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07.05.2013, 10:10 Uhr
Joachim Schultz
Oskar Panizza-Reihe
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Oskar Panizza schuf mit der satirisch-grotesken Himmelstragödie "Das Liebeskonzil" (1894) den Anlass für einen der skandalösesten Blasphemieprozesse der deutschen Literaturgeschichte. Seit Oktober 2012 liest Joachim Schultz wöchentlich Werke von Oskar Panizza und begleitet ihn auf seinen Lebensstationen.

Panizza-Blog [29]: Bismarck und Jack the Ripper

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Bismarck-Porträt ("Der Altreichskanzler. Nach einer Photographie", Bayerische Staatsbibliothek/Porträt- und Ansichtensammlung). Panizza sah in ihm den Retter des deutschen Reichs.

In seinem Bericht über die Pariser Tristan-Aufführung schreibt Panizza, er könne sich nur einen billigen Platz auf der dritten Galerie leisten. Einige Zeilen darunter heißt es: „Ich habe kaum mehr soviel Geld, dass ich mir eine Oransche im Zwischenakt kaufen kann.“ Dann befürchtet er, man habe ihm das wenige Geld auch noch gestohlen. Er fühlt sich von Feinden umringt, findet dann aber das Geld wieder und kann sich die Orange kaufen...

Er wird ja steckbrieflich gesucht. In München wird sein Vermögen beschlagnahmt. Panizza weiß nicht mehr ein noch aus. In Briefen äußert er Selbstmordgedanken. Anfang 1901 kursiert in München auch das Gerücht, er habe sich erschossen. Er fährt nach München und stellt sich der Staatsanwaltschaft. Er verteidigt seine Majestätsbeleidigung, denn schließlich habe Wilhelm II. veranlasst, ihn aus der Schweiz auszuweisen. Man will ihn für unzurechnungsfähig erklären. Panizza stimmt Ende Mai 1901 der Einweisung in die Münchner Kreisirrenanstalt zu, wo er mal als Psychiater gearbeitet hat. Er weiß selber nicht, ob er Halluzinationen hat oder ob das Pfeifen, das er ständig hört, von der kaiserlichen Polizei stammt, die ihn beobachtet. Am 25. August wird er aber überraschend wieder entlassen und fährt noch am selben Tag zurück nach Paris. Dort zieht er sich immer mehr von der Außenwelt zurück, arbeitet aber an einem neuen Buch mit dem Arbeitstitel „Imperjalja“.

Ja, es geht wieder um den Imperator, um den deutschen Kaiser. Das Manuskript enthält eine Auflistung der Verbrechen, die der deutsche Kaiser, schon als Kronprinz und später, begangen haben soll. Panizza phantasiert von einer Gegenregierung unter der Führung von Bismarck, die kurz davor stehe, den Kaiser und seine Parteigänger zu stürzen. Bismarck war 1898 gestorben, Panizza behauptet einfach, er lebe noch und könne das deutsche Reich retten. Er wollte ja auch „die Hohenzoller'sche Dinastie zum Ausscheiden aus dem politischen Leben Europas bringen“. (S. 46) Denn der Kaiser muss weg, er ist ein Verbrecher. Sogar die Morde des Jack the Ripper bringt Panizza mit Wilhelm II. in Verbindung: „Jack the Ripper eine Parallel-Akzjon zu des Prinzen Lustmorde.“ (S. 100) Man kann das heute nachlesen, denn das Manuskript, das einige Zeit als verschollen galt, wurde 1993 im Verlag Guido Pressler (Hürtgenwald) veröffentlicht. Der Herausgeber Jürgen Müller schreibt in seiner Einleitung: „Diese Handschrift beantwortet viele der noch offen gebliebenen Fragen zu Oskar Panizzas Gedankenwelt und muss unabdingbarer Bestandteil einer jeden Untersuchung werden, die den Anspruch erhebt, Oskar Panizza in seinen Intentionen und Reaktionen zu interpretieren.“ (S. 15f.)

Ich würde das nicht so pauschal sagen. Panizzas Jahre bis zu seinem Gefängnisaufenthalt können nicht von diesem Manuskript her beurteilt werden. Dass er danach aber immer mehr an Verfolgungswahn leidet, kann nicht von der Hand gewiesen werden und ist in gewisser Weise auch verständlich. Panizza selber beobachtet seinen geistigen Verfall penibel. Er konstatiert den „Zerfall geordneter Bewusstseinszustände“, so Rainer Strzolka in seinem Buch Oskar Panizza. Fremder in einer christlichen Gesellschaft (Berlin: Karin Kramer Verlag 1993, S. 41). Am 25. Mai 1904 schreibt er einen Hilferuf an seine Mutter, die ihm rät, eine Nervenheilanstalt aufzusuchen. Panizza folgt diesem Rat, wenn auch nicht gleich. Letztlich reist er über Lausanne nach München. Doch keine Klinik will ihn behalten.

Er mietet ein Zimmer in der Feilitzschstr. 19 und hofft, dort zurückgezogen leben zu können. Kontakt hat er nur noch zu Franziska von Reventlow und Ludwig Scharf. Bei Spaziergängen gerät er immer wieder in Streit mit harmlosen Passanten. Dann hält er es nicht mehr aus: Am 19. Oktober 1904 provoziert er eine Einweisung in die Nervenklinik, indem er nur mit einem Unterhemd bekleidet durch München geht. Er verursacht einen Menschenauflauf, gibt vor, Ludwig Frommann zu heißen und ein Stenograph aus Würzburg zu sein. Das reicht aus, endlich kommt er in die Klinik...

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Kurzinfo über Joachim Schultz