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26.06.2010, 09:06 Uhr
Peter Czoik
Text & Debatte

Zur Kurzprosa „Möglichkeiten einer Fahrt“ von Martin Gregor-Dellin

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Martin Gregor-Dellin bei der Jahressitzung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste am 2. Juli 1987 (Staatsbibliothek/Timpe)

Martin Gregor-Dellin war in seinem literarischen Wirken derart vielseitig, dass ihm die Würdigung nur unter einem Aspekt keinesfalls gerecht wird; er war Romancier, Hörspielautor, Essayist, Herausgeber, Lektor und Kritiker, aber auch versierter Musikschriftsteller und engagierter Literaturpolitiker. Dennoch ist der Fokus auf seine kleinen erzählerischen Werke nicht uninteressant, zumal sich hier eine erstaunliche Fülle unterschiedlichster Formen versammelt, die sich nicht zuletzt im Gesamtwerk ausdrückt. Von der politischen Parabel („Horvad und die Lüge“) über die Satire bis hin zur psychologischen Skizze im Kürzestformat sind in dem 1964 erschienenen Band Möglichkeiten einer Fahrt nicht nur mehrere literarische Gattungen vertreten, sondern zugleich ‚Möglichkeiten‘ von – ansonsten festen – Wirklichkeiten entworfen.[1]

In der Erzählung „Im Taubenhaus“ z.B. begegnet die Frau des Taubenzüchters eines Nachts einem Fremden, dem sie sich in einer Mischung aus Furcht und Erwartung sexuell hingibt. Dies geschieht, um die Tauben am Leben zu halten und ohne dass es der verhasste Ehemann erfährt. „Aber warum, warum befreite sie sich nicht aus diesem Zwang, den der Fremde auf sie ausübte?“[2] Oder anders gefragt: Welche Möglichkeiten hindern Jessika daran, die unheimlich-heimliche Verbindung mit dem Fremden zu lösen und ihrem Mann zu gestehen? Nicht: Welche Möglichkeiten gibt es, sich von diesem Zwang zu lösen? Die Antwort wäre einfach: keine.[3] „Das Zweifeln, Vermuten, Gefahrlaufen“[4] reibt Jessika dermaßen auf, dass sie sich ihrem Schicksal fügt und zu dem Schluss kommt: „Jeder läßt alles geschehn, wenn es nur sein Maß hat (und ihres ist die Taube) – jeder lebt in der Vorstellung, ein verzögertes Ende sei keins.“[5]

In der Geschichte „Die letzte Katze“ wiederum ist die Situation anders: Eine abgehetzte, magere Katze wird zur Exekution ans Ende des Dorfes gefahren, wo sie von den Hunden zerrissen werden soll. Die Hunde missverstehen aber den Befehl und stürzen sich auf den Befehlsgeber. Hier wird die scheinbare Sicherheit des Todes noch ein letztes Mal überwunden, da mit einem „Fehler, der jedem zugemessen ist“,[6] nicht gerechnet wird. Und in der nachfolgenden Erzählung „Begräbnisse“ überhäufen sich die Möglichkeiten einer Bestattungszeremonie bis zur Absurdität: man kann ein Ehrengrab erhalten, wenn man noch post mortem in eine niedrigere Gehaltsstufe zurückgestuft wird; man kann aber ebenso an der Mauer begraben werden, hat man sich wie der Zentrale Direktor des Bestattungswesens eben für diese Neuordnung starkgemacht.

Die Titelgeschichte „Möglichkeiten einer Fahrt“ entfaltet die Kongressreise eines Gelehrten schließlich als unumkehrbare Un-Möglichkeit. Nachdem er in einem Waldstück seine Frau entdeckt hat, wie sie sich mit seinem Assistenten und Chauffeur auf dem Rasen „mit stöhnender Befriedigung hingibt“,[7] und auch seinen – eigentlich zu Hause aufpassenden – Sohn im Gespräch zweier Männer erkennt, kann der Gelehrte die Reise nicht wieder rückgängig machen. Ziellos wie der Ich-Erzähler in Kafkas Ein Landarzt treibt er zunächst dahin, bis er die Fahrt mit dem Assistenten wieder antritt, obschon das „herzliche Verhältnis“ zu diesem von jetzt an gestört ist – „als verlange es ihn weder, mit dem gut vorbereiteten Referat auf dem Kongreß zu glänzen, noch heimzukehren zu Frau und Sohn.“[8]

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[1] Fragend gibt der Erzähler aus „Manche Feste“ die Ziellosigkeit solider Planung vor dem Hintergrund der Banalität menschlichen Strebens an den Leser weiter: „Lange, gründliche Vorbereitungen wurden getroffen, ein Komitee hat Zeitpunkt und Ablauf der Jahrtausendfeiern genau vorausbestimmt und festgelegt, indessen: manche Feste mit soliden Ziffern scheinen der Eilfertigkeit eines Mannes entsprungen, der, nach dem Kalender schauend, Tage und Wochen in Gruppen zusammenfaßt, unterteilt, ordnet und abstreicht, um schneller vorwärtszukommen – aber wohin? Wohin will diese kleine [sic!] Stadt? Wohin wird es mit ihr in abermals tausend Jahren gekommen sein?“ (Martin Gregor-Dellin: Möglichkeiten einer Fahrt. München 1964, S. 49)

[2] Ebda., S. 55.

[3] So aber Horst Bienek: Möglichkeiten statt Mutmaßungen – Kleine Prosa von Martin Gregor-Dellin (FAZ vom 14. November 1964). In: Endres, Elisabeth (Hg.) (1986): Pathos und Ironie. Ein Lesebuch von und über Martin Gregor-Dellin. München, S. 112-114, hier S. 113.

[4] Gregor-Dellin: Möglichkeiten einer Fahrt, S. 57.

[5] Ebda., S. 58.

[6] Ebda., S. 64.

[7] Ebda., S. 95.

[8] Ebda., S. 97. Vgl. das Ende von Kafkas Ein Landarzt: „Niemals komme ich so nach Hause; meine blühende Praxis ist verloren; ein Nachfolger bestiehlt mich, aber ohne Nutzen, denn er kann mich nicht ersetzen; in meinem Hause wütet der ekle Pferdeknecht; Rosa ist sein Opfer; ich will es nicht ausdenken. Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich mich alter Mann umher. Mein Pelz hängt hinten am Wagen, ich kann ihn aber nicht erreichen, und keiner aus dem beweglichen Gesindel der Patienten rührt den Finger. Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“