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02.05.2014, 13:14 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [403]: Karl Valentin lässt schön grüßen

Falk und Fey, Möbeltransportgeschäft in der Münchner Vorstadt Au, Entenbachstraße 63 im ersten Stock links, dort erblickte ich, Valentin Ludwig Fey, das Licht der Welt. Der Mann, der sich später „Karl Valentin“ nannte, schrieb dies in seiner „Selberlebensbeschreibung“ – nicht in dem Klassikaner Meine Jugendstreiche, sondern in einem kurzen Text, der 1928 im Bayerischen Hauskalender gedruckt wurde: Wie ich Volkssänger wurde.[1] Was wir von Valentins frühem Berufsweg wissen, wissen wir (wenn sich der Blogger nicht wieder einmal irrt) aus dieser kurzen Autobiographie.

Alles hat sich in der Au geändert, das wusste Karl Valentin schon, als sich das gewesene Kind an seine Jugendstreiche erinnerte – aber das Haus steht noch, und die Fassade sieht noch, abgesehen vom Erdgeschoss und vom Dachaufsatz, fast so aus wie anno 1882. Nur hat es jetzt eine Gedenktafel, die an den „großen Volkssänger“ erinnert, der wesentlich mehr war: ein großer Dichter, der zur schönsten Sommerzeit, am 4. Juni 1882, als Knabe zur Welt kommt. Das dritte Fenster von rechts, erster Stock links, das Kind könnte gleich herausschreien, aber es bleibt stumm, denn es ist sprachlos: es hat ja die Hebamme noch nie in seinem Leben gesehen.[2]

Eine bewegende Gedenktafel erzählt die Geschichte des Hauses in der Entenbachstraße 63, also der heutigen Zeppelinstraße 41, das glücklicherweise heil über den Krieg kam und nicht dem Abrisswahn der Nachkriegszeit zum Opfer fiel.

„Die Vorstadt Au war zwar schon 1854 eingemeindet worden, hatte aber durchaus noch ländlichen Charakter“, schrieb Michael Schulte 1968 in der Rowohlt-Monographie. Mit etwas Phantasie kann sich der Stadtwanderer diese Situation heute noch vorstellen, wenn er vor dem Haus in der stillen Straße steht – in dessen Hof, so Valentin, der Knabe die „tollen Streiche“ beging, die er in seinen berühmten Jugenderinnerungen mit leicht sadistischer Freude beschrieben hat.

Eines aber ändert sich nie, so sehr sich auch sonst alles ändert: die sogenannte Liebe, auch die Liebe in der schönen Au: „Einst liebte ich ein Mädchen und auch das Gegenteil war der Fall: sie liebte mich wieder“, lesen wir im Kapitel Herzens Lust in Meine Jugendstreiche. Auch Jean Paul hat dem Kapitel Liebe einige Seiten in seiner Selberlebensbeschreibung eingeräumt, die mit den Jugendstreichen etliches gemein hat: wohl auch die Tendenz zur Überhöhung. Idyllisiert der Ältere seine Jugend, so übertreibt Valentin – hierin ganz Komiker – wohl etliche seiner wilden Abenteuer: zur Freude des Lesers.

Dies ist jedoch nicht das Einzige, was den Münchner mit dem Wunsiedler verbindet. Karl Valentin und Jean Paul haben wesentlich mehr gemein, als man es auf den ersten Blick annehmen mag:

Jean Paul und Karl Valentin sind Genies der Sprache, die sie so weit wie möglich analysieren und bereichern.
Jean Paul und Karl Valentin sind Avantgardisten: bis hin zur Erfindung des Absurden.
Jean Paul und Karl Valentin gehören zu den Sonderlingen der deutschen Literatur, nachdem sie sich zunächst an den bestehenden literarischen Formen orientiert haben.
Jean Paul und Karl Valentin sind ungeheuer stark in der Fabrikation von geflügelten Worten.
Jean Paul und Karl Valentin haben ein starkes emotionales Verhältnis zur schönsten Kunst, die sie auch praktizieren: die Musik.
Jean Paul und Karl Valentin sind scharfe Menschenbeobachter.
Jean Paul und Karl Valentin sind berühmte und geniale Satiriker.
Jean Paul und Karl Valentin scheuen nicht das deutliche, unverschämte Wort.
Jean Paul und Karl Valentin haben eine Autobiographie geschrieben, die (fast) nur die Jugend umfasst.
Jean Paul und Karl Valentin sind besonders stark in der kunstvollen Beschreibung der „kleinen“ Leute.
Jean Paul und Karl Valentin gehören in die erste Reihe der sogenannten Bayerischen Dichter, deren Werk nicht zur Heimatliteratur gehört und in der ganzen Welt verstanden wird.
Jean Paul und Karl Valentin sind geborene „Bayern“, aber die Verwandten wurden weit von München entfernt geboren und sozialisiert.
Jean Paul und Karl Valentin kommen beide aus relativ kleinen Milieus.
Jean Paul und Karl Valentin versuchen sich zunächst im Familienbetrieb, bevor sie sich allein der Kunst widmen: der eine als Theologiestudent, der andere als Spediteur.
Jean Paul und Karl Valentin haben Künstlernamen angenommen, mit denen sie bekannt blieben.
Jean Paul und Karl Valentin schreiben nach ersten beeindruckenden Misserfolgen mit 26/28 Jahren ihre ersten erfolgreichen Texte.
Jean Paul und Karl Valentin sind keine ausgesprochenen Reisefexe (auch wenn der eine bis Berlin und der andere bis Wien kam).
Jean Paul und Karl Valentin kannten sich.

Wer jetzt glaubt, dass der Blogger den Verstand verloren hat, weil ihm die Münchner Sonne zu stark aufs Gehirn schien, irrt. Valentin ließ Jean Paul grüßen, man kann das – im Briefband der Gesamtausgabe (Bd. 8, S.16, Zeile 6f.) – nachlesen. Er schreibt da am 11. Mai 1912:

Richten Sie mir bitte viele Grüße aus an Herrn M. Schenk und Jean Paul.

Tatsächlich: Karl Valentin kannte Jean Paul persönlich! Unglaublich, aber wahr!!

Das anfänglich gute Verhältnis zu Jean Paul aber scheint sich bald schon verschlechtert zu haben. Eine Woche später musste Valentin an den Münchner Komiker und „Singspieldirektor“ Georg Neumüller schreiben, dass er, Neumüller, ihm, Jean Paul, schreiben möge, dass er, Neumüller, Valentins Vortrag Großfeuer für 200 Mark gekauft habe, „damit er sieht, wie schundig er mit mir geschäftlich verhandeln will“, ja: er habe „auch keine Lust mehr mit ihm Geschäfte zu machen“. Am 6. März 1913 wird Jean Paul dann noch einmal neutral erwähnt, weil er, zunächst als einziger Interessent, den Flieger-Vortrag erworben habe und im Mai des Jahres zum ersten Mal in Wien aufführen wolle.

Kein Wunder: Jean Paul war ja schon immer an Luftschiffereien interessiert.

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[1] Man findet ihn heute im 7. Band der exzellenten, neunbändigen textkritischen Gesamtausgabe, die man dem „genialen Komiker und philosophischen Wortakrobaten“ widmete: Karl Valentins Selbstbiographie. Autobiographisches und Vermischtes. Hrg. von Stefan Henze und Andrea Heizmann in Zusammenarbeit mit Max Auer. München 1996, S. 14-16.

[2] Diesen brillanten Witz findet man in Valentins Funkreportage von 1945.

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