„Rinnen“. Von Philip Krömer

Philip Krömer, geboren 1988 in Amberg, ist Schriftsteller und Kurator von literarischen Veranstaltungen und lebt in Erlangen. 2020 wurde ihm der Kulturpreis der Stadt Nürnberg zugesprochen, 2023 erhielt er das Aufenthaltsstipendium des Adalbert-Stifter-Vereins in Oberplan/Horní Planá.

Rinnen ist eine Geschichte über ein Eselsbegräbnis, eine Form der unehrenhaften Bestattung von Selbstmördern, wie sie im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit üblich waren. Die kurze Einleitung („Unboxing“), die in der Gegenwart spielt, wurde bereits im April 2022 in der Ausgabe 82 der Zeitschrift Am Erker abgedruckt, der Hauptteil der Geschichte ist bislang unveröffentlicht. Mit dem folgenden Text beteiligt sich Philip Krömer an „Neustart Freie Szene – Literatur“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung der Freien Szene in Bayern. Alle bisherigen Beiträge finden Sie HIER.

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I. Unboxing, 2022

Unten am Fluss hat sich ETWAS im Schilf verfangen. Es rollt im Wasser durch die knackenden Halme. Josh (sprich „Dschosch“) und Tamerlan (seine Eltern sind Historiker) drücken ihre Zigaretten aus und eilen hinunter ans Ufer. Lena, deren 15ter Geburtstag hier gefeiert wird, beobachtet, wie sie sich entfernen.

Ihre Angst, da könne sich jemand aus Langeweile heimlich von ihrer Party fortstehlen, ist unbegründet. Die Jugendlichen amüsieren sich prächtig, nüchtern ist keiner. Dennoch ruft sie den beiden Jungen hinterher: „Ey, wohin?“ – „Zum Fluss. Da ist WAS.“ Durch das Rufen aufmerksam geworden, folgt die gesamte, aus zwei Dutzend Jungen und Mädchen bestehende Geburtstagsgesellschaft Gastgeberin Lena in Richtung Ufer.

Josh, der vorsorglich seine Schuhe auf dem Trockenen abgestreift hat, denn die waren teuer, steht mit hochgekrempelten Hosenbeinen bis an die Knie im seichten Uferwasser. Tamerlan packt von der Böschung aus mit an, gemeinsam schieben sie das ETWAS aufs Trockene. Oder rollen es vielmehr. Es handelt sich um ein bauchiges Fass aus gebogenen Holzdauben und eisernen Reifen, wie sie es von der Kirchweih kennen.

Beim Versuch, es den abschüssigen Hang hinaufzustemmen, rutscht Tamerlan aus, schlittert über das feuchte Gras und tritt mit einem Fuß ins Wasser. Spätestens als er seinen eingeweichten Sneaker ausschüttet und die Socke auswringt, nimmt Lena alles Weitere mit dem Handy auf. Etwa wie Josh, mit dem Fass oben bei den übrigen Gästen angekommen, es unter großer Kraftanstrengung aufrichtet.

Es ist nicht leer, so viel ist klar. Er rüttelt daran, lehnt es vorsichtig auf die Seite. Der Inhalt schwappt nicht, es handelt sich also nicht um eine Flüssigkeit. „Schade“, ruft einer, „wenn’s was zu Saufen gewesen wär’, ich hätt’s probiert.“ Stattdessen vernehmen die jungen Menschen bei jeder Bewegung des Fasses ein Poltern, als kippe ETWAS darin hin und her. „Sieht alt aus“, meint Lena, das Gesicht hinter dem Handydisplay verborgen, von wo sie die Videoaufzeichnung kontrolliert.

Tamerlan, inzwischen barfuß wie sein Freund Josh, tritt seitlich ins Bild. In der für die Feier gemieteten Hütte hat er ein Stemmeisen gefunden. Jemand aktiviert auf seinem Handy die Taschenlampenfunktion, der Strahl trifft Tamerlan seitlich, wie er triumphierend das Werkzeug emporreckt. „Wollen wir aufmachen?“

 

II. Rinnen, ca. 600 Jahre früher

Trinkt, trinkt! Zum Eselsbegräbnis meines Bruders sind nicht mehr als vier Gäste erschienen, und auch die nur widerwillig. Diesen Freundschaftsdienst hätten sie ihm lieber nicht erwiesen. Wenn wir schnell austrinken, sind wir vor seiner Wiederkehr gefeit! Ich rüttle am Fass, lehne es auf eine Seite und erkenne Schwappen des Weins: da sind keine fünf Liter mehr drin, die packen wir, oder nicht? Ins Fass passen zwei Lägel, und als wir vor zwei Stunden begannen, war es noch halbvoll. Nüchtern ist hier keiner mehr, die meisten haben sich bereits erbrochen.

Dem einen, Böttcher von Beruf, versprach ich, die Schulden, die er beim Bruder hatte, zu vergessen, der zweite bekommt für seine Mithilfe später ein Kalb, der dritte ist ein starker Trinker und war am leichtesten zu überzeugen. Der vierte ist der Abdecker, er ist dienstlich hier und wird später noch gebraucht.

Die Magd hatte meinen Bruder am Morgen im Stall entdeckt. Nachdem wir gestern zu Bett gegangen waren, musste er noch einmal aufgestanden sein, um sich dort am mittleren Dachträger aufzuhängen, inmitten des Viehs. Mit Hilfe des Abdeckers, der bei Gelegenheiten wie dieser gerufen wird, schnitt ich ihn herunter, wobei ich darauf achtete, seinen Leichnam nicht zu berühren. Der Abdecker hatte keine Probleme damit. Er trennte dem Toten die Schlinge vom Hals und drückte ihm sogar die herausgetretene Zunge zurück in den Mundraum, sodass mein Bruder fast aussah wie der Mensch, der er gestern noch gewesen war.

Über das Warum war nicht zu grübeln: Von der Traurigkeit, die ihm nicht auszutreiben war, hatten die meisten gehört. Wir sagten stets, du hast allen Grund zur Freude, du bist gesund und fleißig, die Frau, die dich zurückweist, hätte dir eh nur dumme Kinder geschenkt. Freu dich, dass du kein anderer bist. Sie war ihm aber nicht auszutreiben, und dass es uns nicht gelang, ihn umzustimmen … weiß Gott, wir haben es redlich versucht.

An Fürsorge ließ er es nie vermissen. Er besaß sogar den Anstand, sich nicht im Wohnhaus zu erhängen. Noch anständiger wäre freilich gewesen, er wäre gleich selbst ins Wasser gegangen. Dass er nicht schwimmen konnte, war ebenfalls bekannt. Zwei Kilometer stromabwärts ist die Donau tief und die Strömung stark, das wäre eine ausgemachte Sache gewesen. Er aber wollte lieber bei seinen Kühen hängen.

Endlich gluckert nichts mehr im Fass, das ich beim Prüfen fast umreiße. Draußen im Hof steht Mutter über den Toten gebeugt und zieht sich eilig zurück, als wir uns torkelnd nähern. Wir schlagen dem Fass den Boden aus, und der Abdecker kugelt meinem Bruder die Schultern aus, bricht ihm mit dem Hammer die Glieder und den Hals, damit er in dessen Innerem Platz findet. Ich benötige alle Selbstbeherrschung, nicht hinzusehen.

Das Eselsbegräbnis meines Bruders muss abgeschlossen sein, bevor seine Tat dem Henker gemeldet wird und der kommt, um ihm die Kleider vom Leib zu schneiden und ihn auf einer Kuhhaut nackt durchs Dorf zu schleifen, ihn auf dem Richtplatz noch einmal aufzuhängen, allerdings verkehrt herum, wie das Schlachtvieh beim Ausbluten. Eine Strafe, wie sie eigentlich Mördern und Dieben vorbehalten ist, die mit ihrem Selbstmord ihrer gerechten Strafe zuvorkommen wollten. Unser Henker aber legt seine Befugnisse weit aus und maßt sich an, strenger zu urteilen, als es das Kirchenrecht geböte. Und der feige Pfarrer lässt ihn gewähren.

Der Böttcher wischt sich das Erbrochene vom Kinn, all der schöne Wein, murmelt er, bringt den Fassboden wieder an und bemüht sich, ihn mit unpräzisen Hammerschlägen luftdicht zu verschließen, bevor wir das Fass hinunter zum Fluss rollen und in die Fluten stoßen. Es hüpft auf dem Wasser wie ein Korken. Mehrmals drücken wir es vom Ufer weg, wohin es stets zurücktreibt, bis wir es weit genug in die Flussmitte bugsiert haben, dass die Strömung es mit sich fortzieht.

Als wollte er zu uns zurück, sagt der Trinker, der Einzige, der sich noch so deutlich artikulieren kann. Als hätte er uns noch nicht Sorgen genug bereitet.

Auf dem Rückweg kommt uns der Nachbarsjunge entgegen, der Henker sei auf dem Weg. Zurück am Hof werden wir bereits erwartet. Der Mann ist uns nicht willkommen. Er und der Abdecker begrüßen sich. Die beiden unterscheiden sich nur in Nuancen der Ehrlosigkeit. Wir aber spucken bei seinem Anblick aus. Auch zum Trinken werden wir ihm nichts anbieten, es war sowieso unser letztes Fass Wein, das wir, weil an eine richtige Totenfeier nicht zu denken und kein anderes zur Hand war, fürs Rinnen mühevoll geleert haben.

Die Gäste, gebetene wie ungebetene, verlassen den Hof. Jetzt, da die Last von mir abfällt und der verdorbene Leichnam entsorgt ist, verschafft sich mein unterdrückter Rausch mit aller Wucht Raum. Ich kann mich gerade noch in die Stube schleppen. Am Kamin ist es am wärmsten. Dort sacke ich hin und liege wie eine träge Katze vor den Flammen.

Und bei den Ausbesserungsarbeiten am Dach, die spätestens im Herbst anstehen. Und auf dem Feld. Und im Stall. Da wird er mir auch fehlen. Mir kommt ein Schwall Wein hoch, den ihn tapfer herunterschlucke. Weiß Gott, ein schweres Tagewerk, ich tat mein Bestes.

 

III. Aus Dr. Paul Geigers „Die Behandlung der Selbstmörder im deutschen Brauch“, Basel 1926

In den Nachrichten aus dem Mittelalter und der neueren Zeit erkennen wir nun nicht nur, dass der Selbstmörder von Staats- und Gerichtswegen wie der schlimmste Verbrecher behandelt wird, sondern wir bemerken auch klar, dass die Anschauungen des Volkes über diese Todesart sich gründlich geändert haben, und dass aus der ehemaligen Gleichgültigkeit eine Abscheu vor der Tat und eine Furcht vor dem Toten entstanden ist. Hier sollen nur wenige Angaben dies beweisen: Die Obrigkeit lässt die Leiche durch den Henker zum Richtplatz schleifen, dort aufhängen, verbrennen oder verscharren. Die Leiche wird nicht durch die Tür, sondern durch das Fenster oder ein Loch in der Wand aus dem Hause geschafft. Manchmal wird sie ins Wasser geworfen oder auf einem Kreuzweg begraben, jedenfalls nicht in geweihter Erde. Der Tote wird als Gespenst gefürchtet, man glaubt, bei seinem Tod entstehe Sturm und Unwetter.

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