Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 34: Susanne Kerckhoff, Die verlorenen Stürme (1947)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Im Jahr 2020 veröffentlicht der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis Susanne Kerckhoffs Nachkriegsroman Berliner Briefe in einer Neuauflage, die unerwartet großen Erfolg hat und damit den Weg für die Wiederentdeckung des Gesamtwerks dieser einst vergessenen Autorin ebnet. Mit der Neuveröffentlichung von Kerckhoffs 1947 erstmals erschienenem Werk Die verlorenen Stürme folgt 2021 ein möglicherweise noch bedeutenderer Text.
Der Roman, der im Jahr 1932 – kurz vor den entscheidenden Wahlen, die Hitlers Machtergreifung einleiten – spielt, könnte angesichts seiner Thematik kaum aktueller erscheinen. Er begleitet eine Gruppe Berliner Jugendlicher, allen voran die in einem intellektuellen Umfeld aufwachsende Marete, die sich antifaschistisch engagieren möchten, dabei jedoch immer wieder am Desinteresse der älteren Generation scheitern.
Mit ihrem Erzählton gelingt es Kerckhoff, den jugendlichen Idealismus, die Leidenschaft, aber auch die Naivität ihrer Protagonisten einzufangen. Es handelt sich um ein außergewöhnliches Stück Prosa, das zu den wenigen literarischen Dokumenten junger Menschen aus der Zeit des politischen Umbruchs 1932/33 zählt. Das auf eigenen Erfahrungen basierende Manuskript wird 1947 veröffentlicht, es ist jedoch denkbar, dass die Autorin es bereits ein Jahrzehnt zuvor konzipiert und skizziert hat.
Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime wird in diesem Szenario nicht mit Waffen, sondern mit Pinseln und Farben ausgefochten. In den späten Stunden des Abends durchstreifen junge Menschen die Seitenstraßen in der Nähe des Charlottenburger Amtsgerichts und hinterlassen politische Parolen. Sie verändern Wahlplakate der politischen Gegner im November 1932, dem letzten Wahlkampf der Weimarer Republik. Obwohl die NSDAP in dieser Wahl Stimmen verliert, wird Hitler nur zwei Monate später zum Reichskanzler ernannt. Dass die Demokratie bereits am Rande des Abgrunds steht, erkennt sogar eine 17-jährige Schülerin. „Ich will laut sein“, erklärt die Protagonistin. Marete lebt mit ihrem Vater zusammen, einem Schriftsteller, der sich in einer literarischen Parallelwelt eingerichtet hat. Das bürgerliche Mädchen trifft auf einen Arbeiter, der mit seinen abgemagerten Kindern in einer Kellerwohnung lebt und Marete für den Kommunismus zu gewinnen versucht. Sie schließt sich dem sozialistischen Jugendverband an.
„Deutschland erwache! – Juda verrecke!“, solche Parolen prangen auf den Wänden der Häuser. Marete ist überzeugt, dass sich das deutsche Volk von diesen Worten abwenden wird, und dass nicht nur die Rechten sich radikalisieren werden. Sie träumt von einer Welt, in der alle Menschen gleich sind – auch die Juden. Doch die Katastrophe ist nicht aufzuhalten. Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben, geht die Gruppe in den Untergrund. Zwei Mitglieder werden verhaftet, eines emigriert. Ihre Freundin Lilly, die bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Haifa geflohen ist, nimmt sich dort das Leben, weil sie keine Aussicht auf eine Rückkehr nach Berlin hat. Am Ende marschiert Marete zusammen mit anderen Schülerinnen in geordneten Viererreihen zu einer Propagandaveranstaltung. Aus den Lautsprechern ertönt Hitlers Stimme, und der Widerstand der Mädchen äußert sich darin, dass sie in dieser Sekunde schweigen. Kerckhoff beschreibt diese „winzigen Stürme gegen die allgemeine Ohnmacht“ als die letzten Ausdrucksformen des Widerstandes.
Die geschilderte Szene im Roman basiert auf einem tatsächlichen Ereignis. Am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, wird Susanne Kerckhoff mit ihren Mitschülerinnen zum Alhambra-Kino am Kurfürstendamm geschickt, um die Rundfunkübertragung der Reichstagsöffnung zu hören. Der Herausgeber Peter Graf stößt bei seinen Recherchen auf diesen Termin in Kerckhoffs Schulunterlagen. Die Autorin teilt viele Merkmale mit ihrer Heldin: Auch ihr Vater, Walther Harich, ist Schriftsteller. Ebenso ist sie Mitglied eines linken Jugendverbandes, der 1933 verbotenen Sozialistischen Arbeiter-Jugend. Auch sie hat eine jüdische Freundin, die nach Palästina flieht und sich dort das Leben nimmt.
Die verlorenen Stürme erzählen die Geschichte einer Jugend, die in den Mahlstrom der Geschichte gerät. In diesem erschütternden Zeitdokument kritisiert Kerckhoff scharf den Opportunismus der Deutschen, beschreibt das schweigende Mitmachen und Wegsehen während des Völkermords an den Juden und thematisiert, wie die Täter sich nach dem Krieg schnell zu Opfern stilisieren.
In den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zählt Susanne Kerckhoff zu den talentiertesten und vielversprechendsten deutschen Schriftstellerinnen. In der kurzen Zeit bis zu ihrem Freitod im März 1950 veröffentlicht sie vier Bücher sowie zahlreiche kunstkritische und kulturpolitische Essays. Ein neuer Lyrikband ist bereits in Vorbereitung. Sie setzt all ihre Energie in die Neugestaltung Deutschlands in der Nachkriegszeit. Doch nach ihrem Tod gerät sie in Vergessenheit.
Susanne Kerckhoff: Die verlorenen Stürme. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021.
Lesen Sie nächste Woche, welcher politische Reaktionär im Tagebuch seinem Hass auf den Nationalsozialismus Ausdruck verlieh.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 34: Susanne Kerckhoff, Die verlorenen Stürme (1947)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Im Jahr 2020 veröffentlicht der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis Susanne Kerckhoffs Nachkriegsroman Berliner Briefe in einer Neuauflage, die unerwartet großen Erfolg hat und damit den Weg für die Wiederentdeckung des Gesamtwerks dieser einst vergessenen Autorin ebnet. Mit der Neuveröffentlichung von Kerckhoffs 1947 erstmals erschienenem Werk Die verlorenen Stürme folgt 2021 ein möglicherweise noch bedeutenderer Text.
Der Roman, der im Jahr 1932 – kurz vor den entscheidenden Wahlen, die Hitlers Machtergreifung einleiten – spielt, könnte angesichts seiner Thematik kaum aktueller erscheinen. Er begleitet eine Gruppe Berliner Jugendlicher, allen voran die in einem intellektuellen Umfeld aufwachsende Marete, die sich antifaschistisch engagieren möchten, dabei jedoch immer wieder am Desinteresse der älteren Generation scheitern.
Mit ihrem Erzählton gelingt es Kerckhoff, den jugendlichen Idealismus, die Leidenschaft, aber auch die Naivität ihrer Protagonisten einzufangen. Es handelt sich um ein außergewöhnliches Stück Prosa, das zu den wenigen literarischen Dokumenten junger Menschen aus der Zeit des politischen Umbruchs 1932/33 zählt. Das auf eigenen Erfahrungen basierende Manuskript wird 1947 veröffentlicht, es ist jedoch denkbar, dass die Autorin es bereits ein Jahrzehnt zuvor konzipiert und skizziert hat.
Der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime wird in diesem Szenario nicht mit Waffen, sondern mit Pinseln und Farben ausgefochten. In den späten Stunden des Abends durchstreifen junge Menschen die Seitenstraßen in der Nähe des Charlottenburger Amtsgerichts und hinterlassen politische Parolen. Sie verändern Wahlplakate der politischen Gegner im November 1932, dem letzten Wahlkampf der Weimarer Republik. Obwohl die NSDAP in dieser Wahl Stimmen verliert, wird Hitler nur zwei Monate später zum Reichskanzler ernannt. Dass die Demokratie bereits am Rande des Abgrunds steht, erkennt sogar eine 17-jährige Schülerin. „Ich will laut sein“, erklärt die Protagonistin. Marete lebt mit ihrem Vater zusammen, einem Schriftsteller, der sich in einer literarischen Parallelwelt eingerichtet hat. Das bürgerliche Mädchen trifft auf einen Arbeiter, der mit seinen abgemagerten Kindern in einer Kellerwohnung lebt und Marete für den Kommunismus zu gewinnen versucht. Sie schließt sich dem sozialistischen Jugendverband an.
„Deutschland erwache! – Juda verrecke!“, solche Parolen prangen auf den Wänden der Häuser. Marete ist überzeugt, dass sich das deutsche Volk von diesen Worten abwenden wird, und dass nicht nur die Rechten sich radikalisieren werden. Sie träumt von einer Welt, in der alle Menschen gleich sind – auch die Juden. Doch die Katastrophe ist nicht aufzuhalten. Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen haben, geht die Gruppe in den Untergrund. Zwei Mitglieder werden verhaftet, eines emigriert. Ihre Freundin Lilly, die bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Haifa geflohen ist, nimmt sich dort das Leben, weil sie keine Aussicht auf eine Rückkehr nach Berlin hat. Am Ende marschiert Marete zusammen mit anderen Schülerinnen in geordneten Viererreihen zu einer Propagandaveranstaltung. Aus den Lautsprechern ertönt Hitlers Stimme, und der Widerstand der Mädchen äußert sich darin, dass sie in dieser Sekunde schweigen. Kerckhoff beschreibt diese „winzigen Stürme gegen die allgemeine Ohnmacht“ als die letzten Ausdrucksformen des Widerstandes.
Die geschilderte Szene im Roman basiert auf einem tatsächlichen Ereignis. Am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, wird Susanne Kerckhoff mit ihren Mitschülerinnen zum Alhambra-Kino am Kurfürstendamm geschickt, um die Rundfunkübertragung der Reichstagsöffnung zu hören. Der Herausgeber Peter Graf stößt bei seinen Recherchen auf diesen Termin in Kerckhoffs Schulunterlagen. Die Autorin teilt viele Merkmale mit ihrer Heldin: Auch ihr Vater, Walther Harich, ist Schriftsteller. Ebenso ist sie Mitglied eines linken Jugendverbandes, der 1933 verbotenen Sozialistischen Arbeiter-Jugend. Auch sie hat eine jüdische Freundin, die nach Palästina flieht und sich dort das Leben nimmt.
Die verlorenen Stürme erzählen die Geschichte einer Jugend, die in den Mahlstrom der Geschichte gerät. In diesem erschütternden Zeitdokument kritisiert Kerckhoff scharf den Opportunismus der Deutschen, beschreibt das schweigende Mitmachen und Wegsehen während des Völkermords an den Juden und thematisiert, wie die Täter sich nach dem Krieg schnell zu Opfern stilisieren.
In den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zählt Susanne Kerckhoff zu den talentiertesten und vielversprechendsten deutschen Schriftstellerinnen. In der kurzen Zeit bis zu ihrem Freitod im März 1950 veröffentlicht sie vier Bücher sowie zahlreiche kunstkritische und kulturpolitische Essays. Ein neuer Lyrikband ist bereits in Vorbereitung. Sie setzt all ihre Energie in die Neugestaltung Deutschlands in der Nachkriegszeit. Doch nach ihrem Tod gerät sie in Vergessenheit.
Susanne Kerckhoff: Die verlorenen Stürme. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021.
Lesen Sie nächste Woche, welcher politische Reaktionär im Tagebuch seinem Hass auf den Nationalsozialismus Ausdruck verlieh.