Gespräch mit Herausgeber und Übersetzer Hans Pleschinski über „Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette“
Seit über 30 Jahren vermittelt der Schriftsteller Hans Pleschinski als Herausgeber und Übersetzer auch Einblicke in die Geschichte der französischen Kultur, die er als Inbegriff von Stil, Esprit und Eleganz sieht. Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette in den Aufzeichnungen ihrer Kammerfrau Frau Henriette Campan gibt einen Einblick in die Zeit des „Ancien Regime“ sowie der Revolution. Darüber und was die alte Zeit mit der Gegenwart verbindet führen Dagmar Leupold und Hans Pleschinski ein kollegiales Gespräch.
*
Dagmar Leupold: Dein Interesse für große Frauengestalten des 18. Jahrhunderts ist gut und eindrucksvoll belegt, Lieselotte von der Pfalz, Madame de Pompadour – jetzt Marie Antoinette, Tochter Maria Theresias, Ehefrau des Königs Ludwig XVI. und somit Königin von Frankreich im „Ancien Regime“: Was reizt Dich an ihnen, was erregt Dein Interesse an historischen (weiblichen) Figuren, die womöglich einflussreich, aber keine unmittelbaren Akteurinnen waren?
Hans Pleschinski: Ich darf nicht verallgemeinern. Dennoch: Mächtige Männer räumen oft auf oder zerstören. Das war’s dann, damit kommen sie in die Geschichtsbücher. Frauen hingegen hatten fast nie politische Ämter inne. Die bedeutenden und klugen unter ihnen besaßen zumeist Charme, bildeten sich selbst und entwickelten Esprit, um zu ihren Zielen zu gelangen. Dazu konnten durchaus Macht und politscher Einfluss gehören. Madame de Pompadour gebot, auch ohne Amt, als Mätresse König Ludwigs XV. und als ingeniöse Frau zeitweise über Frankreich und steuerte europäische Politik. Ihrem persönlichen Zauber verfiel fast jeder. Solche schillernden und facettenreichen Gestalten – sie sind gar nicht tot, sondern nur abwesend – faszinieren natürlich auch mich. Diese Frauen haben eine feinere Aura als Haudegen. Meine Arbeits- und Lebenszeit ist bemessen, und gerne verbringe ich sie in angenehmer und anregender Gesellschaft. So habe ich mit Liselotte von der Pfalz, die beim Briefeschreiben sang, und nun mit Marie Antoinette und ihrer Kammerfrau Madame Campan jeden Moment genossen. Die Damen bewahrten, auch im Unglück, Stil und Haltung. Man kennt sie weiterhin, weil sie und ihre Schicksale glamouröser oder bitterer waren als die vieler Männer. Aber ich habe, seit Kindesbeinen, die Geschlechter immer für gleichberechtigt, gleichwertig gehalten. In den jeweiligen Rollen kann jeder Mensch Gutes und Böses tun. Nun, vielleicht empfingen mich Frauen, wenn ich ihre Leben auffächern wollte, zuvorkommender als Männer.
Leupold: Im von Dir gewählten Titel ist die Rede vom „verschwenderischen Glück“ der Königin. Ihre – durchaus kindliche unreife – Verschwendungssucht nimmt im Bericht der Kammerfrau Henriette Campan, die ihre Aufzeichnungen im Original mit dem Untertitel „Aus dem Privatleben der Marie Antoinette“ versehen hat, großen Raum ein, aber worauf beziehst Du „Glück“?
Pleschinski: Es gab etliche Jahre, in denen Marie Antoinette, als Kronprinzessin, vor Glück überschäumte. Sie würde, ohne die Konsequenzen zu bedenken, Königin von Frankreich werden. Sie hatte einige höfische Pflichten zu bewältigen. Aber darüber hinaus war sie von Luxus umgeben und genoss es, anfangs geradezu angehimmelt zu werden. Paris, damit Europa, ahmten ihre Einfälle in der Mode nach. Über Geld machte sie sich wenig Gedanken, es floss nach Bedarf. Die kostspielige Seligkeit war allerdings überschattet durch die lange nicht vollzogene Ehe mit Ludwig XVI. Umso forcierter wurde sie das Party-Girl, das Sofia Coppola in ihrem Film Marie Antoinette zeigt. Die Phasen des Glücks wurden, wie es auch Madame Campan beschreibt, später seltener und kürzer. Die Liebe zu ihren Kindern war tief, sie waren ihr Trost, ihre Freude und Glück. Umso schlimmer traf sie der Tod einer Tochter und eines Sohns. Kann man in ihrer letzten Lebenszeit während der Revolution, verunglimpft und gefangen, noch von Glück sprechen? Manchmal ja. Es waren die Stunden im Kreise ihrer Familie und Getreuen, während draußen ihre Ermordung geplant wurde. Ein furchtsames Glück schimmerte durch die Tage, an denen sie auf ihre Flucht und Befreiung hoffen durfte. Vergebens.
Leupold: In einem Radiogespräch sprichst Du von der „schönen tragischen“ Königin, die ein „Angriffsziel“, ein Hassobjekt für alle darstellte – und vergleichst es mit Shitstorms in digitalen Zeiten. Worin besteht die Ähnlichkeit, womöglich in einer Krise der Repräsentation?
Pleschinski: Marie Antoinette lebte zur falschen Zeit am falschen Ort, in Versailles. Sie verbrachte viele Jahre gewiss zu sorglos. Doch niemand ahnte, welcher Orkan sich nahte: die Revolution. Sie allein, sogar ihr Mann, der König, hätten am Lauf der Dinge wohl kaum mehr etwas ändern können. Das uralte System der Monarchie hatte sich überlebt und brach schließlich krachend zusammen. Für die Neuerer, die revolutionären Geister, war ein personifiziertes Feindbild ideal. Das wurde Marie Antoinette, weitaus mehr als ihr gemächlicher Mann. Ihr wurde angelastet, was im Staat schieflief: Korruption, Ungerechtigkeit, Verschwendung und Sittenlosigkeit. Sie schien exemplarisch das Geld zum Fenster hinauszuwerfen, Favoriten hohe Ämter zuzuschanzen. Sie betreibe, wurde verbreitet, jedwede Sexualpraktik mit Liebhabern und Liebhaberinnen. Sie verachte das Volk. Sie kannte es allerdings gar nicht. Marie Antoinette wandte sich von solchen Verleumdungen erstaunt und angewidert ab. Und sie konnte sich auch nicht wehren. Es war undenkbar, dass eine Königin von Frankreich Gegendarstellungen publizierte oder publizieren ließ. Ihr Schweigen machte sie noch mehr zum Opfer geradezu einer Hexenjagd in der öffentlichen Meinung, die damals immer mächtiger wurde. Die Königin entschuldigt sich nicht, also ist sie schuldig, so war die allgemeine Auffassung. Zudem entluden sich an ihr, will es mir scheinen, latenter Frauenhass und Sadismus: Seht diese verschwenderische selbstsüchtige und gewissenlose Königin! Hält sich für unantastbar! Schlagt ihr den Kopf ab! – Welche Lust, sich an dieser Frau zu rächen. Wahrscheinlich ist Marie Antoinette das erste und prominenteste Opfer einer modernen Hetzkampagne und Flut von „Fake News“.
Leupold: Ich fand die Lektüre überaus spannend und lebendig, nicht zuletzt wegen Deiner gut gewählten anschaulichen Kapitelüberschriften und des erhellenden, Orientierung bietenden Vorworts. Wie bist Du vorgegangen in der Doppelfunktion als Herausgeber und Übersetzer?
Pleschinski: Es war kein lang geplantes Projekt. Nach dem Film Lebwohl, meine Königin von Benoît Jacquot, in dem eine Kammerfrau, Madame Campan, eine Hauptrolle spielt, habe ich über Marie Antoinette noch einmal Einiges nachgelesen und stieß dabei auch auf Madame Campan und ihre Memoiren. Ich habe mir das Buch besorgt und war von den ersten Zeilen an fasziniert von der Zeitzeugenschaft Henriette Campans. Mit einem Stöhnen – denn es ist ja stets eine langwierige Arbeit, auf die man sich einlässt – habe ich mit dem Übersetzen begonnen. Zuerst wie für mich selbst, denn das Übersetzen hält sprachlich rege. So ging es Tag für Tag und Kapitel um Kapitel. Man lebt sich ein, auch in Versailles, und ist von spannenden Gestalten und fundamentalen Geschehnissen umgeben. Bitteren Abschied musste ich nicht gleich nehmen, denn nach dem Übersetzen beginnt die Arbeit des Kommentierens, an den Zwischentexten. Sie sollen manche Zusammenhänge erklären, sodass der Leser nicht vor Rätseln steht: Was hat es mit dem Finanzminister Calonne auf sich? Wieviel verdiente eine Kammerfrau? Was ist mit dem berühmten Halsband der Königin geschehen? Eine Mühe besteht darin, die Zwischentexte möglichst knapp zu halten, damit der Leser sagt: „Aha, so war das also“, aber nicht im Lesefluss gestört wird.
Leupold: Zwei Fragen zur Berichterstatterin Henriette Campan: Ich habe mich, besonders im Zweiten Buch, in dem sich das blutige Ende des „Ancien Regime“ anbahnt, gefragt, wie „objektiv“ und zuverlässig die Darstellung der Henriette Campan sind – zu viel der Loyalität? Zu wenig kritische Einordnung in der Nachbetrachtung dreißig Jahre nach der Hinrichtung der Königin? Spielt eventuell auch eine gewisse Selbststilisierung, ein Überbetonen der eigenen Rolle hinein? Und: Gibt es Hinweise auf zeitnahe Aufzeichnungen, z.B. in Gestalt eines Tagebuchs? Es fällt auf, dass der Bericht enorm detailreich ist, bis hin zu Zitaten von Sätzen der Königin oder anderer Personen des Hofstaats in wörtlicher Rede.
Pleschinski: Ich habe nicht das Gefühl, dass Henriette Campan sich nachträglich in den Vordergrund drängt. Sie war in viele Geschehnisse involviert und erzählt, was sie sah und hörte. Ich glaube an die größtmögliche Gewissenhaftigkeit dieser Frau. Und auch kein Zeitgenosse stellte ihren Bericht in Frage. Dass Madame Campan Royalistin war, eine kritische, steht außer Zweifel. Was hätte sie im Dienst der Krone sonst sein sollen? Die Bewegungen der Revolution beobachtete und erlebte sie, und erklärt, für eine präzise politische Historie wären andere Chronisten geeigneter. Sie überlieferte indes die Fülle des Lebens am Hof, dieser goldenen Blase, in der auch sie lebte. Sorgenvoll hing sie an ihrer Dienstherrin, der Königin, und wer wollte es ihr verübeln? Vor dem Grauen, das sich anbahnte, graute auch Madame Campan, deren Leben oft auf dem Spiel stand. Bei einigen Sätzen, Gesprächen, die sie wiedergibt, versichert sie: Was sie erzähle, habe sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Das ist glaubhaft, denn es handelte sich oft um historisch entscheidende Wortwechsel. Die vergisst man nicht. An der Deutung dieser Geschehnisse arbeitet man bis heute.
Leupold: Neben der Nacherzählung der ereignisreichen Umbruchsjahre spielen – gottlob! – auch Dinge wie Mode, Titel, Speisen etc. eine große Rolle in Campans Bericht, das erzeugt eine große Sinnlichkeit. Wie, zum Beispiel, bist Du im Deutschen auf den Titel „Oberalmosier“ gestoßen, wie recherchierst Du dergleichen?
Pleschinski: Sinnlich, so oder so, ist das Dasein hoffentlich immer. Bei vergangenen Leben darf man nicht vergessen, dass alle ihren vollkommen erfüllten Alltag lebten, mitsamt neuen Hüten, dem Kampf um Bedeutung und Rang, oder dass über die angemessenen Fastenspeisen diskutiert wurde. Letzteres war besonders bei den frommen Tanten Ludwigs XVI. – mit dem schönen Titel „Mesdames de France“ – der Fall. Sie riefen sogar einen Bischof herbei und baten um Rat, ob ein Geflügel mager genug oder zu fett für die Fastenzeit sei. Wer will schon wegen zu viel Kalorien die ewige Verdammnis auf sich ziehen? Man liest solche Szenerie mit Staunen, mit mitmenschlicher Anteilnahme, und bemerkt: Gottes Zoo, die Menschheit, ist groß und vielfältig.
Der Almosier tritt in Erscheinung, als Marie Antoinette in Frankreich empfangen wird. Die Zeremonie ihres Entkleidens und Neubekleidens mit französischen Gewändern, die Madame Campan beschreibt, gehört, besonders durch Filme, mittlerweile zu einem allgemeineren Wissensschatz. Ein Almosier kümmert sich um die kirchlichen Belange von Personen oder eines Staats. In Frankreich war es um diese Zeit der Erzbischof von Narbonne. Er trug den Titel Grand Aumônier, also Großalmosier, den Madame Campan allerdings nicht verwendet. Sie spricht von „premier“, also Oberalmosier oder – was auf Deutsch allerdings unschön klingen würde – Erstalmosier. Titel- und Etiketten-Fragen der Vergangenheit sind heikelst. Schon für die Zeitgenossen. Wenn ich für Frankreich bisweilen Rat brauche, wende ich mich an den äußerst umgänglichen und hilfsbereiten Marquis de Langle in Paris, der im Verband des vor-napoleonischen Adels von Frankreich ist. Wenn er sagt: „Die Almosiers waren zwar hohe Würdenträger, aber keine Großwürdenträger“, dann stimmt’s.
Leupold: Dem Kapitel „Neue Köpfe, alte Sorgen“ schickst Du eine längere Einordnung und Analyse der sich zuspitzenden Krise voraus und zitierst einen Satz König Ludwigs XVI.: „Alles, was ich befehle, ist legal, weil es mein Wille ist.“ Hochaktuell, dachte ich, angesichts des zunehmenden Mutwillens autokratischer Staatenlenker – zurecht?
Pleschinski: Wir sollten Monarchen, sogar absolutistische Monarchen nicht mit modernen Diktatoren gleichsetzen. Monarchien entwickelten sich über die Jahrhunderte aus dem Bestreben, eine funktionierende staatliche Ordnung zu erschaffen. Monarchien waren, allein durch ihr Alter, mit dem Begriff und dem Wesen von Würde verwoben. Der gottgesalbte Monarch war Gott und dem Wohlergehen seines Volks verpflichtet, war also Diener eines höheren Prinzips und Herrscher zugleich. Er hatte seine Ratgeber und Ratgeberinnen, er traf segensreiche oder fatale Entscheidungen; aus beidem besteht die Geschichte. Die nackte, oft nur brutale Macht von Diktatoren ist etwas anderes. Sie sind nicht verwurzelt in der langen und wechselvollen Vergangenheit der Völker. Eine Gestalt wie der Sonnenkönig lässt sich nicht gleichsetzen mit der jetzigen mörderischen Giftmade im Kreml. Ein Monarch, der geehrt, bewundert werden wollte, musste zugleich Kulturträger sein. Natürlich gab es Tyrannen, viele und schlimme, doch es bestand schon durch die logistisch-kommunikativen Mittel kaum eine Möglichkeit der Durchdringung des Lebens von Untertanen bis ins Letzte, die geistig-ideologische Unterjochung ganzer Nationen. Die Monarchien mit ihren Ritualen, an denen das Volk Anteil nahm, waren mangelhaft, oft schon für die Zeitgenossen, und haben sich überlebt. Doch Diktaturen, die menschlich sind, gibt es nicht. Monarchien konnten sich verbessern. Diktaturen können sich nur verschlimmern oder auflösen und untergehen.
Leupold: Wer ist als nächste dran 🙂?
Pleschinski: Vielleicht jene schöne Dame in prächtiger Robe und mit Fächer, die in der Fürstenloge des Hoftheaters von Gotha der Musik lauscht. Sie komponiert selbst, hat einen Roman geschrieben, sie korrespondiert mit Jean Paul, mit Madame de Stäel und plaudert brillant. Sie ist der Herzog Emil Leopold August von Sachsen-Gotha-Altenburg, einer der bekanntesten Dandys Europas, der sich auch gerne in Frauenkleidern – als Dragqueen – der staunenden Öffentlichkeit zeigte und den Alltag farbiger machte. In Emil Leopold August, einem Freund Napoleons, hätte ich Mann und Frau glanzvoll vereint 🙂!
Hans Pleschinski: Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette. Die Aufzeichnungen ihrer Kammerfrau Henriette Campan. Verlag C.H. Beck, 2025, 348 S.
Gespräch mit Herausgeber und Übersetzer Hans Pleschinski über „Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette“>
Seit über 30 Jahren vermittelt der Schriftsteller Hans Pleschinski als Herausgeber und Übersetzer auch Einblicke in die Geschichte der französischen Kultur, die er als Inbegriff von Stil, Esprit und Eleganz sieht. Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette in den Aufzeichnungen ihrer Kammerfrau Frau Henriette Campan gibt einen Einblick in die Zeit des „Ancien Regime“ sowie der Revolution. Darüber und was die alte Zeit mit der Gegenwart verbindet führen Dagmar Leupold und Hans Pleschinski ein kollegiales Gespräch.
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Dagmar Leupold: Dein Interesse für große Frauengestalten des 18. Jahrhunderts ist gut und eindrucksvoll belegt, Lieselotte von der Pfalz, Madame de Pompadour – jetzt Marie Antoinette, Tochter Maria Theresias, Ehefrau des Königs Ludwig XVI. und somit Königin von Frankreich im „Ancien Regime“: Was reizt Dich an ihnen, was erregt Dein Interesse an historischen (weiblichen) Figuren, die womöglich einflussreich, aber keine unmittelbaren Akteurinnen waren?
Hans Pleschinski: Ich darf nicht verallgemeinern. Dennoch: Mächtige Männer räumen oft auf oder zerstören. Das war’s dann, damit kommen sie in die Geschichtsbücher. Frauen hingegen hatten fast nie politische Ämter inne. Die bedeutenden und klugen unter ihnen besaßen zumeist Charme, bildeten sich selbst und entwickelten Esprit, um zu ihren Zielen zu gelangen. Dazu konnten durchaus Macht und politscher Einfluss gehören. Madame de Pompadour gebot, auch ohne Amt, als Mätresse König Ludwigs XV. und als ingeniöse Frau zeitweise über Frankreich und steuerte europäische Politik. Ihrem persönlichen Zauber verfiel fast jeder. Solche schillernden und facettenreichen Gestalten – sie sind gar nicht tot, sondern nur abwesend – faszinieren natürlich auch mich. Diese Frauen haben eine feinere Aura als Haudegen. Meine Arbeits- und Lebenszeit ist bemessen, und gerne verbringe ich sie in angenehmer und anregender Gesellschaft. So habe ich mit Liselotte von der Pfalz, die beim Briefeschreiben sang, und nun mit Marie Antoinette und ihrer Kammerfrau Madame Campan jeden Moment genossen. Die Damen bewahrten, auch im Unglück, Stil und Haltung. Man kennt sie weiterhin, weil sie und ihre Schicksale glamouröser oder bitterer waren als die vieler Männer. Aber ich habe, seit Kindesbeinen, die Geschlechter immer für gleichberechtigt, gleichwertig gehalten. In den jeweiligen Rollen kann jeder Mensch Gutes und Böses tun. Nun, vielleicht empfingen mich Frauen, wenn ich ihre Leben auffächern wollte, zuvorkommender als Männer.
Leupold: Im von Dir gewählten Titel ist die Rede vom „verschwenderischen Glück“ der Königin. Ihre – durchaus kindliche unreife – Verschwendungssucht nimmt im Bericht der Kammerfrau Henriette Campan, die ihre Aufzeichnungen im Original mit dem Untertitel „Aus dem Privatleben der Marie Antoinette“ versehen hat, großen Raum ein, aber worauf beziehst Du „Glück“?
Pleschinski: Es gab etliche Jahre, in denen Marie Antoinette, als Kronprinzessin, vor Glück überschäumte. Sie würde, ohne die Konsequenzen zu bedenken, Königin von Frankreich werden. Sie hatte einige höfische Pflichten zu bewältigen. Aber darüber hinaus war sie von Luxus umgeben und genoss es, anfangs geradezu angehimmelt zu werden. Paris, damit Europa, ahmten ihre Einfälle in der Mode nach. Über Geld machte sie sich wenig Gedanken, es floss nach Bedarf. Die kostspielige Seligkeit war allerdings überschattet durch die lange nicht vollzogene Ehe mit Ludwig XVI. Umso forcierter wurde sie das Party-Girl, das Sofia Coppola in ihrem Film Marie Antoinette zeigt. Die Phasen des Glücks wurden, wie es auch Madame Campan beschreibt, später seltener und kürzer. Die Liebe zu ihren Kindern war tief, sie waren ihr Trost, ihre Freude und Glück. Umso schlimmer traf sie der Tod einer Tochter und eines Sohns. Kann man in ihrer letzten Lebenszeit während der Revolution, verunglimpft und gefangen, noch von Glück sprechen? Manchmal ja. Es waren die Stunden im Kreise ihrer Familie und Getreuen, während draußen ihre Ermordung geplant wurde. Ein furchtsames Glück schimmerte durch die Tage, an denen sie auf ihre Flucht und Befreiung hoffen durfte. Vergebens.
Leupold: In einem Radiogespräch sprichst Du von der „schönen tragischen“ Königin, die ein „Angriffsziel“, ein Hassobjekt für alle darstellte – und vergleichst es mit Shitstorms in digitalen Zeiten. Worin besteht die Ähnlichkeit, womöglich in einer Krise der Repräsentation?
Pleschinski: Marie Antoinette lebte zur falschen Zeit am falschen Ort, in Versailles. Sie verbrachte viele Jahre gewiss zu sorglos. Doch niemand ahnte, welcher Orkan sich nahte: die Revolution. Sie allein, sogar ihr Mann, der König, hätten am Lauf der Dinge wohl kaum mehr etwas ändern können. Das uralte System der Monarchie hatte sich überlebt und brach schließlich krachend zusammen. Für die Neuerer, die revolutionären Geister, war ein personifiziertes Feindbild ideal. Das wurde Marie Antoinette, weitaus mehr als ihr gemächlicher Mann. Ihr wurde angelastet, was im Staat schieflief: Korruption, Ungerechtigkeit, Verschwendung und Sittenlosigkeit. Sie schien exemplarisch das Geld zum Fenster hinauszuwerfen, Favoriten hohe Ämter zuzuschanzen. Sie betreibe, wurde verbreitet, jedwede Sexualpraktik mit Liebhabern und Liebhaberinnen. Sie verachte das Volk. Sie kannte es allerdings gar nicht. Marie Antoinette wandte sich von solchen Verleumdungen erstaunt und angewidert ab. Und sie konnte sich auch nicht wehren. Es war undenkbar, dass eine Königin von Frankreich Gegendarstellungen publizierte oder publizieren ließ. Ihr Schweigen machte sie noch mehr zum Opfer geradezu einer Hexenjagd in der öffentlichen Meinung, die damals immer mächtiger wurde. Die Königin entschuldigt sich nicht, also ist sie schuldig, so war die allgemeine Auffassung. Zudem entluden sich an ihr, will es mir scheinen, latenter Frauenhass und Sadismus: Seht diese verschwenderische selbstsüchtige und gewissenlose Königin! Hält sich für unantastbar! Schlagt ihr den Kopf ab! – Welche Lust, sich an dieser Frau zu rächen. Wahrscheinlich ist Marie Antoinette das erste und prominenteste Opfer einer modernen Hetzkampagne und Flut von „Fake News“.
Leupold: Ich fand die Lektüre überaus spannend und lebendig, nicht zuletzt wegen Deiner gut gewählten anschaulichen Kapitelüberschriften und des erhellenden, Orientierung bietenden Vorworts. Wie bist Du vorgegangen in der Doppelfunktion als Herausgeber und Übersetzer?
Pleschinski: Es war kein lang geplantes Projekt. Nach dem Film Lebwohl, meine Königin von Benoît Jacquot, in dem eine Kammerfrau, Madame Campan, eine Hauptrolle spielt, habe ich über Marie Antoinette noch einmal Einiges nachgelesen und stieß dabei auch auf Madame Campan und ihre Memoiren. Ich habe mir das Buch besorgt und war von den ersten Zeilen an fasziniert von der Zeitzeugenschaft Henriette Campans. Mit einem Stöhnen – denn es ist ja stets eine langwierige Arbeit, auf die man sich einlässt – habe ich mit dem Übersetzen begonnen. Zuerst wie für mich selbst, denn das Übersetzen hält sprachlich rege. So ging es Tag für Tag und Kapitel um Kapitel. Man lebt sich ein, auch in Versailles, und ist von spannenden Gestalten und fundamentalen Geschehnissen umgeben. Bitteren Abschied musste ich nicht gleich nehmen, denn nach dem Übersetzen beginnt die Arbeit des Kommentierens, an den Zwischentexten. Sie sollen manche Zusammenhänge erklären, sodass der Leser nicht vor Rätseln steht: Was hat es mit dem Finanzminister Calonne auf sich? Wieviel verdiente eine Kammerfrau? Was ist mit dem berühmten Halsband der Königin geschehen? Eine Mühe besteht darin, die Zwischentexte möglichst knapp zu halten, damit der Leser sagt: „Aha, so war das also“, aber nicht im Lesefluss gestört wird.
Leupold: Zwei Fragen zur Berichterstatterin Henriette Campan: Ich habe mich, besonders im Zweiten Buch, in dem sich das blutige Ende des „Ancien Regime“ anbahnt, gefragt, wie „objektiv“ und zuverlässig die Darstellung der Henriette Campan sind – zu viel der Loyalität? Zu wenig kritische Einordnung in der Nachbetrachtung dreißig Jahre nach der Hinrichtung der Königin? Spielt eventuell auch eine gewisse Selbststilisierung, ein Überbetonen der eigenen Rolle hinein? Und: Gibt es Hinweise auf zeitnahe Aufzeichnungen, z.B. in Gestalt eines Tagebuchs? Es fällt auf, dass der Bericht enorm detailreich ist, bis hin zu Zitaten von Sätzen der Königin oder anderer Personen des Hofstaats in wörtlicher Rede.
Pleschinski: Ich habe nicht das Gefühl, dass Henriette Campan sich nachträglich in den Vordergrund drängt. Sie war in viele Geschehnisse involviert und erzählt, was sie sah und hörte. Ich glaube an die größtmögliche Gewissenhaftigkeit dieser Frau. Und auch kein Zeitgenosse stellte ihren Bericht in Frage. Dass Madame Campan Royalistin war, eine kritische, steht außer Zweifel. Was hätte sie im Dienst der Krone sonst sein sollen? Die Bewegungen der Revolution beobachtete und erlebte sie, und erklärt, für eine präzise politische Historie wären andere Chronisten geeigneter. Sie überlieferte indes die Fülle des Lebens am Hof, dieser goldenen Blase, in der auch sie lebte. Sorgenvoll hing sie an ihrer Dienstherrin, der Königin, und wer wollte es ihr verübeln? Vor dem Grauen, das sich anbahnte, graute auch Madame Campan, deren Leben oft auf dem Spiel stand. Bei einigen Sätzen, Gesprächen, die sie wiedergibt, versichert sie: Was sie erzähle, habe sich ihr unauslöschlich eingeprägt. Das ist glaubhaft, denn es handelte sich oft um historisch entscheidende Wortwechsel. Die vergisst man nicht. An der Deutung dieser Geschehnisse arbeitet man bis heute.
Leupold: Neben der Nacherzählung der ereignisreichen Umbruchsjahre spielen – gottlob! – auch Dinge wie Mode, Titel, Speisen etc. eine große Rolle in Campans Bericht, das erzeugt eine große Sinnlichkeit. Wie, zum Beispiel, bist Du im Deutschen auf den Titel „Oberalmosier“ gestoßen, wie recherchierst Du dergleichen?
Pleschinski: Sinnlich, so oder so, ist das Dasein hoffentlich immer. Bei vergangenen Leben darf man nicht vergessen, dass alle ihren vollkommen erfüllten Alltag lebten, mitsamt neuen Hüten, dem Kampf um Bedeutung und Rang, oder dass über die angemessenen Fastenspeisen diskutiert wurde. Letzteres war besonders bei den frommen Tanten Ludwigs XVI. – mit dem schönen Titel „Mesdames de France“ – der Fall. Sie riefen sogar einen Bischof herbei und baten um Rat, ob ein Geflügel mager genug oder zu fett für die Fastenzeit sei. Wer will schon wegen zu viel Kalorien die ewige Verdammnis auf sich ziehen? Man liest solche Szenerie mit Staunen, mit mitmenschlicher Anteilnahme, und bemerkt: Gottes Zoo, die Menschheit, ist groß und vielfältig.
Der Almosier tritt in Erscheinung, als Marie Antoinette in Frankreich empfangen wird. Die Zeremonie ihres Entkleidens und Neubekleidens mit französischen Gewändern, die Madame Campan beschreibt, gehört, besonders durch Filme, mittlerweile zu einem allgemeineren Wissensschatz. Ein Almosier kümmert sich um die kirchlichen Belange von Personen oder eines Staats. In Frankreich war es um diese Zeit der Erzbischof von Narbonne. Er trug den Titel Grand Aumônier, also Großalmosier, den Madame Campan allerdings nicht verwendet. Sie spricht von „premier“, also Oberalmosier oder – was auf Deutsch allerdings unschön klingen würde – Erstalmosier. Titel- und Etiketten-Fragen der Vergangenheit sind heikelst. Schon für die Zeitgenossen. Wenn ich für Frankreich bisweilen Rat brauche, wende ich mich an den äußerst umgänglichen und hilfsbereiten Marquis de Langle in Paris, der im Verband des vor-napoleonischen Adels von Frankreich ist. Wenn er sagt: „Die Almosiers waren zwar hohe Würdenträger, aber keine Großwürdenträger“, dann stimmt’s.
Leupold: Dem Kapitel „Neue Köpfe, alte Sorgen“ schickst Du eine längere Einordnung und Analyse der sich zuspitzenden Krise voraus und zitierst einen Satz König Ludwigs XVI.: „Alles, was ich befehle, ist legal, weil es mein Wille ist.“ Hochaktuell, dachte ich, angesichts des zunehmenden Mutwillens autokratischer Staatenlenker – zurecht?
Pleschinski: Wir sollten Monarchen, sogar absolutistische Monarchen nicht mit modernen Diktatoren gleichsetzen. Monarchien entwickelten sich über die Jahrhunderte aus dem Bestreben, eine funktionierende staatliche Ordnung zu erschaffen. Monarchien waren, allein durch ihr Alter, mit dem Begriff und dem Wesen von Würde verwoben. Der gottgesalbte Monarch war Gott und dem Wohlergehen seines Volks verpflichtet, war also Diener eines höheren Prinzips und Herrscher zugleich. Er hatte seine Ratgeber und Ratgeberinnen, er traf segensreiche oder fatale Entscheidungen; aus beidem besteht die Geschichte. Die nackte, oft nur brutale Macht von Diktatoren ist etwas anderes. Sie sind nicht verwurzelt in der langen und wechselvollen Vergangenheit der Völker. Eine Gestalt wie der Sonnenkönig lässt sich nicht gleichsetzen mit der jetzigen mörderischen Giftmade im Kreml. Ein Monarch, der geehrt, bewundert werden wollte, musste zugleich Kulturträger sein. Natürlich gab es Tyrannen, viele und schlimme, doch es bestand schon durch die logistisch-kommunikativen Mittel kaum eine Möglichkeit der Durchdringung des Lebens von Untertanen bis ins Letzte, die geistig-ideologische Unterjochung ganzer Nationen. Die Monarchien mit ihren Ritualen, an denen das Volk Anteil nahm, waren mangelhaft, oft schon für die Zeitgenossen, und haben sich überlebt. Doch Diktaturen, die menschlich sind, gibt es nicht. Monarchien konnten sich verbessern. Diktaturen können sich nur verschlimmern oder auflösen und untergehen.
Leupold: Wer ist als nächste dran 🙂?
Pleschinski: Vielleicht jene schöne Dame in prächtiger Robe und mit Fächer, die in der Fürstenloge des Hoftheaters von Gotha der Musik lauscht. Sie komponiert selbst, hat einen Roman geschrieben, sie korrespondiert mit Jean Paul, mit Madame de Stäel und plaudert brillant. Sie ist der Herzog Emil Leopold August von Sachsen-Gotha-Altenburg, einer der bekanntesten Dandys Europas, der sich auch gerne in Frauenkleidern – als Dragqueen – der staunenden Öffentlichkeit zeigte und den Alltag farbiger machte. In Emil Leopold August, einem Freund Napoleons, hätte ich Mann und Frau glanzvoll vereint 🙂!
Hans Pleschinski: Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette. Die Aufzeichnungen ihrer Kammerfrau Henriette Campan. Verlag C.H. Beck, 2025, 348 S.