Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 31: Martin Beradt, Beide Seiten einer Straße
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
„Wirklich traf Frajim Feingold zu Beginn des Herbstes 1927, an einem wenig schönen Tag, in der deutschen Hauptstadt ein. Er kam unmittelbar aus einer Judengasse von Piaseczno und wusste genau, in welche Gasse er hier zu gehen hatte; es gab nur eine. In Amsterdam gibt es ein Viertel für Ostjuden, in New York füllen sie ganze Stadtteile, in London lange Straßenzüge. Hier, in einer Stadt von vier Millionen Einwohnern, einer der größten und bedeutendsten der Welt, waren so ausgeprägt nur wenige Gassen; die wichtigste betrat er. Dreitausend Menschen hatte sie bisher beherbergt, jetzt sollte es einer mehr sein.“
Mit dieser Passage aus Martin Beradts Roman Beide Seiten einer Straße folgen wir dem Schicksal osteuropäischer Juden, die auf ihrer Flucht in Berlin gestrandet sind. Was die armseligen Läden der Gasse bieten, reicht gerade, um sie vor dem Hungertod zu bewahren. Mit Gelegenheitsjobs und Bettelei in der Berliner Innenstadt halten sie sich über Wasser. Der Mikrokosmos der Gasse, aus vielen Einzelschicksalen und -geschichten zusammengesetzt, dient als Refugium, das bei allem Elend einen Rest an heimatlicher Geborgenheit bietet.
Die jüdische Gasse hat im Roman keinen Namen, doch welche Straße als Vorlage dient, darüber besteht kein Zweifel: Es ist die Grenadierstraße, die in den Zeitungsberichten der frühen 1920er-Jahre als ostjüdisches Ghetto beschrieben wird – ein märchenumwobenes Schtetl für die einen, ein gefährlicher Krankheitsherd inmitten der Großstadt für die anderen. Ihre Bewohner werden in der NS-Zeit deportiert und vergast, doch nährt diese verschwundene Straße das Bild, das man sich heutzutage vom alten Berliner Scheunenviertel macht: mit hebräischen Schriftzeichen, jüdischen Kneipen und Betstuben, mit Altkleider- und Eierhandel und bärtigen Rabbinern. In den Zwanzigern gibt es hier zionistische Vereine, hebräische Buchhandlungen, Talmudschulen und Synagogen Tür an Tür mit Kaschemmen, Puffs und Trödlerläden – niemand beschreibt dieses Großstadtghetto zärtlicher und präziser als Martin Beradt. Ein richtiges Ghetto ist die Grenadierstraße dabei nicht. Nur etwa ein Drittel ihrer damaligen Bewohner sind Juden, und schon im Jahr 1927, in dem Beradts Roman spielt, beginnt sich ihr exotisches Flair zu verlieren. Viele so genannte Ostjuden werden später abgeschoben, manchen gelingt die Reise nach Amerika, wenige werden Berliner.
Der Roman entfaltet ein anekdotisches Panorama der verschiedenartigsten Gestalten: Da ist Joel, dessen Gasthof auch noch den größten Ansturm Durchreisender nach Amsterdam, New York oder Tel Aviv verkraftet – man rückt ja immer zusammen in diesem Viertel. Da sind die beiden Schwestern, die in abbruchreifen Tor-Durchfahrten Wäsche feilbieten, oder Seraphim, der beredte junge Orthodoxe, die Bettler, die wohlhabenden Weichselbaums – die meisten kommen und gehen wieder. Der Roman entfaltet ein bestechendes Panorama, das keinen Helden kennt als die Gasse selbst, zwischen der Ankunft des jungen, feinsinnigen Frajim Feingold aus Piaseczno und seiner schmachvollen Rückkehr in die Heimat, wo nach Meinung aller die Aussichten am bedrückendsten sind.
Martin Beradt wird 1881 als Sohn eines jüdischen Lederhändlers in Magdeburg geboren, später konvertiert er zum Protestantismus. Nach dem Jurastudium in Berlin, München und Heidelberg und der Promotion in Freiburg ist er in Berlin zunächst am Kammergericht, später als Rechtsanwalt tätig. Von 1914 bis 1933 lebte Beradt in der Joachimsthaler Straße in Berlin und schreibt dort, unweit des Schauplatzes, seinen Roman.
Beradt ist bereits ein etablierter Anwalt und Schriftsteller, als er im November 1915 an die französische Westfront eingezogen wird. Aufgrund der drastischen Verschlechterung seines Augenleidens bemüht sich Beradt im Dezember um eine Versetzung zurück nach Berlin. Nach insgesamt vier Monaten an der Westfront leistet er seinen weiteren Militärdienst in der Materialverwaltung der Stadt.
In Berlin ist Martin Beradt bis 1933 ein bekannter und erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar. Zu seinen Mandanten zählen Autoren wie Heinrich Mann und der von rechtsextremen Terroristen ermordete Politiker Walther Rathenau. Nach dem Ersten Weltkrieg wird Beradt auch Syndikus des Deutschen Automobilhändler-Verbandes und vertritt die großen Berliner Automobilhandelsfirmen. Als Syndikus des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller ist er ein gefragter Medien-Anwalt.
1939 emigriert Beradt zunächst nach England und dann im Sommer 1940 auf einem der letzten regulären Passagierschiffe in die USA. Der Versuch, den Roman unmittelbar nach der Schoa zu publizieren, scheitert mehrfach. Lange zuvor hat auch die New Yorker Buchorganisation den Roman zurückgewiesen, „weil er antisemitisch sei“, wie Beradt 1946 in einem Brief nach Palästina schreibt. Er resümiert nicht ohne Bitterkeit, „das heißt offenbar, dass er nicht aus Marzipan besteht; ich hatte gute und schlechte Juden geschildert und wendete Mittel des modernen Romans an Stelle der Sentimentalität an, die so viel in ostjüdischen Geschichten zu finden ist“.
Erst 1965 gelingt es der Witwe des Autors, Charlotte Beradt, den Roman im Frankfurter Heinrich Scheffler Verlag zu veröffentlichen. Dort erschien er unter einem Titel, der das Bedürfnis nach zeitgenössischem Lesergeschmack widerspiegelt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. 1993 bringt die Weddinger Buchhandlung Mackensen den Roman in seiner vollständigen Form und unter dem authentischen Titel heraus. Beide Seiten einer Straße erweist sich als bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument und gleichzeitig als ein moderner Roman, der aufgrund seiner Montage eine unterhaltsame und sympathische Darstellung einer verschwindenden Lebenswelt bietet.
Der Autor verstirbt 1949 im Hinterzimmer einer New Yorker Mietskaserne, wo er die letzten Jahre seines Lebens als halbblinder Mann von seiner Frau betreut worden ist. Einzig der Aufbau, das deutschsprachige Emigrantenblatt in New York, nimmt von seinem Tod Kenntnis. In Deutschland gedenkt niemand Martin Beradts.
Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Ein Roman aus dem Berliner Scheunenviertel. Mit einem Essay und einem Nachruf von Eike Geisel. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001
Lesen Sie nächste Woche, welche weltreisende slowenische Autorin für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde, sich aufgrund ihrer Verfolgung unter dem Nationalsozialismus bei Partisanen verbarg und später auch im kommunistischen Jugoslawien schlecht gelitten war.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 31: Martin Beradt, Beide Seiten einer Straße >
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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„Wirklich traf Frajim Feingold zu Beginn des Herbstes 1927, an einem wenig schönen Tag, in der deutschen Hauptstadt ein. Er kam unmittelbar aus einer Judengasse von Piaseczno und wusste genau, in welche Gasse er hier zu gehen hatte; es gab nur eine. In Amsterdam gibt es ein Viertel für Ostjuden, in New York füllen sie ganze Stadtteile, in London lange Straßenzüge. Hier, in einer Stadt von vier Millionen Einwohnern, einer der größten und bedeutendsten der Welt, waren so ausgeprägt nur wenige Gassen; die wichtigste betrat er. Dreitausend Menschen hatte sie bisher beherbergt, jetzt sollte es einer mehr sein.“
Mit dieser Passage aus Martin Beradts Roman Beide Seiten einer Straße folgen wir dem Schicksal osteuropäischer Juden, die auf ihrer Flucht in Berlin gestrandet sind. Was die armseligen Läden der Gasse bieten, reicht gerade, um sie vor dem Hungertod zu bewahren. Mit Gelegenheitsjobs und Bettelei in der Berliner Innenstadt halten sie sich über Wasser. Der Mikrokosmos der Gasse, aus vielen Einzelschicksalen und -geschichten zusammengesetzt, dient als Refugium, das bei allem Elend einen Rest an heimatlicher Geborgenheit bietet.
Die jüdische Gasse hat im Roman keinen Namen, doch welche Straße als Vorlage dient, darüber besteht kein Zweifel: Es ist die Grenadierstraße, die in den Zeitungsberichten der frühen 1920er-Jahre als ostjüdisches Ghetto beschrieben wird – ein märchenumwobenes Schtetl für die einen, ein gefährlicher Krankheitsherd inmitten der Großstadt für die anderen. Ihre Bewohner werden in der NS-Zeit deportiert und vergast, doch nährt diese verschwundene Straße das Bild, das man sich heutzutage vom alten Berliner Scheunenviertel macht: mit hebräischen Schriftzeichen, jüdischen Kneipen und Betstuben, mit Altkleider- und Eierhandel und bärtigen Rabbinern. In den Zwanzigern gibt es hier zionistische Vereine, hebräische Buchhandlungen, Talmudschulen und Synagogen Tür an Tür mit Kaschemmen, Puffs und Trödlerläden – niemand beschreibt dieses Großstadtghetto zärtlicher und präziser als Martin Beradt. Ein richtiges Ghetto ist die Grenadierstraße dabei nicht. Nur etwa ein Drittel ihrer damaligen Bewohner sind Juden, und schon im Jahr 1927, in dem Beradts Roman spielt, beginnt sich ihr exotisches Flair zu verlieren. Viele so genannte Ostjuden werden später abgeschoben, manchen gelingt die Reise nach Amerika, wenige werden Berliner.
Der Roman entfaltet ein anekdotisches Panorama der verschiedenartigsten Gestalten: Da ist Joel, dessen Gasthof auch noch den größten Ansturm Durchreisender nach Amsterdam, New York oder Tel Aviv verkraftet – man rückt ja immer zusammen in diesem Viertel. Da sind die beiden Schwestern, die in abbruchreifen Tor-Durchfahrten Wäsche feilbieten, oder Seraphim, der beredte junge Orthodoxe, die Bettler, die wohlhabenden Weichselbaums – die meisten kommen und gehen wieder. Der Roman entfaltet ein bestechendes Panorama, das keinen Helden kennt als die Gasse selbst, zwischen der Ankunft des jungen, feinsinnigen Frajim Feingold aus Piaseczno und seiner schmachvollen Rückkehr in die Heimat, wo nach Meinung aller die Aussichten am bedrückendsten sind.
Martin Beradt wird 1881 als Sohn eines jüdischen Lederhändlers in Magdeburg geboren, später konvertiert er zum Protestantismus. Nach dem Jurastudium in Berlin, München und Heidelberg und der Promotion in Freiburg ist er in Berlin zunächst am Kammergericht, später als Rechtsanwalt tätig. Von 1914 bis 1933 lebte Beradt in der Joachimsthaler Straße in Berlin und schreibt dort, unweit des Schauplatzes, seinen Roman.
Beradt ist bereits ein etablierter Anwalt und Schriftsteller, als er im November 1915 an die französische Westfront eingezogen wird. Aufgrund der drastischen Verschlechterung seines Augenleidens bemüht sich Beradt im Dezember um eine Versetzung zurück nach Berlin. Nach insgesamt vier Monaten an der Westfront leistet er seinen weiteren Militärdienst in der Materialverwaltung der Stadt.
In Berlin ist Martin Beradt bis 1933 ein bekannter und erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar. Zu seinen Mandanten zählen Autoren wie Heinrich Mann und der von rechtsextremen Terroristen ermordete Politiker Walther Rathenau. Nach dem Ersten Weltkrieg wird Beradt auch Syndikus des Deutschen Automobilhändler-Verbandes und vertritt die großen Berliner Automobilhandelsfirmen. Als Syndikus des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller ist er ein gefragter Medien-Anwalt.
1939 emigriert Beradt zunächst nach England und dann im Sommer 1940 auf einem der letzten regulären Passagierschiffe in die USA. Der Versuch, den Roman unmittelbar nach der Schoa zu publizieren, scheitert mehrfach. Lange zuvor hat auch die New Yorker Buchorganisation den Roman zurückgewiesen, „weil er antisemitisch sei“, wie Beradt 1946 in einem Brief nach Palästina schreibt. Er resümiert nicht ohne Bitterkeit, „das heißt offenbar, dass er nicht aus Marzipan besteht; ich hatte gute und schlechte Juden geschildert und wendete Mittel des modernen Romans an Stelle der Sentimentalität an, die so viel in ostjüdischen Geschichten zu finden ist“.
Erst 1965 gelingt es der Witwe des Autors, Charlotte Beradt, den Roman im Frankfurter Heinrich Scheffler Verlag zu veröffentlichen. Dort erschien er unter einem Titel, der das Bedürfnis nach zeitgenössischem Lesergeschmack widerspiegelt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. 1993 bringt die Weddinger Buchhandlung Mackensen den Roman in seiner vollständigen Form und unter dem authentischen Titel heraus. Beide Seiten einer Straße erweist sich als bedeutendes zeitgeschichtliches Dokument und gleichzeitig als ein moderner Roman, der aufgrund seiner Montage eine unterhaltsame und sympathische Darstellung einer verschwindenden Lebenswelt bietet.
Der Autor verstirbt 1949 im Hinterzimmer einer New Yorker Mietskaserne, wo er die letzten Jahre seines Lebens als halbblinder Mann von seiner Frau betreut worden ist. Einzig der Aufbau, das deutschsprachige Emigrantenblatt in New York, nimmt von seinem Tod Kenntnis. In Deutschland gedenkt niemand Martin Beradts.
Martin Beradt: Die Straße der kleinen Ewigkeit. Ein Roman aus dem Berliner Scheunenviertel. Mit einem Essay und einem Nachruf von Eike Geisel. Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001
Lesen Sie nächste Woche, welche weltreisende slowenische Autorin für den Literatur-Nobelpreis vorgeschlagen wurde, sich aufgrund ihrer Verfolgung unter dem Nationalsozialismus bei Partisanen verbarg und später auch im kommunistischen Jugoslawien schlecht gelitten war.