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Dagmar Leupold über den Brexit und die Verantwortung von Kunst und Kultur für Europa

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Brexit-Wagen auf dem Düsseldorfer Karneval

Dagmar Leupold hat für ihr schriftstellerisches Werk etliche Auszeichnungen erhalten, darunter den Tukan-Preis für den Roman Unter der Hand. Sie leitet das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen. Ihr letzter Roman Die Witwen war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dagmar Leupold lebt in München. Ende August erscheint ihr neuer Roman Lavinia.

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Vor der Frankfurter Börse stehen zwei kolossale Tierplastiken: Nein, wahrlich nicht Ochs und Esel. Auch wenn es hier gleichfalls um eine Art Anbetung geht – aber es ist keine innige, die ein Wunder bestaunt, sondern eine höchst kompetitive zweier Rivalen um die Deutungshoheit eines Geschehens. Das durchaus für weltbewegend gehalten wird. Hier werden, von einem Bullen und einem Bären, die Aktienkurse auf die Hörner genommen – hausse –, respektive mit den Tatzen getreten – baisse.

Und dann ist da noch das Schwein: In Robert Menasses Roman Die Hauptstadt – unlängst Gegenstand einer Debatte über historische Wahrheit und Fiktion –, rennt ein Ferkel mitten durch Brüssel, Europas Schaltzentrale. Die Auslegung von Bulle und Bär als Symbole für Auf- und Abschwung mag für Börsianer gelten. Meine Deutung wäre eine andere: Wir stehen nach dem Brexit-Votum wie der Ochs vorm Berge – das Referendum, eingebrockt von einem opportunistischen, kurzsichtigen Politiker, ein Bärendienst an Europa. Und das Schwein? Für nochmal Schwein gehabt? Oder, da es ausgebüxt ist, für den Brexit? Ist es Chiffre für das Joch EU? Oder für Bewegungsfreiheit in den (noch) 28 Mitgliedsstaaten? Mal sehen.

Der Begriff Europa kennt zwei Herleitungen: Die eine, in ihr tritt unser Bulle wieder auf, stammt aus der griechischen Mythologie, der zu Folge die Tochter des phönizischen Königs Agenor namens Europa das Verlangen des unersättlichen Erotomanen Zeus, oberster olympischer Gott, erregte und von diesem in Stiergestalt – damit die eifersüchtige Gattin Hera nichts mitbekam – auf die Insel Kreta entführt wurde. Das nach der Entführten benannte, deutlich über Kreta hinausgehende Liebesnest – wir müssen olympische Maßstäbe anlegen – wäre demnach der Erdteil, der sich als einer von sieben Kontinenten über ein Fünftel der eurasischen Landmasse erstreckt: Europa. Kontinent, das sei nebenbei angemerkt, bedeutet eigentlich Zusammenhalt.

 

Europa und der Stier (Terrakotta-Gruppe aus Athen, um 470 v. Chr., Staatliche Antikensammlungen München)

 

Die zweite Herleitung ist wortgeschichtlich. Nach ihr stammt der Begriff Europa vom phönizischen erob beziehungsweise vom griechischen erebos ab. Das bedeutet dunkel oder Abend, bezeichnet also den Weltteil, in dem die Sonne untergeht, das Abendland.

Was den Brexit betrifft, befinden wir uns seit knapp drei Jahren im Dauermodus des Vorabends. Das Vorabendprogramm, wir wissen es, zeichnet sich nicht gerade allzu oft durch tief- oder scharfsinnige Beiträge aus, nein, gesendet werden vielmehr mit Vorliebe Soaps, zu Deutsch: Seifenopern. An dieser Konvention halten die Drehbuchautoren und Regisseure der Posse „To stay or not to stay“ eisern fest. Vielleicht würde es helfen, wenn sie, zur Erweiterung des Blicks, den Besuch einer Sternwarte planen würden. Wie einst Joseph Haydn, der im Vorfeld der Komposition seines Oratoriums Die Schöpfung – es sind die ausgehenden 90er Jahre des 18. Jahrhunderts – in London die Sternwarte des ersten Oboisten im Londoner Orchester, William Herschel, aufsuchte: Haydn war tief bewegt vom durchs Teleskop bestaunten und bestirnten Firmament und soll noch Stunden danach „so groß … so weit“ gemurmelt haben. Eine Zeile, die im Libretto, das Gottfried van Swieten eng angelehnt an John Miltons Paradise Lost verfasste, im innigen Duett Adams und Evas aufgenommen wurde: Die Welt so groß, so wunderbar.

Am vierten Tag der Schöpfung treten dann in vollem Glanze Sonne, Mond und Sterne auf; die Erzengel Gabriel, Uriel und Raphael jubeln: In alle Welt ergeht das Wort, / jedem Ohre klingend, keiner Zunge fremd.

Man könnte, den historischen freimaurerischen Kontext hintanstellend und auf unser Thema bezogen, sagen: Hier entspinnt sich eine wunderbare Vision – die eines Europas in der dritten Bedeutung des Wortes:  Die Weitsichtige. Mit Weitsicht ist die Einsicht verbunden, dass gespaltene Zungen nicht klingen, sondern kakophonisch plärren. Das Wort, das in alle Welt ergeht, ist lexikalisch keiner bestimmten Sprache zuzuordnen, sondern ist Zusammenklang, Konzert, Akkord, mal tonal, mal atonal. Zum Verständnis dieser Sprache brauchen wir keine Übersetzung, wir verstehen gewissermaßen osmotisch: die trennenden Grenzen sind in diesem Fall weder aus Stein und Stahl noch aus Stacheldraht, sondern eine durchlässige Membran.

Vor einiger Zeit erreichte mich per E-mail ein Aktionsaufruf des Baden-Württembergischen Städtetags, meine (Sing-)Stimme für Europa zu erheben: nämlich Freude schöner Götterfunken anzustimmen, aufzunehmen und ins Netz zu stellen. Das ist ein bisschen albern und ein bisschen naiv, und die musikalische Qualität des Votums wird vermutlich äußerst dürftig ausfallen, aber die Initiative illustriert trefflich das Chorische des Unterfangens Europa.

Die mittlerweile reichlich kommerzialisierte, populäre Variante der Stimmerhebung gibt es in Gestalt des Eurovision Song Contests bereits seit 1956, ausgerichtet von der EBU, der Europäischen Rundfunkunion. Aber Harmonie kann nicht verordnet werden, und Wohlklang darf keinesfalls der Zuckerguss auf schrillen Misstönen und sozialen Verwerfungen sein. Die Auseinandersetzung um den diesjährigen ukrainischen Beitrag zum Song Contest – der Sängerin wird zu große Nähe zu Russland vorgeworfen – zeigt, dass das Politische und Strategische auch in Bereiche eindringt, die als unpolitisch gelten, wie zum Beispiel der (durch und durch kommerzialisierte) Unterhaltungsbereich. Die ukrainische Sängerin Maruv hat für sich die Konsequenz daraus gezogen und ihren Auftritt in Tel Aviv, dem diesjährigen Austragungsort, abgesagt.

Das sollten Kulturschaffende, Bildungsbeauftragte und Künstler, überhaupt alle Bürgerinnen und Bürger, finde ich, gerade nicht: Absagen und Abgesänge gibt es zuhauf. Das Mittel der Wahl derzeitiger Politik – nicht nur in der EU –, ist immer öfter die Disruption, der Bruch, die Zerstörung. Der Brexit ist dafür das eindrücklichste Beispiel. Aber auch diesseits des Ärmelkanals werden Verträge aufgekündigt, Vereinbarungen ignoriert, Richter ohne rechtliche Grundlage in den Ruhestand versetzt, Gesetze per Handstreich auf den jeweiligen Machtinhaber zugeschnitten. Das entspricht dem binären, sprunghaften Code des Digitalen: 0 1 0 1. Es kennt keine Kontinuität, keine Entwicklung und keine Geschichte, sondern nur die Mechanik der Digits.

Kultur und Kunst dagegen sind einem anderen Code verpflichtet: dem der Kontinuität und wechselnden Spannung, altmodisch gesagt: dem Analogen. (Wobei damit keinesfalls gesagt sein soll, dass die Künste vom Digitalen nicht auch profitieren. Aber das ist ein anderes Paar Schuhe.) Die Kontinuität ist diskursiv, die wechselnde Spannung sorgt für Korrektive. Wir, die Künstler und Kulturschaffenden, sind im besonderen Maße aufgerufen, die Esperanto-Qualität von Kunstwerken und Bildungsangeboten – keiner Zunge fremd – offensiv einzusetzen und zur Darstellung zu bringen, als Vermittler, als Störenfriede, als Quer-, Frei- und Mitdenker.

Wir sollten ein Europa vertreten und verteidigen, welches als Kulturraum verstanden wird, auch wenn, vielmehr gerade weil es als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde und im aktuellen Kürzel EU nicht aufgehen sollte. Wir sollten den echten Lobbyisten, die die Hand nur ausstrecken, wenn eine andere sie wäscht, Konkurrenz machen, als Lobbyisten, die für ein Vereinigtes (nicht unbedingt in allen Hinsichten einiges) Europa eintreten, das sich als lebendiges Zentrum der vielbeschworenen Wertegemeinschaft in der Verantwortung sieht – aber nicht zentralistisch sein will, mit dem Wasserkopf Brüssel und dem Kunstherz Schengen. Eine Wertegemeinschaft ist kein abgesteckter Claim, sondern ein dynamisches, vitales, gefährdetes, immer zu hinterfragendes, zu erneuerndes und zu pflegendes Gebilde.

Pflege – da sind wir erneut bei der Kultur. Das heutige Europa ist als EU überwölbt vom neoliberalen Primat des Ökonomischen. Die Weichen dafür wurden vor vierzig Jahren gestellt, wie man in der profunden Studie Zeitenwende. 1979 des Historikers Frank Bösch eindrucksvoll nachlesen kann. Aber unter unseren Städten, Ackerflächen, zersiedelten Gewerbegebieten, ausgedehnten Wäldern, Seen, Flüssen und Bergen, im ständigen Hautkontakt mit uns, liegen die Ermordeten und die Toten zweier Weltkriege, bei jeder Großbaustelle gibt es Bombenalarm und kommt es zu einer Evakuierung der umliegenden Siedlungen, in unseren Meeren (Außengrenzen!) ertrinken Abertausende auf der Flucht.

 

Flüchtlingsboot aus Somalia

 

Soll Nabokov, alias Pnin, mit seiner pessimistischen Einschätzung, dass Humanität und Humanismus erst als Humus zur wahren Vollendung finden, also dann, wenn wir alle zu Asche und Staub zerfallen, Recht haben, Recht behalten? Oder können wir Künstler, Kulturschaffenden, Bildungsbeauftragten in der Wirklichkeit des heutigen Europas durch unsere Literatur, unsere Filme, Theaterstücke, Schulen, Volkshochschulen und Universitäten eine lebendige Kontinuität, einen lebendigen Austausch bewerkstelligen? Der die Dichotomien überwindet – der Toten und der Lebenden, der Einheimischen und der Geflüchteten, der Mächtigen und der Ohnmächtigen?

Können wir die Gesellschaften, in deren Mitte wir wirken, kritisch begleiten und beleuchten? Kann das in einem politischen Europa, das im Begriff ist, Ego-Zentren auszubilden, in alte, verheerende Zeiten nationalistischer Partikularinteressen zurückzufallen, demagogisch aufzurüsten, gelingen? Einem Europa, in dem die Beschwörungen (außer sonntags, da geht es auch um Werte) meist der EU als Währungs- und Handelsunion und als Wettbewerber im globalen ökonomischen Kontext gelten? In einem Europa, in einer Welt, in der das politische Mittel der Wahl, wie ausgeführt, immer öfter die Disruption ist? Und Abbrüche folglich als Aufbruch verkauft werden? In einer Welt, in der, bei allem Segensreichen, das die Möglichkeit der Vernetzung zu bieten hat, die Einladung zur Wortmeldung allzu oft als Aufforderung zur Selbstermächtigung verstanden wird? Insbesondere in den sozialen Medien verleitet die Pseudo-Teilhabe zum Pöbeln statt zum mündigen Diskurs, und das Modell der Repräsentation, wesentlich für parlamentarische Demokratien, wird klammheimlich ausgehöhlt.

In einem als Kulturraum gedachten und verstandenen Europa gibt es selbstverständlich (und gottlob) Kontraste und Unterschiede, aber diese müssen nicht zwingend zu Antagonismen und Konkurrenz führen, sondern können einen vitalen Stromfluss – der zwei entgegengesetzte Pole braucht – generieren, an dem wir alle, nicht nur die Künstler und Kulturschaffenden teilhaben können: als Übersetzer der wechselnden Spannungen in die jeweils heimische. Als echte Transformatoren. Immer vorausgesetzt, dass die sozialen Ungerechtigkeiten auszugleichen die Herzensangelegenheit sowohl nationaler wie europäischer Politik bleibt – oder muss man sagen: endlich wieder wird?

Ich habe keine abschließende Antwort auf die gestellte Frage nach dem Gelingen des Glücksfalls Europa. Aber wir müssen darauf bestehen, dass das Diktum keiner Zunge fremd in allen Bereichen gilt: ethnisch, religiös, sozial. Und wir müssen unsere erste Bürgerpflicht ernstnehmen: die Wahl. Und Politiker und Parteien wählen und fordern, die sich dafür einsetzen, dass Argumente, nicht Behauptungen zählen, dass Einsicht und nicht Angst Entscheidungen herbeiführen muss, dass Mitgefühl und Solidarität Gesellschaften befrieden, und nicht egozentrische Interessenvertretung und Abschottung.

Wir müssen Politiker fordern und wählen, die wissen, dass zur Aussteuer einer offenen, demokratischen Gesellschaft Kunst und Kultur unabdingbar dazugehören und vor kommerzieller Ausbeutung bzw. dem Gebot der Profitmaximierung geschützt werden müssen. Die wissen, dass Bildung ein Gut ist, das unabhängig von Verwertungszusammenhängen zu würdigen ist und für alle erreichbar sein sollte. Wir müssen Politiker fordern und wählen, die die europäische Idee nicht ausverkaufen als eine Wirtschaftsunion, sondern ihr restituieren, was sie ausmacht: ein Kulturraum zu sein, in dem wir uns nicht nur zollfrei, sondern frei, mündig und schöpferisch bewegen können.

Das Reittier einer solchen Europa – die nicht entführt werden muss, sondern sich auf Reisen begibt – könnte dann durchaus der Pegasus sein, das geflügelte Wesen der Phantasie, robust gebaut, aber zart besaitet. Übrigens in schöner Ausgestaltung im Giebelfresko von Münchens Nationaloper zu bestaunen. PEXIT– Austritt des Pegasus aus der Gemeinschaft der Weitsichtigen? Undenkbar! Er ist nicht nur geflügelt, sondern auch beflügelt: vom Zusammenhalt des Kontinents Europa. Und wir, die Träumer des Denkbaren, müssen für den nötigen Aufwind unter seinen Schwingen sorgen, damit die Gefahr eines Strömungsabrisses gebannt ist.