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25.03.2014, 15:24 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [387]: Ein unerwarteter Besuch

Und wer war nun der geheimnisvolle unerwartete Besucher?

In der Tat: eine außergewöhnliche Gestalt – in die Stube der Rollwenzelei trat Heinrich von Kleist. Es ist dies wohl kein Zufall, denn obwohl sich Jean Paul und Kleist niemals begegnet sind[1], gelten sie (zusammen mit Hölderlin) gleichsam als Bruderpaar der deutschen Literatur um 1800, das in keine literarhistorische Schublade eingeordnet werden kann.

Und also kommt der 14 Jahre jüngere Dichter nach Bayreuth, um den älteren Mann aufzusuchen. Schnell gerät man in einen Disput; Jean Paul wird geradezu gezwungen, die Rede des toten Christus zu widerrufen. Es stimmt ja: Er war kein Atheist, wenn er auch die Möglichkeit eines gottlosen Alls denken konnte. Das Junggenie Kleist aber beharrt darauf, dass die Welt eine sinnlose ist – und Jean Paul (die Marionette) ahnt, dass es mit dem bemerkenswerten, düsteren Menschen kein gutes Ende nehmen wird. Die Wahrheit war, dass ihm auf Erden nicht zu helfen war … Es ist dies eine Position, die der Weltsicht Gustavs und der verzweifelten Stimmung des Romans in einem bestimmten Punkt entgegen kommt: dass die irdische Welt, wie auch immer, überwunden werden muss. Auch Ottomar träumt ja vom Suizid – eine Hauptnebenfigur im Roman eines Schriftstellers, der vielleicht unbewusst begriffen hat, dass die Verzweiflung gewichtiger ist als eine noch so skrupulöse Gottesfurcht. Kleist wird 20 Jahre nach der Loge seine Schlüsse daraus ziehen.

1792/93 ist er noch ein junger Mann von 15, 16 Jahren. Während Jean Paul am Schwarzenbacher Schreibtisch sitzt, reist der preußische Adlige im April '93 mit seinem Regiment, dem Potsdamer Regiment Garde, in dessen 3. Bataillon er als Gefreiter-Korporal dient, nach Mainz, wo gerade der Erste Koalitionskrieg stattfindet. Die Franzosen hatten im Herbst die Stadt eingenommen, nun rücken die deutschen Truppen an, um an der Befreiung der Stadt teilzunehmen. Die Franzosen oder vielmehr das Räubergesindel werden jetzt aller wärts geklopft, berichtet der junge Mann seiner Tante. Damit ist auch der Traum von einer ersten deutschen Republik ausgeträumt.

Jean Paul und Kleist begegneten sich nie, aber Jean Paul hat sich doch öfters über den jungen Kollegen geäußert – und durchaus lobend. 1804 veröffentlichte er in der Vorschule der Ästhetik (genauer: in der Dritten Abtheilung: Miserikordias-Vorlesung über die Kunst für Stilistiker. 8. Kap. Rechtfertigung der neuern poetischen Partei) eine grundsätzliche Einschätzung über den aufstrebenden Autor:

Ließ man sich bisher den Schmerz der falschen Tendenz am wahren Talent gefallen: so sollte man der wahren den Mangel von einem oder mehreren Beinen mehr nachsehen, womit sie zum Ziele fliegen will. Novalis Werke – Schroffenstein [...] u. s. w. – sind theils Sternchen, theils rothe Wolken, theils Thautropfen eines schönen poetischen Morgens.

Ähnlich freundlich klingt es neun Jahre später in der Vorrede zur Schriftensammlung des Museum von 1813:

Was die poetischen Un- oder Mißformer im guten Sinne betrifft, so wissen diese recht gut, dass ein Musenpferd durch einige Auswüchse und Bastardglieder ein geniales werde, und sorgen daher für letzte zuerst [...] Daher nennen sie sich, wie z. B. der dramatische Kleist, mit noch mehr Recht Shakespearens Jünger, als sich in London die jungen Shakespeare's boys hießen, welche damals, als noch der große Dichter vor dem Schauspielhause den vornehmen Zuschauern die Pferde hielt, als dessen Unterdiener im Pferdehalten von ihm angestellt und besoldet wurden.

Man sieht: Jean Paul hat das Ungewöhnliche der Kleistschen Ästhetik als Form eigenen Rechts anerkennen können. Der Umstand, dass seine eigenen Werke von manchen Kritikern als Mißformen betrachtet wurden (und werden): Hat es seine Sensibilität gegenüber Kleist geschärft? Auch ihm war die Bedeutung des Dichters durchaus klar.

Das Final-„Ach“ in Kleists Amphitryon würde zu viel bedeuten, wenn es nicht auch zu vielerlei bedeutete.

Sie sind sich, ich habe es gesagt, niemals begegnet, aber in Berlin hätten sie sich Ende 1800 durchaus treffen können, wenn sie denn dieselben Zirkel besucht hätten – er, der umschwärmte Dichter des Hesperus und es, das fast mittellose Junggenie, das im Sommer nach Berlin kam, dann nach Würzburg  reiste und sich im Winter ziellos in den Sitzungen der Preußischen Technischen Deputation des Manufaktur-Kollegiums herumtrieb, bevor es im April 1801 mit der Schwester Ulrike nach Paris floh. In diesem Jahr entstand übrigens das einzige authentische Porträt, das Kleist seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge geschenkt hatte.

Heinz Tischer, der Autor des Marionettenstücks des Operla, hatte sich übrigens schon vor etlichen Jahren mit Kleist befasst. Eine Frage des Professors gab dem Blogger Anlass, einmal genauer über den möglichen Aufenthalt des Dichters in Bayreuth nachzudenken. Die Sache ist durchaus verzwickt – wenn auch zu lösen:

 

„Kleist hat ja einige Monate in der Kreis-Irrenanstalt in Bayreuth gesessen.“

Zu einer Bayreuther Kleist-Mystifikation

Natürlich hielt sich der Dichter nie in Bayreuth auf; ansonsten wüssten wir es vermutlich längst. Trotzdem – oder gerade: deswegen – machte am 21. Februar 2005 ein Leserbrief im Nordbayerischen Kurier auf eine – man darf das Adjektiv wörtlich nehmen – merkwürdige Geschichte aufmerksam. Der emeritierte Germanistikprofessor Heinz Tischer zitierte hier einen Rat, den Carl August von Hardenberg, damals der preußische Staatskanzler und erster Reformer des Staats, dem Historiker Friedrich von Raumer gegeben habe: „Lassen Sie sich“, soll Hardenberg gesagt haben, „mit dem armen Menschen nicht weiter ein! Kleist hat ja einige Monate in der Kreis-Irrenanstalt in Bayreuth gesessen.“

Kleist in Bayreuth? Selbst wenn Kleist „nur“ in der „Irrenanstalt“ gewesen sein sollte[2], wäre dies natürlich eine interessante Neuigkeit für die interessierte literarische Öffentlichkeit Bayreuths gewesen. Woher hatte Tischer diese zweifellos sonderbare Geschichte?

Raumer notierte, so der Professor, die Aussage Hardenbergs erst ein halbes Jahrhundert später, und sollte sie den Tatsachen entsprechen, so wäre Kleists Aufenthalt „wohl auf die letzten Monate des Jahres 1809 zu datieren“. In diesem Jahr war der Dichter mit Freund Friedrich Christoph Dahlmann nach Österreich gereist, wo sie das napoleonische Schlachtfeld zu Aspern besuchten. Zurückreisend warf es Kleist auf das Krankenlager nieder. Nach einem (bis Oktober dauernden) Zwangsaufenthalt im Prager Kloster der Barmherzigen Brüder[3] reiste er, so der Professor, Ende Januar 1810  (nachdem er sich seit Ende November einen Monat lang in Frankfurt an der Oder aufhielt, was der Professor verschweigt) nach Berlin zurück – und genau in dieser Zeitspanne mag er, so Tischer, Bayreuth berührt haben, wo er vielleicht „in einem Zustand geistiger Verwirrung in das Irrenhaus eingeliefert wurde.“ Leider, so schließlich der leserbriefschreibende Kleistfreund, habe dieser Aufenthalt, „ungeachtet der Nachforschungen“, nicht nachgewiesen werden können. Kein Kleist in Bayreuth, nirgends – und Tischer schloss seinen interessanten Brief mit der Frage: „Wäre es vielleicht doch noch möglich, Licht in dieses Dunkel zu bringen?“

Nein, Kleist war nicht in Bayreuth, aber schon die Suche nach den Quellen dieser merkwürdigen Episode ist interessant genug, um in der Bayreuther Krypto-Literaturgeschichte vermerkt zu werden. Die Quelle kann dank der Wissenschaftler, die die BKA, also die Brandenburger Kleist-Ausgabe mit ihrem äußerst wertvollen Dokumentarteil, herausgeben, schnell gefunden werden. Der Kleistforscher entdeckt sie entweder hier oder am ursprünglichen Ort, einer Fußnote in der Einleitung des ersten Bandes einer Kleist-Gesamtausgabe, die 1885 von Theophil Zolling herausgegeben wurde.[4]

Zolling mutmaßte, dass Raumer es etwa ein halbes Jahrhundert nach Kleists Tod bereute, den Dichter einst zu bürokratisch-streng behandelt zu haben – damals war es um die von Kleist herausgegebenen und geschriebenen Berliner Abendblätter und eine missverständliche Geldangelegenheit gegangen. Raumer war seit 1810 Mitglied im Kabinett des preußischen Staatskanzlers von Hardenberg gewesen. Nun zitierte Zolling eine Notiz, die der Literaturhistoriker, Dichter und Journalist Emil Kuh 1863 in der Wiener Presse (Nr. 194) publiziert hatte. Im Vorjahr hatte der Journalist den inzwischen 81jährigen Raumer besucht und interviewt – und genau in diesem Bericht finden wir die Quelle für die Vermutung, dass sich Kleist in der hiesigen „Kreis-Irrenanstalt“ aufgehalten habe.

Als guter Journalist ging Kuh dieser Aussage nach. Seine Recherchen ergaben die Bayreuther Antwort, „dass in den Grundlisten über die Kranken, welche von 1790 bis 1811 in der dortigen Anstalt aufgenommen worden, Heinrich von Kleist nicht vorkomme, was aber die Möglichkeit, dass er einige Zeit dort verweilt, nicht ausschließe, weil die frühesten Krankenregister von 1790 an keineswegs auf Vollständigkeit Anspruch machen könnten.“[5] Zolling wiederum gab sich mit diesem Befund nicht zufrieden und recherchierte, 23 Jahre nach Kuhs Untersuchungen, seinerseits „in der Irrenanstalt zu St. Georgen bei Bayreuth“ – aber auch er stieß ins Leere, da, wie er schrieb, „die Krankenregister erst mit 1821 beginnen und alle älteren Papiere 1871 vernichtet wurden.“ Die Wahrscheinlichkeit aber, Kleist hier zu finden, sei schon deshalb nicht groß, da die Bayreuther Anstalt nur für „kranke Landeskinder“ bestimmt gewesen sei (auch dies Information war falsch, denn die Akten wurden 1871 definitiv nicht vernichtet. Im Besitz des Bezirkskrankenhauses befinden sich heute noch einzelne Krankenakten, die bereits im Jahr 1812 beginnen, damit aber erst ein Jahr nach Kleists Tod, und auch die existierenden Standbücher ab 1808, also die Krankenregister, führen seinen Namen nicht auf).[6]

Weitere Zweifel kamen Zolling, als er über Hardenberg nachdachte. Zum einen habe der Kanzler bereits im Jahre 1800 sein Bayreuther Amt als leitender Minister der preußischen Provinz verlassen (tatsächlich war dies schon 1798 geschehen), obwohl auch hier der Hauch – aber eben nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, die Theorie belegen zu können: Hardenberg, so Christine Bartholomäus (vom Bayreuther Stadtarchiv), „hat Bayreuth ja schon 1798 verlassen und wirkte dann in Berlin, auch wenn er bis 1806, also bis zur französischen Besetzung, die Verwaltung der fränkischen Gebiete innehatte.“ Es erscheint der Archivarin unwahrscheinlich, dass Hardenberg „von einem Aufenthalt 1809 oder 1810 in der Irrenanstalt in Bayreuth etwas wusste, es sei denn, Direktor Langermann hat ihm persönlich davon berichtet, da Langermann nach dem Übergang an Bayern 1810 von Bayreuth nach Berlin zurückkehrte und dort Staatsrat war.“ Das hypothetische Aufenthaltsjahr 1800, das Zolling dann nennt, aber war – dies war Zollings zweiter Gegenbeweis – unmöglich, denn Kleist war 1800, als er nach Würzburg reiste, gesund gewesen. Dies beweise sein Briefwechsel mit seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge, und hier „z. B. seine Schilderung des Würzburger Irrenhauses“. Freilich könnte man heute einwenden, dass die Würzburger Reisebriefe nichts zum Rätsel dieser fränkischen Reise beitragen.

Zolling vermutete daraufhin, dass Kleist eventuell in der ersten Hälfte des Jahres 1804 oder, was Professor Tischer favorisierte, im Winter 1809/10, „wo der Dichter beidemale ganz verschollen war“, in Bayreuth war. Der Grund, warum das zweite Datum absurd ist, lag schon für Zolling auf der Hand: das Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg, entstanden im Frühjahr 1810, könne „unmöglich das Werk eines eben aus dem Irrenhause Kommenden sein“. Bliebe Ende 1803, Anfang 1804: die Rückreise von Paris nach Deutschland, aber diese Legende „spuke schon in Treitschkes Monographie (Historische und Politische Aufsätze Neue Folge II, Leipzig 1870) und ist dort ebenfalls auf die Quelle Kuhs zurückzuführen.“

Heinrich von Treitschke selbst aber, so abschließend Zolling, „teilt uns mit, dass er längst zu der Meinung gelangt, jene Notiz sei falsch, und dass er sie in einer neuen Ausgabe seiner Aufsätze weglassen werde.“ Man findet tatsächlich bei Treitschke[7] folgende Vermutung: „Von kundiger Seite wird mir erzählt, dass der Unglückliche wirklich einige Zeit in einem Irrenhause verbracht habe. Ich lasse die Tatsache dahingestellt; unglaublich ist sie keineswegs, denn in diesem reichen Geiste arbeiten dämonische Kräfte, die über die Enden des Menschlichen hinausgreifen, er schwankt zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild, zwischen dem Gott und dem Tier.“ Hinter dieser These steckt die problematische Deutung Kleists als eines permanent psychisch gefährdeten Mannes, also die Psychopathologisierung eines Ausnahmedichters, dem mit „normalen“ Maßstäben nicht beizukommen war und ist. Außerdem, so Christine Bartholomäus, hat es 1804 „die Irrenanstalt in der Form noch gar nicht gegeben, es war nur ein 'Tollhaus', erst im Februar 1805 erhielt der junge Arzt Johann Gottfried Langermann von Hardenberg den Auftrag, das Tollhaus in eine „psychische Heilanstalt für Geisteskranke“ umzuwandeln und wurde zu deren Direktor ernannt.“ Auch die Bezeichnung „Kreis-Irrenanstalt“, die Raumer verwendete, war, so die Stadtarchivarin, erst seit 1870 gebräuchlich, nachdem man in einen Neubau umgezogen war (aber dies ist im Vergleich zur kühnen Theorie nur eine terminologische Petitesse).

Wie man sieht, herrscht auch bei Zolling die Verwirrung der Daten, Orte und Quellen, die er nach bestem Gewissen auflöst, um schlussendlich zur Erkenntnis zu gelangen, dass mit vielen Beiträgern wenig Licht in die Bayreuther Frage kam.  Auch Sosias, der Diener des Amphitryon in Kleists gleichnamigen Stück (das im Februar 2011 in der Studiobühne Bayreuth in einer glänzenden Schwarzlichtaufführung seine Premiere erlebte), betritt ja mit einer Lampe die Szene, um sich alsbald im nächtlichen Dunkel dieses Stücks zu verirren. Der erfundene Bayreuther Aufenthalt des Dichters gehört nicht zu den Dunkelheiten seiner Biographie – aber die Mystifikation dieser Geschichte passt trefflich zu einem Dichter und seinem Leben, dessen biographische Einzelheiten nach wie vor nicht völlig am Tage liegen.

Damit war die Frage allerdings noch nicht ganz erledigt. Das Nachspiel, das den eigentlichen Fund präsentierte, folgte fast auf dem Fuße:

 

Eine freudige Überraschung

Und er war doch in Bayreuth

Wie man sich täuschen kann … dabei muss man nur genau hinschauen und die Quellen alle, alle durchsehen.

Es gilt also, eine falsche Information zu beseitigen. Man konnte kürzlich – wohlbegründet – lesen, dass Heinrich von Kleist, der einmal fälschlich mit Bayreuth in Verbindung gebracht wurde, niemals am Ort gewesen war. Diese Theorie wurde nach allen nur möglichen Seiten hin betrachtet, gewendet und auf die Wahrscheinlichkeit hin untersucht. Die Frage war: Gibt es irgendwelche Leerstellen in Kleists Biographie, in denen ein längerer Bayreuth-Aufenthalt möglich gewesen wäre? Die Antwort wurde skrupulös gefunden: Nein, Kleist hat niemals, wie es noch im 19. Jahrhundert kolportiert wurde, in der Bayreuther Irrenanstalt eingesessen.

Kurz darauf erhielt der Verfasser dieses Artikels eine kurze Mitteilung, abgesandt von Joachim Schultz. Es gäbe da eine Briefstelle … Tatsächlich: in einem langen Schreiben, den Kleist zwischen dem 13. und 18. September 1800 schrieb, können wir's lesen: er hatte auf seiner Reise, von Berlin über Reichenbach nach Würzburg fahrend, einige Briefe auf die Post gegeben und eines dieser Schreiben in – Bayreuth aufgegeben. Weißt Du was? Es ist möglich, daß grade über Bayreuth die Briefe so unglücklich gehen. Leider ist auch dieser Brief verschollen, auch findet sich sonst keine weitere Erwähnung der Stadt in den Briefen, im Werk. Neue Fragen keimen auf: Wie lange weilte Kleist hier? Übernachtete er, wie Goethe, wenigstens eine kurze Nacht am Ort? Trank er nur, aus der Postkutsche aussteigend, einen Kaffee und übergab seinen Brief? Wir wissen es nicht. Vermutlich hielt die Kutsche an der ehemaligen Postei, also an dem Platz, an dem später das Denkmal Jean Pauls errichtet wurde, der seinerzeit noch nicht in Bayreuth lebte. Kleist selbst war weit davon entfernt, ein berühmter oder gar berüchtigter Autor zu sein. Gerade hatte er die Familie Ghonorez, die spätere Familie Schroffenstein, entworfen, sich gerade inoffiziell mit Wilhelmine von Zenge verlobt, gerade das Studium abgebrochen. Er fuhr, zusammen mit Freund Ludwig von Brockes, nach Würzburg, aber bis heute ist umstritten, wieso er eigentlich nach Franken reiste. Gewiss nicht, um einige Briefe aufzugeben. Dass er zumindest einen in Bayreuth abgab und der Aufenthalt durch diese kleine, winzige Information gesichert ist, reicht natürlich nicht, um aus Bayreuth eine „Kleist-Stadt“ zu machen – aber gewiss, um eine falsche Information gern zurückzunehmen und die geistige Aura des Ortes um ein Kleines zu vermehren.

Bayreuth um 1800: So mag auch Kleist, aus der Postkutsche herausschauend, die Stadt erblickt haben.

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[1] Zumindest unterrichtet uns kein Dokument von einer möglichen Begegnung – eine einschränkende Bemerkung, die angesichts dieses längeren Eintrages vermutlich angebracht ist.

[2] Sie befand sich seit 1791 in einem Erweiterungsbau des ehemaligen Prinzessinnenhauses an der heutigen Bernecker Straße. Im ehemaligen „Irrenhaus“ im Prinzessinnenhaus wohnten seitdem die Aufseher (nach Auf den Spuren der Psychiatrie in Bayreuth. Ein historischer Überblick. Bearbeitet von Heike Götschel und Ekkehard Hübschmann. Bayreuth 1994).

[3] „Über diese Monate seines Lebens wissen wir so gut wie nichts“, heißt es 1958 auf Seite 100 in Curt Hohoffs Kleist-Monographie – der ersten Rowohlt-Monographie, die jemals erschien.

[4] Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte. Familie Schroffenstein. Familie Ghonorez. Berlin/ Stuttgart 1885 (Deutsche National-Litteratur, 149. Band), S. LXXXI.

[5] Nach freundlicher Auskunft von Dr. Maximilian Ettle (Historisches Archiv des Bezirkskrankenhauses) befindet sich dieses  Standbuch nicht mehr im Besitz des Historischen Archivs des Krankenhauses.

[6] Man kann, so Dr. Maximilian Ettle, schließen, „dass vorher keine systematischen Aufzeichnungen gemacht, bzw. archiviert wurden. Es liegen die Aufnahmebücher (Standbücher) ab 1808 vor. Kleist ist darin nicht aufgeführt. Das vorherige Aufnahmebuch haben wir nicht. Aber auch darin ist ja Kleist nicht aufgeführt. Nach all meinen Erfahrungen sowohl mit der aktuellen, als auch mit der historischen Psychiatrie, halte ich es für höchst unwahrscheinlich, dass ein Patient, der über mehrere Monate stationär untergebracht war, nicht in das Aufnahme- und Entlassungsbuch eingetragen wird. Kurz: Wenn Kleist nicht in das Standbuch eingetragen wurde, war er auch nicht da.“ Außerdem ist Zollings Information betr. der vernichteten Akten falsch: „Dagegen spricht“, so Ettle, „dass ja die wichtigsten Unterlagen, also Krankengeschichten und auch die Standbücher, neben anderen Dokumenten vorhanden sind“.

[7] Auf  Seite 663 der angegebenen Aufsatzsammlung. Stefan Zweig brachte noch 1925 in Der Kampf mit dem Dämon Kleist mit Bayreuth in Zusammenhang. „Fast immer ist er unterwegs. Von Berlin saust er mit der rollenden Postkutsche nach Dresden, ins Erzgebirge, nach Bayreuth, nach Chemnitz, plötzlich jagt es ihn nach Würzburg...“

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