Rezension zu Sten Nadolnys Roman „Herbstgeschichte“
Sten Nadolnys neues Buch Herbstgeschichte (2025) ist ein raffinierter Roman über Resilienz und Überleben, über die Liebe, das Altern und die seltsame Regie des Zufalls in Fiktion und Realität und nicht zuletzt über das Erzählen selbst in verschiedenen Formaten – von der Erzählung über das Drehbuch zum Roman.
Prof. Dr. Martin Hielscher hat das Werk für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Drei ehemalige Schulfreunde, Titus, Drehbuchautor und Erzähler, Michael, Schriftsteller und als Liebender Rivale von Bruno, einem Schauspieler und Theaterdirektor, begegnen sich im Laufe dieser verschlungenen Geschichte mehrmals im Leben wieder, bis sie, mit gut 80 Jahren, final in ihre Liebes- und Erzählversuche verstrickt werden. Sie drehen sich, bei Michael und Bruno, ganz maßgeblich um dieselbe Frau – Marietta, wie sie sich beim ersten zufälligen Kennenlernen vor Jahrzehnten genannt hatte, bzw. Irina, wie sie richtig heißt.
Titus, der sein Geld mit Drehbüchern für das Unterhaltungsfernsehen verdient, sucht in der Geschichte von Marietta, Michael und Bruno, die er sich zu großen Teilen bei einer Kreuzfahrt von Michael erzählen lässt, vor allem den Stoff für ein neues, seriöses Drehbuch, verliebt sich dann aber in die Bordseelsorgerin, die sich erstaunlicherweise als alte Freundin eben jener Marietta herausstellt. Wollte Titus eben noch Beobachter und Stoffsammler sein, vielleicht auch Interpret und gleichsam Figurenpsychologe, so wird er jetzt selbst zu einem Teil der Geschichte. Und die Geliebte wird zur kritischen Leserin seines Drehbuchentwurfs dieser Dreiergeschichte, den sie prompt verwirft. Titus muss im Leben, im Lieben und im Schreiben noch einmal neu ansetzen.
Die drei alternden Männer Titus, Michael und Bruno haben sich über weite Strecken ihres Lebens aus den Augen verloren, konkurrieren miteinander, sind erfolgreich, aber schließlich allein. Bruno, der als Schauspieler und Theatermensch große Erfolge feierte, sieht sich im Alter sogar mit Vorwürfen des Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe konfrontiert, vor denen er am Ende aus Deutschland flieht – zusammen mit Marietta / Irina. Die Frau, die Michael und Bruno einst bei einer Zugfahrt gemeinsam kennenlernten und in die sich beide verliebten, ist eine tragische Figur, die über weite Strecken ihres Lebens ständiger Hilfe und Unterstützung, ja dauernder Rettung bedarf. Sie wird zum Knotenpunkt dieser Geschichte und des ganzen Romans, eine hochbegabte Stehauffrau, die mit einer besonderen Gabe, einer extremen Wahrnehmungsfähigkeit ebenso gesegnet wie geschlagen ist – sie vergisst nie ein Gesicht, das sie einmal gesehen hat, und erkennt die entsprechenden Personen auch nach Jahrzehnten wieder.
Die schöne Frau, die als Mädchen von einem nahen Verwandten sexuell missbraucht und der von ihren Eltern nicht geholfen wurde, leidet, nachdem sie bei der ersten Begegnung mit Bruno und Michael noch blühend und äußerst vital wirkte, in den folgenden Jahren unter Flashbacks und Retraumatisierungen. Sie entwickelt kaum zu diagnostizierende Krankheitssymptome, die sie schließlich über Jahre an den Rollstuhl fesseln und in die Armut und Abhängigkeit von permanenter Hilfe und Sozialfürsorge treiben. Das Scheusal, das sie missbrauchte, eine Sekte, in die sie sich flüchtete und aus der sie sich wieder absetzte, ein Mafiasyndikat, das sie mit ihrer besonderen Wahrnehmungsgabe zu enttarnen half, lassen sie außerdem nicht in Ruhe, sie wird Opfer von Anschlägen und Überfällen. Und doch gelingt es ihr, sich aus diesem Meer der Widrigkeiten immer wieder zu befreien, was angesichts ihres teils erschreckenden Zustandes geradezu ein Wunder ist.
Insbesondere Michael widmet sich ihr über Jahre, verliert seine Frau, es gelingt ihm aber auch nie, sich Marietta / Irina gegenüber, die so viel jünger ist als er, zu erklären, sodass sie es am Ende gar vorzieht, mit dem energisch-männlichen Bruno gemeinsam aus Deutschland zu fliehen, wo sie vor Nachstellungen anscheinend nie ganz sicher sein kann. Marietta ist die Resilienz in Person, sie scheint niemals aufzugeben und wird am Ende belohnt, indem ihr außerhalb Deutschlands ein Medikament zugänglich gemacht wird, das ihr tatsächlich hilft, das hierzulande aber noch nicht zugelassen ist. Die enormen Kosten für das Mittel kann sie aufbringen, weil sie eine begabte Teppichknüpferin ist und wunderbare Textilien herstellen kann.
Als nunmehr selbst alternde Frau kann sie sogar gelegentlich wieder laufen und ihren prekären Gesundheitszustand deutlich verbessern. Und so wie sie ihre Stoffe verwebt, verknüpft auch Titus seine Erzählfäden – zwar am Ende nicht zu einem neuen Drehbuch für einen Film, den es nie geben würde, sondern zu eben dem Roman, den wir lesen, der also anhand der Geschichte der drei alten Männer und der deutlich jüngeren Marietta zugleich auch seine eigene Genese erzählt.
Wenn Titus von den Produzenten, mit denen er zusammenarbeitet, angesichts seiner Filmidee vorgeschlagen wird, doch für eine Romanvorlage zu sorgen (von Michael), damit sie anschließend seinen Film erfolgreich vermarkten können, und am Ende Titus selbst den Roman schreibt, dessen Drehbuchfassung dann nie realisiert wird, so greift Sten Nadolny die Genese von Die Entdeckung der Langsamkeit auf, seinem erfolgreichsten Roman, dessen Stoff Nadolny einst zunächst zu einem Drehbuch verarbeitete, das nie verfilmt wurde, bevor er sich dann selbst an die Romanfassung machte.
Die Geschichte von Marietta / Irina und ihren Begabungen und Heimsuchungen, verbunden mit den vielen Zufällen, die die drei Männer und die beiden zentralen weiblichen Figuren – Marietta und Helen, die Bordseelsorgerin und spätere Pastorin – immer wieder in Verbindung bringen und ein über Jahrzehnte sich entfaltendes Netz knüpfen, wirkt mitunter so aberwitzig, dass man versucht ist anzunehmen, dahinter stecke eine „wahre Begebenheit“, denn keine Fiktion ist so verrückt wie das sogenannte Leben selbst. Und man freut sich an der vertrackten Möbiusschleife des Erzählens, in der eine Episode und Figurenkonstellation sich immer wieder mit einer anderen verknüpft und durch deren immer neue Verbindungen sich lauter Erzählechos bilden.
Ein gewisser Wermutstropfen ist die vergleichsweise schlichte Sprache, in die die politische und gesellschaftlich-mediale Realität mit ihrem Vokabular immer wieder relativ ungebremst Eingang findet. Hier hätte man sich mitunter einen größeren poetischen Abstand und Reichtum gewünscht. Aber der Charme des erzählerischen Spiegelkabinetts, der psychologische Reiz vor allem der weiblichen Figuren und eine Altersabgeklärtheit bei den männlichen Figuren (und wohl auch bei Nadolny selbst) wiegen dieser Einwand wieder auf. Ein Überlebensbuch.
Sten Nadolny: Herbstgeschichte. Roman. Piper Verlag, München. 240 Seiten. ISBN: 978-3492074032
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Sten Nadolnys neues Buch Herbstgeschichte (2025) ist ein raffinierter Roman über Resilienz und Überleben, über die Liebe, das Altern und die seltsame Regie des Zufalls in Fiktion und Realität und nicht zuletzt über das Erzählen selbst in verschiedenen Formaten – von der Erzählung über das Drehbuch zum Roman.
Prof. Dr. Martin Hielscher hat das Werk für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Drei ehemalige Schulfreunde, Titus, Drehbuchautor und Erzähler, Michael, Schriftsteller und als Liebender Rivale von Bruno, einem Schauspieler und Theaterdirektor, begegnen sich im Laufe dieser verschlungenen Geschichte mehrmals im Leben wieder, bis sie, mit gut 80 Jahren, final in ihre Liebes- und Erzählversuche verstrickt werden. Sie drehen sich, bei Michael und Bruno, ganz maßgeblich um dieselbe Frau – Marietta, wie sie sich beim ersten zufälligen Kennenlernen vor Jahrzehnten genannt hatte, bzw. Irina, wie sie richtig heißt.
Titus, der sein Geld mit Drehbüchern für das Unterhaltungsfernsehen verdient, sucht in der Geschichte von Marietta, Michael und Bruno, die er sich zu großen Teilen bei einer Kreuzfahrt von Michael erzählen lässt, vor allem den Stoff für ein neues, seriöses Drehbuch, verliebt sich dann aber in die Bordseelsorgerin, die sich erstaunlicherweise als alte Freundin eben jener Marietta herausstellt. Wollte Titus eben noch Beobachter und Stoffsammler sein, vielleicht auch Interpret und gleichsam Figurenpsychologe, so wird er jetzt selbst zu einem Teil der Geschichte. Und die Geliebte wird zur kritischen Leserin seines Drehbuchentwurfs dieser Dreiergeschichte, den sie prompt verwirft. Titus muss im Leben, im Lieben und im Schreiben noch einmal neu ansetzen.
Die drei alternden Männer Titus, Michael und Bruno haben sich über weite Strecken ihres Lebens aus den Augen verloren, konkurrieren miteinander, sind erfolgreich, aber schließlich allein. Bruno, der als Schauspieler und Theatermensch große Erfolge feierte, sieht sich im Alter sogar mit Vorwürfen des Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe konfrontiert, vor denen er am Ende aus Deutschland flieht – zusammen mit Marietta / Irina. Die Frau, die Michael und Bruno einst bei einer Zugfahrt gemeinsam kennenlernten und in die sich beide verliebten, ist eine tragische Figur, die über weite Strecken ihres Lebens ständiger Hilfe und Unterstützung, ja dauernder Rettung bedarf. Sie wird zum Knotenpunkt dieser Geschichte und des ganzen Romans, eine hochbegabte Stehauffrau, die mit einer besonderen Gabe, einer extremen Wahrnehmungsfähigkeit ebenso gesegnet wie geschlagen ist – sie vergisst nie ein Gesicht, das sie einmal gesehen hat, und erkennt die entsprechenden Personen auch nach Jahrzehnten wieder.
Die schöne Frau, die als Mädchen von einem nahen Verwandten sexuell missbraucht und der von ihren Eltern nicht geholfen wurde, leidet, nachdem sie bei der ersten Begegnung mit Bruno und Michael noch blühend und äußerst vital wirkte, in den folgenden Jahren unter Flashbacks und Retraumatisierungen. Sie entwickelt kaum zu diagnostizierende Krankheitssymptome, die sie schließlich über Jahre an den Rollstuhl fesseln und in die Armut und Abhängigkeit von permanenter Hilfe und Sozialfürsorge treiben. Das Scheusal, das sie missbrauchte, eine Sekte, in die sie sich flüchtete und aus der sie sich wieder absetzte, ein Mafiasyndikat, das sie mit ihrer besonderen Wahrnehmungsgabe zu enttarnen half, lassen sie außerdem nicht in Ruhe, sie wird Opfer von Anschlägen und Überfällen. Und doch gelingt es ihr, sich aus diesem Meer der Widrigkeiten immer wieder zu befreien, was angesichts ihres teils erschreckenden Zustandes geradezu ein Wunder ist.
Insbesondere Michael widmet sich ihr über Jahre, verliert seine Frau, es gelingt ihm aber auch nie, sich Marietta / Irina gegenüber, die so viel jünger ist als er, zu erklären, sodass sie es am Ende gar vorzieht, mit dem energisch-männlichen Bruno gemeinsam aus Deutschland zu fliehen, wo sie vor Nachstellungen anscheinend nie ganz sicher sein kann. Marietta ist die Resilienz in Person, sie scheint niemals aufzugeben und wird am Ende belohnt, indem ihr außerhalb Deutschlands ein Medikament zugänglich gemacht wird, das ihr tatsächlich hilft, das hierzulande aber noch nicht zugelassen ist. Die enormen Kosten für das Mittel kann sie aufbringen, weil sie eine begabte Teppichknüpferin ist und wunderbare Textilien herstellen kann.
Als nunmehr selbst alternde Frau kann sie sogar gelegentlich wieder laufen und ihren prekären Gesundheitszustand deutlich verbessern. Und so wie sie ihre Stoffe verwebt, verknüpft auch Titus seine Erzählfäden – zwar am Ende nicht zu einem neuen Drehbuch für einen Film, den es nie geben würde, sondern zu eben dem Roman, den wir lesen, der also anhand der Geschichte der drei alten Männer und der deutlich jüngeren Marietta zugleich auch seine eigene Genese erzählt.
Wenn Titus von den Produzenten, mit denen er zusammenarbeitet, angesichts seiner Filmidee vorgeschlagen wird, doch für eine Romanvorlage zu sorgen (von Michael), damit sie anschließend seinen Film erfolgreich vermarkten können, und am Ende Titus selbst den Roman schreibt, dessen Drehbuchfassung dann nie realisiert wird, so greift Sten Nadolny die Genese von Die Entdeckung der Langsamkeit auf, seinem erfolgreichsten Roman, dessen Stoff Nadolny einst zunächst zu einem Drehbuch verarbeitete, das nie verfilmt wurde, bevor er sich dann selbst an die Romanfassung machte.
Die Geschichte von Marietta / Irina und ihren Begabungen und Heimsuchungen, verbunden mit den vielen Zufällen, die die drei Männer und die beiden zentralen weiblichen Figuren – Marietta und Helen, die Bordseelsorgerin und spätere Pastorin – immer wieder in Verbindung bringen und ein über Jahrzehnte sich entfaltendes Netz knüpfen, wirkt mitunter so aberwitzig, dass man versucht ist anzunehmen, dahinter stecke eine „wahre Begebenheit“, denn keine Fiktion ist so verrückt wie das sogenannte Leben selbst. Und man freut sich an der vertrackten Möbiusschleife des Erzählens, in der eine Episode und Figurenkonstellation sich immer wieder mit einer anderen verknüpft und durch deren immer neue Verbindungen sich lauter Erzählechos bilden.
Ein gewisser Wermutstropfen ist die vergleichsweise schlichte Sprache, in die die politische und gesellschaftlich-mediale Realität mit ihrem Vokabular immer wieder relativ ungebremst Eingang findet. Hier hätte man sich mitunter einen größeren poetischen Abstand und Reichtum gewünscht. Aber der Charme des erzählerischen Spiegelkabinetts, der psychologische Reiz vor allem der weiblichen Figuren und eine Altersabgeklärtheit bei den männlichen Figuren (und wohl auch bei Nadolny selbst) wiegen dieser Einwand wieder auf. Ein Überlebensbuch.
Sten Nadolny: Herbstgeschichte. Roman. Piper Verlag, München. 240 Seiten. ISBN: 978-3492074032
