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Hans Leip, Collage mit dessen Romanen, um 1929, Postkarte (BSB/Sign. Autogr. Leip, Hans)

Wolfsberger Straße: Nordlichter und Gruppe 47

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Horst Mönich, 2003 © Andreas Mönnich

In der ruhigen Wolfsberger Straße in Breitbrunn siedeln sich einige Schriftsteller an, die überwiegend aus Deutschlands Norden stammen. Einer der ersten, der sich hier niederlässt, ist der Schriftsteller Hans Leip (1893-1983). Der gebürtige Hamburger ist nicht nur literarisch aktiv. Auch als Maler und Grafiker tritt er mit seinen expressiven Bildern an die Öffentlichkeit. Für mehrere seiner Bücher gestaltet er Cover und Illustrationen selbst, so für die reich bebilderte Autobiografie Das Tanzrad oder die Lust und Mühe eines Daseins, einen Lebensbericht in losen, anekdotischen Episoden.

Als er am Rande des Naturschutzgebiets eine Wiese vom Danglbauer kauft (Wolfsberger Straße 25), ist die Aussicht noch „unverbaut wie in Blankenese“ (Das Tanzrad). Privat befindet er sich in einer prekären Situation. Er trifft mit seiner 21 Jahre jüngeren Freundin Kathrin Bade am Chiemsee ein, ist aber noch mit seiner dritten Frau Ilse verheiratet, die erst später in die Scheidung einwilligt. Sobald der Weg frei ist für die neue Ehe, traut der Dorfschmied, der gleichzeitig Breitbrunner Bürgermeister ist, das Paar. „Kein Festmahl, nur echter Bohnenkaffee aus einem US Care Paket, und eine Flasche Wermuth bianca“ beleben die Feier, die in einem schlichten Spaziergang des Brautpaars ausklingt: „Unbeschwert spazierten wir noch ein wenig in die sanft rieselnde Abenddämmerung gen Urfahrn zum Seeufer“ (Das Tanzrad).

Hans Leip ist jeglicher Kriegsheroismus fremd. Im Ersten Weltkrieg erleidet er eine Verwundung und wird für kriegsuntauglich erklärt. Berühmtheit erlangt er vor allem als Autor des Soldatenliedes Lili Marleen, der „Internationalen der Kriegsmüden“. Seine Freiheitsliebe, Wasserliebe und Abenteuerlust fließen in der motivischen Vorliebe für Störtebeker und die Freibeuter zusammen. Der am Chiemsee verfasste Roman Die Sonnenflöte ruft ein weiteres zentrales Motiv auf, die Insel als mythischen Ort des Friedens. Die Fraueninsel erscheint der Hauptfigur, Hafenmeister Tidemunt, als „uralter kleiner Ararat, aus den Sintfluten gerettet“. In Hans Leips Autobiografie Das Tanzrad erfüllt  die unbewohnte Krautinsel des Chiemsees diesen Inselmythos:

Über deren kiesiger Landzunge stand die Sonne wie eine Flasche gelben Klosterlikörs. Das Wasser sanft wie Apfelgallert roch urweltlich nach dem Gletscherschutt seines Grundes. Im Mondschein schwammen wir nackt wie die Götter dem Gebirge zu. Und die Kampenwand setzte ihre ungeheure Säge an, die Riegelbalken des Himmels zu öffnen, dem dahinter harrenden Weltfrieden freie Bahn zu gewähren. Doch am Chiemsee findet Hans Leip nicht einmal privaten Frieden. 1951 zieht der Unstete weiter. Er hat sich selbst ein Epitaph gedichtet, endend auf den Vierzeiler: Er liebte die Freiheit sehr,/ drum gebe ihm Gott / einen guten Pott / ins Nimmermehr.

Sein Haus kann er an einen anderen norddeutschen Schriftsteller verkaufen:

Unser Haus zu Breitbrunn hatten wir dem jungen Schriftsteller Horst Mönnich überlassen. [...] Franz Schilling, Steuerberater aller norddeutschen Autoren und auch der unsrige, hatte ihn mitgebracht, immer hilfsbereit, auch neugierig, wie der entfleuchte Hanseat sich in der Fremde eingerichtet hatte. Beide waren begeistert von Haus und Landschaft (Das Tanzrad).

Horst Mönnich (1918-2014) blickt auf eine von Verlusten geprägte Biografie zurück. 1918 in Senftenberg geboren, verliert er früh beide Eltern. Er und sein Zwillingsbruder überleben im Fürsorgesystem der Nationalsozialisten, bis der Bruder bei einem Manöverunfall stirbt. Sein Erstlingswerk  Die Zwillingsfähre (1941) ist auch dem Bruder gewidmet, dessen Gedichte er in seiner Lyriksammlung mit veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg begegnet er in Holstein der aus Westpreußen geflüchteten Modeste Dahlweid. Gemeinsam ziehen sie nach Bayern:

In dieser Landschaft ansässig zu werden, ein Zuhause zu finden, kam mir, der ich damals in Norddeutschland wohnte, ein bißchen vermessen vor. Wie oft habe ich seitdem auf der Höhe haltgemacht und hinabgeblickt [...] Denn ich habe seit einiger Zeit ein Haus am See, gegenüber einer der Inseln, und der Traum ist Alltag geworden…

Horst Mönnich betrachtet sich im Gegensatz zu Hans Leip als Angekommener. Er schwärmt ebenfalls von der Chiemseelandschaft: Die Zeit war aufgehoben [...]. Eine Urlandschaft, wild und lieblich zugleich, von lichtdurchlässigen Schilfbuchten umsäumt, unendlich scheinende blaue Seeflächen… (in: „Der Traum ist Alltag geworden“). Als er sich 1952 in Breitbrunn niederlässt, bedeutet dies nach den Turbulenzen der Kriegsjahre auch ein Ankommen im bürgerlichen Leben. Der Erfolg seines Industrieromans über das VW-Werk in Wolfsburg ermöglicht ihm den Kauf des Hauses und die Gründung einer Familie. 1953 heiratet er in Breitbrunn und verbringt dort zusammen mit seiner Frau die weiteren Jahre.

Modeste Mönnich: Bendomin, Aquarell © Andreas Mönnich; Modeste Mönnich © Andreas Mönnich

Auch hier arbeitet Horst Mönnich weiter an der Chronik der deutschen Industriegeschichte. Seine akribisch recherchierten Werke über VW, BMW und Thyssen dokumentieren die Entwicklung der wichtigsten Unternehmen der Wirtschaftswunderzeit. Entstanden an diesem scheinbar der Zeit enthobenen Ort erweisen sich seine Werke als äußerst zeitbewusst und kritisch, was nicht zuletzt der mehrere Jahre währende Prozess mit VW belegt. So hat Horst Mönnich, frühes Mitglied der Gruppe 47, nach dem Krieg eine neue deutsche Literatur entstehen lassen, wie es die Schriftstellerorganisation postulierte. Sie benannte sich nach ihrem Gründungsjahr 1947 und zählt zu den einflussreichsten Gruppierungen der Nachkriegsära. Auch der Gründer und Organisator der Gruppe 47, Hans Werner Richter, war im Übrigen einige Sommer in Breitbrunn zu Gast. Er wohnte im Anwesen der Keetmans in der Seestraße.

Mit anderen Autoren, die ebenfalls am Chiemsee ansässig sind, pflegt Horst Mönnich freundschaftlichen Umgang. Nicht nur mit denen in seiner Straße, Ilse Aichinger und Günter Eich, sondern auch mit Sten Nadolny in Chieming am gegenüberliegenden Seeufer. Dieser widmet ihm den 2012 erschienenen Roman Weitlings Sommerfrische, in den Sten Nadolny seine Jugenderlebnisse am Chiemsee einfließen lässt.

Modeste Mönnich (1919-2003) ist die fünfte und jüngste Tochter der Gutsbesitzerfamilie Dahlweid in Bendomin. Der Ort liegt im damaligen Westpreußen, im sogenannten polnischen Korridor. Sie leidet unter den beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten für Frauen zur damaligen Zeit, erschwert durch die komplizierte geografische wie politische Lage. Mit ihrem ersten Mann bewirtschaftet sie Gut Bonstetten (heute poln. Zamarte) und unterrichtet nebenher als Lehrerin. Im Januar 1945 flieht sie vor der Roten Armee in einem Treck mit über 100 Menschen von ihrem Gut in Richtung Ostseeküste. Erst 25 Jahre nach ihrer Ankunft in Breitbrunn 1952 beginnt sie ihre Erinnerungen an das Leben in Westpreußen und an die etwa zwei Monate währende Flucht niederzuschreiben. Ihren Erlebnisbericht mit dem Titel Ich schenk euch Bendomin veröffentlicht sie 1980 unter dem Pseudonym Modeste Weidendahl, einem Anagramm ihres Mädchennamens Dahlweid. Trotz der großen zeitlichen Distanz entstehen Erinnerungsbilder in filmischer Plastizität und poetischer Dichte. „Westpreußen und Bayern, Facetten einer Kugel, die ich in den Händen halte und jede nur ein anderer Aspekt derselben Wirklichkeit?“, resümiert sie fragend ihr Leben. Modeste Mönnich gelingt mit ihrem authentischen Zeitdokument ein eindringliches Erinnerungsbuch zum Leben in Westpreußen und den Flüchtlingstrecks.

Das Schriftstellerpaar Ilse Aichinger (1921-2016) und Günter Eich (1907-1972) lernt sich 1951 anlässlich einer Lesung der Gruppe 47 in Bad Dürkheim kennen. Sie heiraten 1953 in München. Da das Paar ohne festen Wohnsitz ist, bietet ihnen Horst Mönnich eine vorübergehende Bleibe in seinem Haus in Breitbrunn an. Das Paar zieht später in ein anderes Haus in der Wolfsberger Straße 7 und bleibt weiterhin dem Landleben treu. Günter Eich bekennt sich zu seiner – wie er es nennt – „Vorliebe für abgelegene Dörfer“. Er will auch nicht weiter nach Norden ziehen. 1956 siedelt die Familie nach Lenggries über, dann nach Bayerisch Gmain und anschließend österreichisch Großgmain. 

Ilse Aichinger und Günter Eich, 1964 / Günter Eich, 1951, Fotos: Felicitas Timpe © Bayerische Staatsbibliothek, Bildarchiv

Günter Eich gilt als Vertreter der sogenannten „Kahlschlagliteratur“, dem radikalen literarischen Neubeginn nach Kriegsende. Sein schriftstellerischer Weg ist gekennzeichnet von Inkohärenzen und Brüchen, von Selbstverleugnung und der Abwertung früherer Werke – symptomatisch für die literarische Verunsicherung in der Nachkriegsära. Sein Berufsleben beginnt er als Radioautor unter den Nationalsozialisten. Später distanziert er sich von dieser Phase, bleibt aber dem Rundfunk und dem Genre des Hörspiels bis in die 1940er-Jahre treu. Erst im beginnenden Fernsehzeitalter verliert er das Interesse am Hörspielschreiben.

Die Gedichtsammlungen Abgelegene Gehöfte (1948) und Botschaften des Regens (1955) bescheren ihm großen Erfolg bei der Leserschaft. Das Gedicht Herrenchiemsee aus der Sammlung Botschaften des Regens, entsteht in Breitbrunn.

All ihr herbstlich Fliegenden
Vogelwind, Vogelblätter –
Weinlese ist gehalten,
in den Bergen fällt Schnee.

Ludwig wollte nicht, daß man ihn essen sah.
Zu unsichtbaren Kerkern gerinnt der Föhn,
wie leicht aber erklärt sich alles
aus den Wirbeln des fallenden Eschenblatts!

So die ersten beiden Strophen des Gedichts. Während die anfänglichen Verszeilen noch getragen sind von den für Eich typischen Naturmotiven – Herbststimmung, Wind, Vögel, bewegte Blätter, „gerinnt“ die Naturszenerie metaphorisch zu einem Gefängnis für den darin Eingeschlossenen. Der menschenscheue König Luwig II. soll bekanntermaßen allein am raffinierten versenkbaren „Tischleindeckdich“ in Schloss Herrenchiemsee gespeist haben.

Günter Eich wird für sein innovatives literarisches Werk mit einer Reihe von Literaturpreisen gewürdigt. Unter anderem erhält er 1950 den erstmals ausgeschriebenen Preis der Gruppe 47 und 1959 den Georg-Büchner-Preis. Hans Magnus Enzensberger widmet ihm ein Gedicht mit dem Titel abgelegenes haus (in: Blindenschrift, 1964), in Anspielung sowohl auf seine Wohnsituation als auch auf die Anthologie Abgelegene Gehöfte.

In der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zählt Ilse Aichinger zu den profiliertesten Autorinnen. Sie selbst verortet sich nicht in der „Kahlschlagliteratur“ der Gruppe 47, an deren Treffen auch sie teilnimmt. Das Postulat eines radikalen Neuanfangs ist der Tochter einer jüdischen Mutter, die dank glücklicher Umstände die NS-Zeit überlebt, zu kurz gegriffen. Stattdessen beteiligt sie sich am Kampf gegen die Verdrängung, gegen die Mentalität des Vergessens, die sich in  Politik und Gesellschaft zugunsten des Neubeginns herausbildet.

Ilse Aichinger: Breitbrunn,
(aus der Gedichtsammlung Verschenkter Rat)

Es neigen sich
die Tage der Kindheit
den späten Tagen zu.
Und fragst du nach der Heimat,
so sagen alle, die blieben:
Das Gras ist gewachsen.
Aber nichts davon,
daß die gewundenen Wege
die Hügel hinab
aufstanden und seufzten.
Ehe sie sterben,
ziehen die Pfarrer in andere Dörfer.

In der kurzen Zeitspanne, die sie in Breitbrunn lebt, schreibt sie 1955 das Gedicht Breitbrunn. Es ist Bestandteil einer Gedichtsammlung mit dem pessimistischen Titel Verschenkter Rat, der dem Dichten  die Vergeblichkeit aufklärerischer Bemühungen schon in der Überschrift mitgibt. Mit der Gruppe 47 verbindet sie die Verwendung eines einfachen, schnörkellosen Wortschatzes. Die Sprache ist lakonisch. Konkrete Dinge und Naturhaftes werden in schlichten Formulierungen benannt. Doch die Objekte des Alltags und die Alltagssätze sind unterwandert von zersetzenden Wendungen, abrupten Bildwechseln und verblüffenden Entkontextualisierungen.

Breitbrunn ruft in der Assoziationskette Dorf - Heimat - Kindheit das Thema Heimat auf. Jedoch fehlen der Heimat die Attribute von Geborgenheit, Tradition und kollektivem Gedächtnis. „Gras ist gewachsen“ – wohl über die Vergangenheit. Die  Naturkulisse wird zwar aufgerufen, aber aus ihr selbst heraus erhebt sich das Seufzen der „Hügel“ gleich einem Aufbäumen der unbewältigten Vergangenheit. Wie bei Günter Eich bahnt sich der subversive Grundton einer kritisch ausgerichteten Heimatliteratur an. Die Euphorie der Sommerfrischler und Freilichtmaler gehört in den Texten der hier ansässigen Repräsentanten der Gruppe 47 der Vergangenheit an.

 


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Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Dr. Birgit Ziegler-Stryczek

Sekundärliteratur:

Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. Gedichte. Fischer, Frankfurt am Main 1978.

Günter Eich: Gesammelte Werke: in vier Bänden. Hg. von Vieregg, Axel J.; Karst, Karl. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991.

Hans Leip: Die Sonnenflöte. Ein Roman. Georg Westermann Verlag, Braunschweig 1952.

Ders.: Das Tanzrad oder die Lust und Mühe eines Daseins. Ullstein, Berlin u.a. 1979. [Autobiografie]

Horst Mönnich: Die Zwillingsfähre. Kallmeyer, Wolfenbüttel u.a. 1942. [enthält auch Werke von Günther Mönnich]

Ders.:  Die Autostadt. Roman des Volkswagens. Mercurius-Verlag, München (1951) 2011.

Ders.:  BMW – eine Jahrhundertgeschichte. Econ, Düsseldorf u.a. 1983-1987. 2 Bde.

Ders.: Geboren Neunzehnhundertachtzehn. Von einem Ende zum anderen. Schneekluth, München 1993. [Autobiografie]

Ders.:  „Der Traum ist Alltag geworden“. In: Heyn, Hans (Hg.) (1969): Land und Leut zwischen Salzach und Inn. Bilder, Geschichten und Zeugnisse aus drei Jahrhunderten. Pannonia-Verlag, Freilassing, S. 138-141.

Modeste Weidendahl: Ich schenk euch Bendomin. Bechtermünz, Augsburg 1999.

Both, Martin (2013): Hintersinniger Zeuge seiner Zeit. In: Merkur, 7. November. URL: https://www.merkur.de/kultur/hintersinniger-zeuge-seiner-zeit-3207953.html, (20.09.2018).

Rabenstein-Michel, Inge (2008): „Bewältigungsinstrument Anti-Heimatliteratur“. In: Germanica 42, S. 157-169.

Radisch, Iris (2007): "Absicht des Anarchischen". Zum 100. Geburtstag des bedeutendsten Dichters der deutschen Nachkriegsliteratur.“ In: Die Zeit, 1. Februar.

Rasmus, Hugo (1984): Lebensbilder westpreussischer Frauen in Vergangenheit und Gegenwart. Nicolaus-Copernicus-Verlag, Münster.

Schütt, Rüdiger (2001): Dichter gibt es nur im Himmel. Leben und Werk von Hans Leip. Biographie und Briefedition 1893-1948. Dölling und Galitz, Hamburg u.a.

Witt, Helmut (2010): Günter Eich. Trigonometrische Punkte – nur noch mit der Lupe zu suchen? In: Thaler, Engelbert (Hg.): Literatur im Chiemgau. 12 literarische Miniaturen von Chiemgau-SchriftstellerInnen. E. Thaler, Traunstein.