bereits eine eindrucksvolle Anthologie vor. Nun folgt mit Geteilter Horizont – Die Zukunft der Ukraine ein Band, der den Blick noch einmal weitet: Die neue Textsammlung reicht weit über den tagesaktuellen Nachrichten- und Politikdiskurs hinaus und überzeugt durch interdisziplinäre Perspektiven und originelle Analysen. 

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Seit fast vier Jahren führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Ebenso lange begleitet uns ein bizarres Ritual: jeden Morgen die Meldungen, wie viele russische Drohnen und Raketen nachts die Ukraine angegriffen haben. Landkarten, auf denen Pfeile und Sternchen Truppenbewegungen und Frontverläufe illustrieren, gehören zu unserem Alltag wie früher die Karten der Wetterberichte mit ihren wandernden Hoch- und Tiefdruckgebieten. Parallel sprechen selbsternannte oder wirkliche Experten. Talkshows und Podcasts übertreffen sich mit Zuspitzungen, als ließen sich damit Probleme besser verstehen oder lösen.

Während in Osteuropa Krieg herrscht, sind neue blutige Konflikte ausgebrochen. Im Nahen Osten, im Sudan, in der Karibik. Wenn man jeden Tag Horrormeldungen hört, sind sie irgendwann kein Horror mehr, sondern nur noch Meldungen. Die Warnung des Kommunikationswissenschaftlers George Gerbner aus den 1990er Jahren, zu viele fiktionale Gewaltdarstellungen könnten das „Mean World Syndrome“ auslösen, wirkt heute naiv. Beim „Gemeine-Welt-Syndrom“ entsteht der fatale Eindruck, dass unsere Welt ein bedrohlicher Ort sei, der überwiegend von bösartigen Menschen bewohnt werde. Heutzutage müssen wir nicht massenhaft brutale Filme oder Serien schauen. Nachrichten genügen, um die Welt als feindlichen Ort zu empfinden.

Ein guter Weg, um sich vor dem „Mean World Syndrome“ oder depressiver Abstumpfung zu schützen, besteht darin, den Medienkonsum zu reduzieren. Doch das birgt die Gefahr, den Kopf in den Sand zu stecken, also die Realität auszublenden. Ein besserer, selbstbestimmter Weg ist, Informationen bewusst auszuwählen. Etwa nach den Kriterien: Was erweitert unseren Horizont statt ihn zu verengen? Was eröffnet Handlungsspielräume statt Reflexe zu verstärken? Was schärft unsere Sensibilität statt uns zu verhärten? Was macht Mut statt Angst? Und natürlich: Was ist wahr?

Wer sich von solchen Gedanken leiten lassen will, für den ist die Anthologie Geteilter Horizont ein Glücksfall. Sechzehn Texte mit sechzehn differenzierten Perspektiven, von denen einige hier vorgestellt werden sollen:

Die interdisziplinär forschende Wissenschaftlerin Darya Tsymbalyuk schreibt in dem Beitrag „Krieg in der Steppe“ nicht nur über die ökologischen Folgen des Krieges, sondern auch über die Geschichte dieser osteuropäischen Steppenlandschaft.

In „Die lebenden Seelen“ (angelehnt an Gogols Romantitel Die toten Seelen) gibt der Psychoanalytiker Jurko Prochasko Einblicke in die Traumata jener seiner Patientinnen und Patienten, deren Alltag vom Krieg geprägt wird, selbst, wenn sie nicht an der Front sind.

Die Sozial- und Rechtsanthropologin Nataljya Tchermalykh erinnert sich in „Kriegskinder“ daran, wie sie als Schulkind den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der Ukraine erlebte. Aus Kindersicht wirken (politische) Entscheidungen der Erwachsenen oft unverständlich oder absurd. Dieser Eindruck schmerzt umso mehr, wenn der Text Beispiele von Kindern enthält, die gezielten russischen Angriffen zum Opfer fallen oder nach Russland verschleppt werden. 2025 sollen FSB-Agenten zwei Jugendliche in einem Telegram-Kanal zu vermeintlichen Sabotageakten angestiftet haben, die in Wahrheit als Selbstmordattentate geplant waren. Zum Glück ist die Anthologie kein reiner Katalog russischer Verbrechen und Grausamkeiten.

In dem Beitrag „Ukrainischstunden – Notizen einer Leserin“ montiert die Schriftstellerin Katja Petrowskaja Biografien von Geflüchteten mit Notizen, die sie sich beim Lesen gemacht hat. Durch ihre präzisen Beobachtungen und originellen Querverbindungen zur aktuellen Lage möchte man die ukrainischen Autorinnen und Autoren, die sie zitiert, am liebsten selbst lesen. Katja Petrowskaja zeigt eindrücklich, dass Literatur weder Eskapismus ist, noch ein spleeniges Hobby, sondern geistige Nahrung. Ein wirksames Mittel gegen Nachrichtenfluten, die uns nur aufwühlen, ohne zu informieren, zu klären oder neue Perspektiven zu eröffnen.

Ein starker Akzent mehrerer Texte ist es, uns vor Augen zu führen, dass der Krieg gegen die Ukraine kein regionaler Konflikt ist. Russlands Aggression richtet sich gegen die gesamte freie Welt, also auch gegen uns.

Doch statt in Wagenburgmentalität zu verfallen oder Russland pauschal zu dämonisieren, zeigen die Beiträge eine beeindruckende Bandbreite an Haltungen: Abscheu gegenüber dem Diktator Wladimir Putin, seinen Handlangern und Mitläufern. Den Wunsch nach Abgrenzung gegenüber allem Russischen. Aber auch die Frage, wie Menschen überhaupt zu solchen Grausamkeiten fähig sein können. Oder ob eine Wahrheit ihre Gültigkeit verliert, nur weil der Stärkere sie ignoriert. Bei manchen Autoren schimmert eine unzerstörbare Wertschätzung für die Kultur des Landes durch, das sie überfallen hat.

Die Osteuropahistorikerin Marci Shore schlägt einen schwindelerregenden Bogen: von der Öffnung der Berliner Mauer über die Anschläge vom 11. September 2001, Trumps erster Wahl zum Präsidenten und Russlands Angriff auf die Ukraine 2022 bis hin zu Margaret Atwoods Der Report der Magd. Was zunächst abwegig scheinen mag, entfaltet beim Lesen eine erschreckende Logik.

Ebenso erschreckend ist es, wenn Marci Shore zitiert, wie Ukrainer ihr die Anfälligkeit für Propaganda in den ehemaligen Sowjetrepubliken erklärt haben: „Das liege an der sowjetischen Prägung; (und) sei darauf zurückzuführen, dass die Fähigkeit zum kritischen Denken, die man in einer Demokratie selbstverständlich lerne, beim homo sovjeticus nie ausgebildet worden sei.“ Heute dagegen sind in vermeintlich stabilen Demokratien autokratische Rechtspopulisten auf dem Vormarsch, während demokratische Parteien in die Defensive geraten.

Spätestens hier wird klar: Der Untertitel lautet zwar Die Zukunft der Ukraine, tatsächlich aber geht es um unsere gemeinsame Zukunft. Und die sieht düster aus, wenn Russlands Aggression nicht gemeinsam und entschlossen bekämpft wird. Militärisch stemmt sich derzeit nur die Ukraine gegen den überlegenen Angreifer. Doch Russlands hybride Kriegsführung, Drohnen über europäischen Flughäfen, Cyberangriffe, Desinformation, setzt längst auch die Verbündeten unter Druck.

Trotz solcher Aussichten ist die vorliegende Anthologie keine deprimierende Lektüre. Die dominierenden Eindrücke sind Staunen über die hergestellten historischen und kulturellen Verbindungen und Bewunderung für die menschliche Größe, mit der körperliche und seelische Verletzungen beschrieben werden: mit Ruhe, Augenmaß und ohne Vergeltungswut.
Unter den herausragenden Autorinnen und Autoren sticht Stanislaw Assejew besonders hervor. Sein mitreißender Essay „MÜLL (CH.L.A.M.)“ beginnt mit der Befürchtung, „dass die Menschen, die mich verstehen könnten, verschwunden sind oder gerade verschwinden.“ Während in den liberalen Demokratien Journalisten und Soziologen fieberhaft recherchieren, um den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien zu begreifen, ringen Juristen, Intellektuelle, Künstler und Pädagogen um die Frage, mit welchen Gesetzen, rhetorischen Strategien oder zivilgesellschaftlichen Projekten sich die Angriffe auf die liberale Demokratie abwehren lassen. Assejew jedoch erklärt sowohl die Kulturelite als auch die Künstler für gescheitert. Oder, um es mit seiner provokanten Überschrift zu sagen, für „Müll“. Paradoxerweise liefert gerade sein Essay, der eine flirrende Kette von Assoziationen und Argumenten vom Zarenreich über die Oktoberrevolution und die Sowjetunion bis in die Gegenwart der Ukraine spannt, ein glänzendes Beispiel für die Verführungskraft freien Denkens und präziser Beobachtung, also für intellektuelle Brillanz. Doch nach Jahren als Journalist, nach russischer Folterhaft und Verwundungen als ukrainischer Soldat zieht Assejew ein bitteres Resümee: dass man „sein Notizbuch ... zuklappen und zum Maschinengewehr greifen“ müsse.

Geteilter Horizont – Die Zukunft der Ukraine. edition Suhrkamp 2025, 328 Seiten, ISBN: 978-3-518-02991-6

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