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Kultur trotz Corona: „Aschaffenburger Gedichte“. Von Lioba Happel

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Schloss Johannisburg von Südwesten

Lioba Happel (*1957 in Aschaffenburg) studierte Sozialpädagogik, Germanistik und Hispanistik und lebt in Berlin und Lausanne. Ihr Werk umfasst u.a. die Erzählungen Ein Hut wie Saturn (1991), Die Feindin (2014), dement (2015), LUCY oder Warum sind die Menschen so komische Leute (2007) sowie Gedichtbände, darunter Grüne Nachmittage (1989), Der Schlaf überm Eis (1995) und land ohne land (2009). Neben ihrer umfassenden schriftstellerischen Tätigkeit leitet Lioba Happel Deutschkurse, leistet Unterstützungs- und Theaterarbeit an Schulen, betreut Demenzkranke und gibt Stadtführungen. Zuletzt erschien ihr Roman POMMFRITZ aus der Hölle bei pudelundpinscher (2021), in dem der Ich-Erzähler Pommfritz aus dem Gefängnis in 23 Briefen an den Vater über den kannibalistischen Mord an seiner eigenen Mutter schreibt. 2021 wurde Lioba Happel für ihr Werk mit dem Alice Salomon Poetik Preis der ASH Berlin ausgezeichnet.

Mit dem folgenden unveröffentlichten Gedichtzyklus über ihre Heimatstadt Aschaffenburg beteiligt sich Lioba Happel an der Fortsetzung von Kultur trotz Corona“, einem Projekt des Literaturportals Bayern zur Unterstützung bayerischer Literaturschaffender. Alle bisherigen Beiträge der Reihe finden Sie HIER.

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Aschaffenburger Gedichte

 

1. friert nicht hier

unter der brücke bückt sich der fluss. und eine wolke.
bleiern und leicht sind sie nicht. stehen die dinge hier
nicht. an stupsend. sind gitter unter meiner hand sind
gravierende. sind stunden gewesen in dieser stadt. ein
geschlossenes schloß ein bröckelnder schoß ein mundloser
mund. eine brückenheilige die einen alten mantel anhat …

 

2. was ausgeschildert ist         

zwischen häusern aus gegossenem sand
sahen wir taufrisch geborene wie hinkende 

mit koffern verließen sie die stadt und staunen
und verrat unter freunden am hals die

herz pest verkratzter masken weihnachtsmarkt
„wir nicht!“ knattert es auf des turmes fahne

wo im dampf im schatten riss woll'n wissen wir in
welchen ecken diese einstmals so zerbombte stadt sich

nicht beschädigt zeigt ob dieser schlossplatz etwas birgt …

 

3. flattert dort frevel's fahne

das erste haus einmal flatterte es ziemlich
kälte natürlich der heiligen eis am fenster

kratzte am frühen morgen ein karren heran
darauf margarete die wirtin die aus dem karpfen

heraus muss „druff, druff musse!“ ihr nachbar
unterzeichnet später den westfälischen frieden

jetzt aber dass sie erstens verbrannt
dann aber zweitens wie gewünscht gefoltert

weil sie's zugibt geköpft wird ihr letzter hauch
seufzen aus jedwedem mund eine fremde

die hier vorbei muss richtung kleine
metzgersgasse von weitem schon seh ich's … 

 

4. der armen elsbeth

sturmschräg vornüber
einem schrulligen stämmchen verbunden

der blutrote gürtel das abgeschnittene haar im
heimat museum das zu hat

sicherlich auch zwei im uterus
verwachsene föten verschlungene

schwestern die kurzerhand wegen immenser
eingeredeter irrleben vielleicht auch wegen

niemals gezeugter kinder mehr als zerfetzt
verraten verkauft sicherlich darin aufbewahrt

wie auch ein schächtelchen asche
wie auch ein tropfen todesschweiß …

 

5. die anderen sind gefallen im krieg

nacht wird's. das pompejanum bekommt's mit der angst.
finsternis in den dingen. Ein nepomuk ist noch auf.

gewiss hält er wacht. die anderen sind aus des schlosses fahnen
in spätester sonne gestürzt in die verhakten kreuze im

nicht mehr fließenden. darin warten
die deportierten die hier vorbeiliefen.

umnachtet nun steht er. der letzte derer
die hier vor vielen jahren ihre brücke verloren haben …

 

6. grünewald

alles was vollbracht wurde in aller zunft in aller zukunft
in den lippen des toten bauscht es sich
im halbdunkel der stiftskirche ist das blut
nein leinen setzt die segel unter der hand des malers …

 

7. madonna in der sandkirche

mehr hat die hier als poesie / mehr trägt sie als gewinn / verlust
hilf uns / polnische mission in dieser kirche / bitt euch
usambara alpen veilchen / bitt euch / wojtylas
klöppel decke / bitt euch / schuhkarton in der ecke
stehengebliebener /  bitt euch kniender vielleicht enkel
eines zwangsarbeiters / bitt dich wallfahrtsgenossin

der zauberbude geschlossene streiche wieder zu öffnen auch
den glühweinlosen advent im shut down / bitt euch um einen
tropfen erinnerns des leidens wie übels in dieser kirche / bitt euch
inmitten der regenwälder aus barockgold / bitt euch im namen der
toten einstmals blutüberströmten in den verließen nebenan
bitt euch dass euch die gabe der hilfe bitt euch trotz allem

endlich in baldiger zukunft für immer und ewig zuteilwerde …

 

8. schlingensiefs fenster

durchsetzt mit blockaden
blockierungen ein system der

vernetzten wege ampeln
vorgärten aus plastik

das elternhaus meiner mutter
das verkaufte haus meines vaters

das verratene haus meiner großmutter
gefühlvolle geranien traurigkeiten

der nicht wiederkehrenden
umdrehmöglichkeiten

die kellerlager sind geräumt
die züge sind losgefahren

keine sorge bleibt übrig
ich stehe und sacke in die erde

ich bin angekommen
niemand hat mir gesagt wie das geht aber …

 

Ich danke dem Kulturamt Aschaffenburg, besonders Herrn Burkard Fleckenstein, für einen unvergesslichen Aufenthalt im November 2020 in Aschaffenburg, meiner Geburtsstadt, die ich bis dahin kaum kannte. Ich habe dort für ein Buch über meine Großmutter aus dem Spessart recherchiert, an dem ich im Moment schreibe. Die acht Aschaffenburger Gedichte, die ich danach verfasst habe, werden möglicherweise in den Anhang des Buches über meine Großmutter gestellt. Auch dem freundlichen Hotel „Goldener Karpfen“ möchte ich sehr danken. – Lioba Happel