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18.06.2014, 11:53 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [427]: Riesin der Natur, in den Armen tausend und tausend saugende Wesen tragend

Das stille Land – so hieß der englische Garten um Marienhof, den die Gemahlin des verstorbenen Fürsten mit einem romantischen, gefühlvollen, über Kunstregeln hinausreichenden Geiste angelegt.

Sie mußten vor dem alten Schlosse vorbei, das wie eine Adams-Rippe das neue ausgeheckt, das seinerseits wieder neue Wasseräste, ein sinesisches Häuschen, ein Badhaus, einen Gartensaal, ein Billard u.s.w., hervorgetrieben hatte.

Ich stieg auf den Eremitenberg, und meine Brust war noch nicht von dem Weltstrome voll, dem sie leidend offen stand. – – – Aber dort richtete sich die liegende Riesin der Natur vor mir auf, in den Armen tausend und tausend saugende Wesen tragend – und als meine Seele vom Gedränge der unzähligen, bald in Mückengold gefaßter Seelen, bald in Flügeldecken gepanzerter, bald mit Zweifalter-Gefieder überstäubter, bald in Blumenpuppen eingeschlossener Seelen angerühret wurde in einer unendlichen, unübersehlichen Umarmung – und als sich vor mir über die Erde legten Gebürge und Ströme und Fluren und Wälder, und als ich dachte, alles dieses füllen Herzen, die die Freude und die Liebe bewegt, und vom großen Menschenherzen mit vier Höhlungen bis zum eingeschrumpften Insektenherzen mit einer und bis zum Wurmschlauch nieder springt ein fortschaffender, ewiger, eine Zeugung um die andre entzündender Funke der Liebe ....

Unter dem Getümmel des Sterbetages, der ihn sonst in eine ganz dunkle Einsamkeit fortgetrieben hätte, ging er doch nach Marienhof; der Verstorbene hatte ihn gebeten, es zu machen, daß er sein Winterlager für seine Gebeine auf dem Eremitenberg bekäme, den er so oft bestiegen hatte und dessen Erscheinungen uns bekannt sind. Gustav hofft' es leicht von der Residentin auszuwirken, da sie ohnehin selten und nur gewisse Partien des stillen Landes betrat. Oefel sagte aber – am Morgen, wo er ihn bei seiner Bitte zu Rat zog, – gerade umgekehrt, wenn ihr um den Park und dessen bauliche Würden zu tun wäre: so müßte sie da etwas recht gern begraben lassen, weil es den besten englischen Gärten an Toten und wahren Mausoleen so sehr fehlte, daß sie bloß nachgemachte Vexier-Mausoleen hätten.

Der Englische Garten – es ist ein schöner Zufall, dass die Anlage der Anlage just in die Zeit fällt, in welcher Jean Paul seinen Roman schreibt. 1789 gibt der Kurfürst Karl Theodor den Befehl, nördlich der Residenz den Garten anzulegen.

Unter Sir Benjamin Thompson – besser bekannt als Graf Rumford (auch er ist ein alter Bekannter, der noch heute, zumindest in München, neben ihm hängt) – beginnt man mit den Arbeiten. Schon 1790 ist der Chinesische Turm (Jean Paul hätte geschrieben: der Sinesische Turm) vollendet. Als der Dichter den Wutz schreibt, errichtet man den Rumford-Saal. Als er 30 Jahre später nach München reiste, war der Garten in seiner Grundstruktur mit seinen wichtigsten Bauten fertig – nur der berühmte Monopteros, von dem aus man einen grandiosen Blick auf die Riesin der Natur und der Stadt hat, wurde posthum gebaut.

Im Englischen Garten, so scheint es, wird die Natur der Unsichtbaren Loge domestiziert, um in einem künstlichen Sinne zur Kenntlichkeit entstellt zu werden: freilich mit dem Ausblick auf eine größere, echte Natur. Auch der Münchner Englische Garten verdankt seine Existenz dem Zusammenspiel von Kunst und Natur: zum Vergnügen der Einwohner – und des Reisenden, der auch in der bayerischen Landeshauptstadt, die der Dichter 1820 besuchte, und in der er sich nicht wohl fühlte (zu viel Flachland, zu viel flache Menschen), die Spuren des Dichters und seiner frühen Dichtung zu entdecken vermag.

Fotos: Frank Piontek, 8.6. 2014