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10.09.2025, 08:00 Uhr
Pauline Graf
Gespräche

Interview mit dem Schriftsteller und Drehbuchautor Christopher Kloeble über seinen Roman „Durch das Raue zu den Sternen“

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© Maximilian Gödecke

Der in Bayern aufgewachsene Autor Christopher Kloeble spricht über seinen Roman Durch das Raue zu den Sternen (2025). Dabei erklärt er sein Interesse an unsympathischen Protagonisten und dem Zusammenleben auf dem Dorf ebenso wie die Gruppendynamik eines Kinderchors oder die feministischen Aspekte des Buches. Das Gespräch führte SZ-Werkstudentin und philtrat-Redakteurin Pauline Graf.

*

Eigentlich, sagt Christopher Kloeble zu Beginn des Interviews, halte er das Romaneschreiben für eine ziemlich überhebliche Tätigkeit. „Es gibt immer soo viele spannende Bücher in der Buchhandlung!“ Warum sollte sich da einer ausgerechnet für Durch das Raue zu den Sternen entscheiden? „Nahezu egoistisch von mir, davon auszugehen, dass jemanden meine Geschichten interessieren“, überlegt der 43-jährige Schriftsteller aus München weiter und lacht bescheiden. 

Dabei lässt einen Kloebles die fantasievolle Geschichte in seinem neuen Roman so schnell nicht mehr los, wenn man sich im Buchladen einmal dafür entschieden hat: Nicht nur erzählt Durch das Raue zu den Sternen von dem ungewöhnlichen Wunsch des 13-jährigen Mädchens Arkadia, genannt Moll, in einem renommierten Münchner Knabenchor zu singen. Auch verschmelzen darin Literatur und Musik zu einem Gesamtkunstwerk: Wenn Kloeble über die klassischen Stücke schreibt, die Moll singt und die ihr so viel bedeuten, dann ist es, als hörte man diese Melodien selbst. Ein durch und durch musikalisches Buch, dem man anmerkt, dass sein Autor selbst einst im Knabenchor gesungen hat.

Pauline Graf: Lieber Herr Kloeble, Sie wuchsen in einem bayerischen Dorf auf, so wie Moll, und auch Sie haben als Schulkind in einem hochkarätigen Chor, dem Tölzer Knabenchor, gesungen. Wie viel hat dieses Buch mit Ihrer eigenen Kindheit zu tun? 

Kloeble: Ein Buch zu schreiben schließt für mich immer unweigerlich ein, mich mit meiner Vergangenheit und meinem Blick auf die Welt auseinanderzusetzen – auch, wenn es ein fiktionaler Roman wie dieser ist. Zu meiner Chorkarriere: Auf jeden Fall habe ich viele Erinnerungen an damals in dem Buch verarbeitet: Den autoritären Chorlehrer, der einen „brechen“ will, damit man gut wird, die Hackordnung unter den Jungs und daraus entstehende kompetitive Gruppendynamik, den Leistungsdruck ...

Graf: ... diese Dynamiken finden sich in dem Buch – die Schubsereien auf der Busfahrt, der Kampf, wer ein Solo bekommt, der übergewichtige Junge, der auf der Toilette weint, weil ihn der Lehrer gedemütigt hat – Ihre detailreichen Schilderungen wirken sehr authentisch.

Kloeble: Dieser mollige Junge auf der Toilette, der war übrigens ich. (Pause) Manche Leser, die als Kinder auch in einem anspruchsvollen Knabenchor waren, haben mir jetzt geschrieben, dass das Buch für sie die Erinnerungen an damals weckt und sie erst heute bemerken, wie intensiv und auch brutal diese Zeit für sie in frühen Jahren war.

Graf: Ein offensichtlicher und nahezu feministischer Unterschied zu Ihrem Choralltag von damals ist wohl: Ihre Protagonistin, Moll, ist ein 13-jähriges Mädchen, das um jeden Preis im – Knabenchor singen will.

Kloeble: Ja, und bei der Erfindung dieses meinungsstarken Mädchens hat mir sicher wieder ein Teil meiner Biografie geholfen, nämlich, dass ich Vater von zwei Töchtern bin. Meine ältere Tochter singt in einem gemischten Kinderchor und ich finde es supercool, wie souverän sie durch die Welt geht. Sie nimmt sich, was sie braucht. Durch ihre Augen mitzuerleben, wie eine Gesellschaft auf ein Mädchen reagiert und wie sie im Alltag behandelt wird, ist für mich als ihr Vater sehr lehrreich.

Graf: Moll ist eine willensstarke Teenagerin, deren Mutter von einem Tag auf den nächsten verschwindet. Wohin sie gegangen ist, erfahren die Leserinnen und Leser erst am Schluss. Damit ihre Mutter zurückkommt, so Molls Hoffnung, muss sie in den renommierten Knabenchor aufgenommen werden und auf der großen Bühne singen. Dafür kämpft das Mädchen hartnäckig. Sie wird aufdringlich und manchmal grenzwertig unhöflich.

Kloeble: Ich glaube, dass man diese Eigenschaften einem Jungen oder Mann ganz anders auslegen würde als einem Mädchen. Dass man das, was man bei Männern als Zielstrebigkeit und Beweis ihrer Leidenschaft für die Sache bewertet, bei Frauen manchmal als egoistisch und unsympathisch verbissen liest. Diese Unterschiede bemerke ich nicht nur auf dem bayerischen Dorf, sondern auch in der progressiven Bubble in Berlin-Kreuzberg, in der ich mit meiner Frau und den Kindern lebe.

Graf: Was Moll tut, um zu bekommen, was sie will, würde man doch auch keinem Jungen raten: Einmal ohrfeigt sie den überforderten Klassenlehrer, dann nimmt sie den kleinen Bruder eines Mitschülers in den Schwitzkasten.

Kloeble: Ja, natürlich sollte man dazu kein Kind ermutigen! (lacht) Aber man muss auch mal sehen, was Moll durchmacht: Ihre Mutter ist weg, sie ist alleine und hilflos. Ich finde nicht, dass man alles gutheißen muss, was meine Protagonistin tut, aber ich wünsche mir, dass Leser*innen Verständnis für sie zeigen.

Graf: Sympathie und moralische Korrektheit im Verhalten der Protagonistin waren beim Schreiben also keine Kategorien? Ist das auch der Grund, warum Molls aggressive Ausbrüche nicht wirklich geahndet werden?

Kloeble: Natürlich habe ich damit gerechnet, dass Molls Gewalt Leser*innen irritiert. Ich hoffe aber, dass man am Ende, wenn man den Kontext versteht, auch begreift, warum sie so handelt und dass sie das nicht macht, weil sie gern Mitschülern und dem Lehrer wehtut, sondern weil sie ihre Wut und Trauer um den Verlust der Mutter anders nicht ausdrücken kann. Und dass man Moll wünscht, dass sie von sich aus, ohne Strafe und Abschreckung, mit der Vergangenheit abschließt und versöhnlich in eine Zukunft als Erwachsene ohne Gewalt startet. (Pause) Protagonist*innen, die nur sympathisch sind, die keine inneren Konflikte haben und immer nur gut drauf sind, sind meistens etwas langweilig und außerdem total unrealistisch. Genauso wie Geschichten, in denen Gut und Böse klar verteilt ist. Ich hatte schon immer ein Herz für komplizierte Menschen am Rand der Gesellschaft. Die nicht so gut reinpassen.

Graf: Apropos reinpassen … In dem traditionellen bayerischen Dorf, in dem sie wohnen, fallen Moll und ihre Mutter den Mitbürgerinnen und Mitbürgern ständig negativ auf: Da sind nicht nur die provozierenden knappen Kleider und Stöckelschule, die die Mutter trägt, oder Molls Ablehnung der Kirche. Plötzlich behauptet die Mutter zur Irritation der Nachbarschaft, dass ihr Hausschwein Gedanken lesen kann. Sie klettert mit ihrem Kind bei einem Gewitter aufs Hausdach und einmal sogar auf einen Strommast. Das alles scheint im Buch sehr poetisch, mystisch, die Mutter wirkt fast wie ein übernatürliches Wesen. Hat Ihr Roman eine spirituelle Bedeutung? 

Kloeble: Also zumindest dem christlichen Glauben kann Moll ja, wie Sie sagen, nichts abgewinnen. (Pause) Kleine Dinge, die die Mutter macht und die das Dorf ablehnt, sind etwa ihre hohen Absätze und wie die auf dem Kopfsteinpflaster klackern. Das sind einfach diese seltsamen Spielregeln der Gesellschaft, nach denen sie nicht spielen will. Dazu entwirft die Mutter für sich und Moll quasi ein Gegenmodell ... Und wegen der größeren, eher fantastischen Episoden im Buch: Man darf nie vergessen, dass aus der Perspektive eines Kindes erzählt wird. Ich glaube, da schwingt viel meine eigene Erinnerung an das Dorf mit, in dem ich aufgewachsen bin: Als kleiner Junge fand ich die Wiesen, den Wald und die Berge um unser Dorf herum immer etwas unheimlich. Nachts stellte ich mir vor, wie ein Rudel Wölfe unser Haus überfällt. Dass das aus heutiger Perspektive abwegig ist – eh klar! Aber Kinder können nicht alles rationalisieren und sind oft sehr fantasievoll. 

Graf: Dem Alltag in einem solchen Dorf und dem urteilenden Blick der anderen Bewohner entfliehen Moll und ihre Mutter ebenso fantasievoll – in die klassische Musik. Sie sagten bereits, dass Sie selbst als Junge im Chor gesungen haben: Hat Musik heute immer noch eine derart große Bedeutung für Sie?

Kloeble: Ich habe mich offensichtlich nicht längerfristig für eine musikalische Karriere entschieden, sondern für eine in der Literatur. Aber ich bin total dankbar, dass ich damals die Freude an der Musik gelernt und auch begriffen habe, wie wenig ich von Musik begreife. Ich finde zum Beispiel, dass Musik in der Schule ein total unterbewertetes Fach ist. Man könnte Kindern an musikalischer Theorie und Harmonielehre so viel beibringen wie in der Mathematik, finde ich.

Graf: In Ihrem Buch scheinen Sie manchmal zwei Kunstformen miteinander verbinden zu wollen, Literatur und Musik: Etwa bezeichnet Moll Komponisten als „Tondichter“, unsensible Menschen als „Pentatoniker“, und die verschiedenen Abschnitte des Buches haben Sie mit musikalischen Vortragsbezeichnungen wie „majestätisch“, in „gemäßigtem Schritttempo“ oder „lebendig“ versehen. Liegen Literatur und Musik für Sie nah beieinander?

Kloeble: Ich habe es von Anfang an als ein bisschen unfair empfunden, dass ich jetzt ein Buch schreiben muss, in dem es um Musik geht. Ich glaube, gegen die Musik kann die Literatur nur verlieren. Dieser Gedanke kommt mir oft, wenn ich Bücher übersetze oder verreist bin in eine völlig fremde Kultur, deren Sprache ich nicht oder kaum spreche: In einzelnen Wörtern und Eins-zu-eins-Übersetzungen überträgt sich so viel Gefühl, so viel zwischenmenschliche Verbindung nicht. Da wünschte ich manchmal, ich wäre Sänger oder Musiker, weil Musik eine universelle Sprache spricht. Außerdem kann Musik schon dann sehr viel für den Hörer leisten, wenn er oder sie sich nicht besonders viel Mühe gibt. Musik ist einfach da, und das ist genug. Bei einem Roman verlange ich von meinen Leser*innen schon ein wenig Gegenleistung: Fokus, Ruhe, Mitdenken, Mitfühlen.

Graf: Und wenn sich die Lesenden auf Ihr Buch und seine sonderbare Protagonistin nicht einlassen, könnte sie ihn oder sie wahrscheinlich auch kalt lassen.

Kloeble: Genau. Und da hat es sich, bei einem so musikalischen Buch, angeboten, Gefühle und Begriffe einfließen zu lassen, die man sonst mit der Musik assoziiert: zum Beispiel mit den musikalischen Bezeichnungen für die verschiedenen Sätze, die übrigens, wenn man sie zurück ins Italienische übersetzen würde, genau die gleichen wären wie die Bezeichnungen in Beethovens 9. Sinfonie.

Graf: ... ach! Und Moll ist ja so ein Fan von Beethoven. Eine sehr unkonventionelle Idee war auch, dass das Mädchen felsenfest überzeugt ist, dass Beethoven eine Frau gewesen sei. Wie kamen Sie denn darauf? Für diesen Verdacht gibt es keine historischen Hinweise.

Kloeble: Ja, die gibt es nicht. Ich habe für diese Idee extra einen Komponisten gewählt, der im herkömmlichen Sinne sehr maskulin wirkt, dessen Männlichkeit eigentlich nie hinterfragt wird. Anders als die von Mozart, der immer etwas, naja, androgyn scheint, wurde Beethoven immer stark, derb gemalt. Aber wer weiß schon genau, wie er wirklich drauf war? Er hatte keine Nachkommen, ist lange tot. Es ist wie bei dem ganzen Buch: Ich hatte einfach Lust, die Leser*innen aufzufordern, ihre Vorstellungen von Geschlechterrollen und Gesellschaft zu hinterfragen und ihr Denken herauszufordern.

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