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30.01.2013, 13:42 Uhr
Radek Fridrich
Text & Debatte
Im Juli 2012 trafen sich vier tschechische und vier deutsche AutorInnen in Lidice, um den Gedächtnis-Ort kennenzulernen – und darüber zu schreiben. Die Essays erscheinen in loser Folge im Blog des Literaturportals Bayern.

[Lidice-Austausch]: Gelände des Gedenkens

    I.

    Vorüber ziehen lassen, vergessen!

    Wir kehren zurück an den Tatort.
    Des Nachts erschien Janus,
    mit Gottes Meißel ins Land gehauen
    sah er in zweierlei Richtung.
    Vor sich keine Zukunft,
    hinter sich einen bepissten Hundeknochen.

    Juni – das ist der grausamste Monat,
    komm her zu mir, näher,
    hast du gesagt gegen elf in der Nacht

    Weißt du noch, der klagende Wind,
    der uns zu Boden riss.
    Da erstmals hörte ich eine Frau so heulen,
    die Bäume neigten sich in dieser rasend aschenen Nacht
    mit stetem Hundegebell.

    Wie kann ich je in die Federn kriechen?
    Wie finde ich je wieder ruhigen Schlaf?
    Im Kopf schneiden Kinderstimmen, unentwegt, flehentlich:
    Schickt uns wenigstens von den Rinden für die Karnickel,
    wir haben so Hunger!

    Wie kann ich das je vergessen?
    Ich heule!
    einsam,
    mit inwärts gerichteter Stimme.

    Jetzt gilt es die Segel zu setzen,
    an den Klippen vorbei hinauszustechen in weite See
    Es gilt auf den Wind zu lauschen
    Es ist höchste Zeit!

 

    II.

    Die kurzen Tage im Februar, morgens der Schienenbus
    zwischen Akazien auf dem Hang gegenüber
    ich wiegte im Arm meinen erstgeborenen Sohn,
    der da heißt:  
    Welcher Jesus trägt.

    Kehren wir an den Tatort zurück?

    Ein Kätzchen huschte durchs Haus, als die deutschen Besitzer
    die Betonböden gossen.
    Huschte, wie´s scheint, durch den Keller,
    im Gang zur Waschküche sind winzige Tapser,
    der Beton im Hauptgang blieb unberührt,
    noch immer sind kleine Tatzen auf den Stufen zum Speicher.

    War es ein Murr, ein Schwarzchen oder Schneeweißchen?
    Ein maunzender Kater? Eine schnurrende Mieze?
    Katzen haben bei uns im Haus nicht mehr gelebt.  

    Du hast ihn gestillt und ich habe deine Schultern geküsst.

    Ein Affengesicht sieht wie ein Neugeborenes aus.
    Das letzte Mal, sagt er, warst du grad schwanger,
    als ich dich sah, steckt sich eine Zigarette an.
    Juni – das ist der grausamste Monat,
    er gebiert Rosen aus toter Erde,
    mischt Sehnsucht in die Erinnerung.


 
    III.
    
    Meine Großmutter, Margit Fischer,
    hat im Krieg Schokolade über die Grenze geschmuggelt.
    Eigens dafür nähte die Mutter ihr einen Unterrock
    voller versteckter Seitentaschen.
    Die Finanzer schnappten sie oft und sagten: „Geh nach Haus!“
    „In Böhmen bekommen wir aber Brot dafür“, entgegnete sie.
    Von einem bösen Menschen nimmt auch ein Hund keine Pelle.
    In der Augusthitze ist ihr die Schokolade geschmolzen,
    züngelte dunkel über die sonnengebräunten Waden.
    Vielleicht hat sie gescheißt! riefen die Kinder im Dorf.
    Diese Schokolade – ich würde sie heute lecken.

    Nebel gebiert uns wie schwarzweiße Gestalten,
    wir kehren zurück an den Tatort.
    Verstehst du, verstehst du mich?

    Wo suchst du, sehniges Herz,
    wenn ich mit Teufeln auf Mühlrädern tanze,
    wenn ich mit Eseln im Göpel die Zauberlandschaft in Drehung versetze,
    wenn ich mit Dämonen Feuer spucke in Felsenklüfte,
    wenn ich mit Schmugglern über die Grenze hinke,
    wenn ich mit Wilderern verwunschene Kugeln schieße auf Hirsche mit Goldgeweih,
    wenn ich mit Pilgern von einst auf Rainen entschlummre und hundert Jahre später erwache,
    wenn ich mit Trödlern über die Märkte ziehe, Bänder verkaufe, Bänderchen…



    IV.
    
    Die Frau mit dem Katzengesicht
    hockt nieder am sumpfigen Ufer des Bachs
    legt zärtlich den ovalen Laib zwischen die Kiesel
    schürft mit dem Messerchen in der Krume, nach einigen Stunden
    reicht sie mir eine Miniatur, eine Jungfrau Maria mit Jesus im Arm,
    gemeinsam stellen wir sie in die kleine Nische im Fels.
    Diese kleine Opfergabe
    für uns
    für die gemarterten Kinder
    für alles, was keiner vergessen kann,
    und die Ameisen rücken vor zum Sturm…
 
    V.

    Mit Schalmeienklang kannst du den Walfisch locken.

    Stille mich, Mutter Nacht!
    Stich, schwarzer Dorn!
    Dein gabelastiges Wesen
    liebkost meine Knochen…
    Wohin, Tropfengewordene, bist du entronnen?
    Sternenschrift las ich und enträtselte dein Gesicht.

    In den Wäldern riefs:
    Leuchtkäfer! Irrlicht!

    Belebende Einsamkeit.
    Safranfarbene Kiefernhände, abgehackt, liegen
    wie Prothesen auf Igelstacheln.
    Kinderhände des Waldes?
    Flehende Hände, abgefetzt, im Gebet?
    Starrende Hände.



    VI.
    
    Mir erschien ein erstarrter Mann,
    in der Stimme etwas mehr Nachdruck.
    Mein Blick fiel auf die hochgekrempelten Ärmel,
    die knöchernen, fleckigen Hände,
    er habe durchs Gemäuer gesehen,  
    vom andern Dorf aus, was vor sich ging in den niedrigen Häusern da drüben.
    Da drüben war schließlich?
    Lidice.

    Er sprach stet und ständig mit starr geweiteten Augen,
    sie sind nur sichtbar im Dunkel.

    Szene 1: Uniformierter Mann drischt Mädchen mit Lederpeitsche  
    Szene 2: Mutter betend im Nebenraum
    Szene 3: Gefolterter Greis heult durchs graue Gestrüpp seines Barts zum Mond
    Szene 4: Angstgroße Kinderaugen starren ins Leere
    Szene 5: Hände fesseln Frau an die Kirchentür.

    Sein eigner Schmerz floss in eins mit dem fremden,
    in den Teppich klagte er eine große Kolatsche:   
    Er flüstert mir zu wie im Traum:  
    Rangier, Geleise, Schwelle,
    Rapier, Gelände, Himmel.
 
    

    VII.
    
    Lieber Freund,
    als ich geboren wurde,
    setzte mein Trugbild sich auf die Wiege.   
    Trefft ihr es zufällig mitten im Dorf,
    seht ihr die eigentümlich
    markante Erscheinung.
    In Zeiten der Rinderpest hängt eine schwere Glocke daran,
    das Hinterteil ist ein kieniger Kiefernstumpf.

    Halte den Atem an!

    Beschwörung am Rand des Alls:
    Die Rabenmutterliebe,
    die ich mit Butter liebe.



    IX.
    
    Auf einmal war ich entsetzlich alt,
    unter der Haut schienen die Knochen durch.
    In der Nacht kam zu mir
    eine Frau mit flächigen Wangen,
    braunhaarig, wüthüftig, augenlos.

    Sie, die lebende sehende Katzen des Gedenkens gebiert,
    und die Lider der Realität verschließt.  
    Sie, die deinem Weg leuchtet wie eine Kerze.
    Sie, der ich Taglieder sang,
    in ihren Armen gefangen wie eine Fliege im Fänger,
    mit einem großen schwimmenden Fisch an der Seite,
    in seinen Schuppen sah ich die Spiegelung ferner Ereignisse  
    und fand mich plötzlich am Rand eines lohenden Dorfs…

Deutsch von Kristina Kallert

 

Der Dichter, Publizist und Übersetzer Radek Fridrich wurde am 1. Dezember 1968 in Děčín geboren, wo er bis heute lebt. Er studierte an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem Bohemistik und Germanistik und arbeitet dort inzwischen als Hochschullehrer.

Seit seinem ersten Gedichtband „V zahradě Bredovských“ („In Bredas Garten“, 1999) und später indem Gedichtzyklus „Erzherz“ bezieht Fridrich die starke Verbundenheit mit der nordböhmischen Landschaft, mit ihren Mythen und der tschechisch-deutschen Geschichte ein, die er  ständig festzuhalten, zu vergegenwärtigen und mit neuem Leben zu erfüllen versucht. Der Band „Molchloch“ breitet vor dem Leser den bislang weitesten Fächer der Poetik des Autors mit sich abwechselnden sprachlichen und stilistischen Ebenen aus: Neben den verschlossenen, physisch fast naturalistischen, expressiven Texten finden wir im Buch Tagebucheintragungen und Traumaufzeichnungen, Textvariationen und Beschwörungen des serbischen Dichters Vasko Popa. Für seine Sammlung „Krooa krooa (2011) wurde Radek Fridrich mit dem renommierten tschechischen Literaturpreis Magnesia Literata 2012 in der Sparte Poesie ausgezeichnet.