Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 26: Otto Flake, Hortense oder Die Rückkehr
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
Otto Flake ist ein Einzelgänger und Freigeist, ein Starautor seiner Zeit und ein Kosmopolit, aber am Ende seines Lebens verarmt und fast vergessen. Von Kollegen wie Kurt Tucholsky und Stefan Zweig ist er hochgeschätzt. Flake ist produktiv und schreibt über einhundert Bücher. Als gebürtiger Elsässer vermittelt er ein Leben lang zwischen Deutschland und Frankreich. Als 2003 der Roman Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden als Manesse-Band erscheint, rühmt ihn der Kritiker Gustav Seibt als „ein Wunderwerk des historischen Kolorits“: „Am Ende, beim Zuschlagen, fragt man sich betroffen: Warum hat man uns von diesem Autor nie erzählt?“
In seinem Roman erzählt Flake in klarem, sachlichem Stil von den Erlebnissen der Adligen Hortense von Wierssen in Brüssel, London, Amerika und schließlich Baden-Baden, markiert durch die historischen Einschnitte von 1848 und 1870/71, und feiert das gesellschaftliche Leben in den Salons.
„Im Jahre 1845 ereignete sich in einer Familie des badischen Adels, die im mittleren Teil des Großherzogtums ansässig war, ein Vorfall, der in der Folge nicht aufgeklärt werden konnte. Kurz vor der Trauung mit dem Freiherrn von G., die der Koadjutor, ihr Oheim, vollziehen sollte, ging die achtzehnjährige Hortense von Wierssen im Bahnhof von Oos spurlos verschwunden.“ Das sind die ersten beiden Sätze eines erstaunlich oft wiederaufgelegten und doch erstaunlich vergessenen Romans des fast ebenso vergessenen Otto Flake. Alles deutet hier auf üppige, vom 19. Jahrhundert geprägte Verhältnisse hin. Deutschland sonnt sich in der Geborgenheit kleinerer Großherzogtümer, junge Damen werden standesgemäß verheiratet, das Leben verläuft streng nach einem vorgezeichneten Plan, der dem Fahrplan der noch jungen Dampfeisenbahn ähnelt. Doch genau am Bahnhof – ein bezeichnendes Symbol – geht Hortense verloren. Sie entzieht sich dem vorgegebenen Rahmen, tritt aus der Spur und eröffnet sich ein neues Leben.
Otto Flake beschreibt diesen Ausbruch in einer kühlen, eleganten Sprache, die einen subtilen, ins Konservative gewendeten Unterton zeigt. Flake lässt ein reiches Panorama der europäischen Gesellschaft entstehen, das Hortense nicht nur als Zeitzeugin dieser Jahre, sondern auch als eine jüngere Schwester der Effi Briest erscheinen lässt. Doch nicht nur sie bricht aus – auch der Autor und seine Leser lassen, im Jahr 1933, mit Hortense die düstere Ära der Zeitenwende hinter sich. Heute, unter besseren Vorzeichen, hat dieser Bildungsroman nichts von seiner erzählerischen Kraft und Tiefe eingebüßt, auch wenn das chronologische Erzählen ohne Brüche dem literarischen 19. Jahrhundert verhaftet ist.
Flake wird 1880 in Metz geboren. Als Otto neun Jahre alt ist, nimmt sich sein Vater das Leben – ein Schatten auf seine Kindheit. Nach einer schwierigen Schulzeit in Colmar beginnt er 1900 ein Studium der Germanistik, Philosophie, des Sanskrit und der Kunstgeschichte in Straßburg, das er jedoch nicht beendet. Sein elsässisches Bewusstsein prägt ihn und macht ihn zu einem „guten Europäer“, wie er in einer gleichnamigen Essaysammlung dargelegt hat. Es führt ihn auch in den Kreis des „Jüngsten Elsass“, wo er unter anderem mit René Schickele und Ernst Stadler zusammenarbeitet. Ab 1902 ist er Herausgeber der Zeitschrift Der Stürmer, die 1903 in Der Merker umbenannt wird. Zunächst als Hauslehrer in Sankt Petersburg tätig, wechselt Flake 1907 in die Rolle des Feuilletonchefs beim Leipziger Tagblatt. Ab 1909 lebt er als freier Schriftsteller an wechselnden Orten.
Im Jahr 1918, als Korrespondent in Zürich, tritt Flake dem Dadaismus bei. Zusammen mit Walter Serner und Tristan Tzara gibt er die letzte Dada-Publikation in Zürich heraus und porträtiert den Kreis um Hans Arp und Hugo Ball in seinem Roman Nein und Ja (1920). Später distanziert er sich von den experimentellen Formen der Prosa und kehrt zum traditionellen, linearen Erzählen zurück. In historischen Biografien und fiktiven Biografien findet er die für seine literarische Arbeit geeignete Form.
Auf Verlangen seines Verlags unterzeichnete Flake 1933 eine „Loyalitätserklärung deutscher Schriftsteller“ an den Reichskanzler Adolf Hitler. Diese Geste führt zu einem hohen Ansehensverlust in antifaschistischen Kreisen. Gleichzeitig verweigern ihm die Nationalsozialisten jedoch die Druckgenehmigung für seine Werke, da er als linksbürgerlicher Autor gilt.
Die Kriegsjahre verbringt Flake unter zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in der Isolation von Baden-Baden, wo er sich 1928 niedergelassen hat. Dort heiratet er 1932 in seiner fünften Ehe die wesentlich jüngere Marianne Hitz, die gemäß der nationalsozialistischen Propaganda als „Halbjüdin“ gilt. Trotz der finanziellen Nöte vermeidet er die Emigration. Der Schriftsteller verwandelt sich in einen von Schulden geplagten Schreibtischarbeiter. 1933 erscheint sein Roman Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden.
Nach dem Ende des Krieges wird Flake Mitglied des antifaschistischen Kulturrats und begegnet dem aus der Emigration zurückgekehrten Alfred Döblin. In der Nachkriegszeit gerät der elsässische Autor weitgehend in Vergessenheit, und nur durch Rundfunkbeiträge sowie Übersetzungen kann er sich über Wasser halten.
Erst 1958 erlebt er eine Wiederentdeckung, vor allem durch das engagierte Wirken von Rolf Hochhuth. Zwei Jahre später ehrt Baden-Baden seinen Schriftsteller mit der Verleihung des Heimatpreises der Stadt. Als jedoch der Vorschlag aufkommt, Flake zum Ehrenbürger von Baden-Baden zu ernennen, lehnt die CDU diese Ehrung ab und rät ihm stattdessen, „in die Ostzone auszuwandern“, wie Hochhuth berichtet. Flake hat zuvor gegen die Zensur eines Stückes von Bertolt Brecht protestiert, das aufgrund des Hinweises auf den Bau der Berliner Mauer vom Spielplan des örtlichen Theaters genommen werden soll.
Flake leidet an Herzproblemen und Leberbeschwerden und stirbt am 10. November 1963 im Krankenhaus von Baden-Baden.
Otto Flake: Hortense oder Die Rückkehr nach Baden-Baden. Roman. Mit einem Nachwort von Gert Ueding. Manesse, Zürich 2003. Neuausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005.
Lesen Sie nächste Woche, welcher Autor aus Bayern mit D. H. Lawrence befreundet war und sich mit seinem Werk u.a. für die „Neue Frau“ der 1920er-Jahre engagierte.
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300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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Otto Flake ist ein Einzelgänger und Freigeist, ein Starautor seiner Zeit und ein Kosmopolit, aber am Ende seines Lebens verarmt und fast vergessen. Von Kollegen wie Kurt Tucholsky und Stefan Zweig ist er hochgeschätzt. Flake ist produktiv und schreibt über einhundert Bücher. Als gebürtiger Elsässer vermittelt er ein Leben lang zwischen Deutschland und Frankreich. Als 2003 der Roman Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden als Manesse-Band erscheint, rühmt ihn der Kritiker Gustav Seibt als „ein Wunderwerk des historischen Kolorits“: „Am Ende, beim Zuschlagen, fragt man sich betroffen: Warum hat man uns von diesem Autor nie erzählt?“
In seinem Roman erzählt Flake in klarem, sachlichem Stil von den Erlebnissen der Adligen Hortense von Wierssen in Brüssel, London, Amerika und schließlich Baden-Baden, markiert durch die historischen Einschnitte von 1848 und 1870/71, und feiert das gesellschaftliche Leben in den Salons.
„Im Jahre 1845 ereignete sich in einer Familie des badischen Adels, die im mittleren Teil des Großherzogtums ansässig war, ein Vorfall, der in der Folge nicht aufgeklärt werden konnte. Kurz vor der Trauung mit dem Freiherrn von G., die der Koadjutor, ihr Oheim, vollziehen sollte, ging die achtzehnjährige Hortense von Wierssen im Bahnhof von Oos spurlos verschwunden.“ Das sind die ersten beiden Sätze eines erstaunlich oft wiederaufgelegten und doch erstaunlich vergessenen Romans des fast ebenso vergessenen Otto Flake. Alles deutet hier auf üppige, vom 19. Jahrhundert geprägte Verhältnisse hin. Deutschland sonnt sich in der Geborgenheit kleinerer Großherzogtümer, junge Damen werden standesgemäß verheiratet, das Leben verläuft streng nach einem vorgezeichneten Plan, der dem Fahrplan der noch jungen Dampfeisenbahn ähnelt. Doch genau am Bahnhof – ein bezeichnendes Symbol – geht Hortense verloren. Sie entzieht sich dem vorgegebenen Rahmen, tritt aus der Spur und eröffnet sich ein neues Leben.
Otto Flake beschreibt diesen Ausbruch in einer kühlen, eleganten Sprache, die einen subtilen, ins Konservative gewendeten Unterton zeigt. Flake lässt ein reiches Panorama der europäischen Gesellschaft entstehen, das Hortense nicht nur als Zeitzeugin dieser Jahre, sondern auch als eine jüngere Schwester der Effi Briest erscheinen lässt. Doch nicht nur sie bricht aus – auch der Autor und seine Leser lassen, im Jahr 1933, mit Hortense die düstere Ära der Zeitenwende hinter sich. Heute, unter besseren Vorzeichen, hat dieser Bildungsroman nichts von seiner erzählerischen Kraft und Tiefe eingebüßt, auch wenn das chronologische Erzählen ohne Brüche dem literarischen 19. Jahrhundert verhaftet ist.
Flake wird 1880 in Metz geboren. Als Otto neun Jahre alt ist, nimmt sich sein Vater das Leben – ein Schatten auf seine Kindheit. Nach einer schwierigen Schulzeit in Colmar beginnt er 1900 ein Studium der Germanistik, Philosophie, des Sanskrit und der Kunstgeschichte in Straßburg, das er jedoch nicht beendet. Sein elsässisches Bewusstsein prägt ihn und macht ihn zu einem „guten Europäer“, wie er in einer gleichnamigen Essaysammlung dargelegt hat. Es führt ihn auch in den Kreis des „Jüngsten Elsass“, wo er unter anderem mit René Schickele und Ernst Stadler zusammenarbeitet. Ab 1902 ist er Herausgeber der Zeitschrift Der Stürmer, die 1903 in Der Merker umbenannt wird. Zunächst als Hauslehrer in Sankt Petersburg tätig, wechselt Flake 1907 in die Rolle des Feuilletonchefs beim Leipziger Tagblatt. Ab 1909 lebt er als freier Schriftsteller an wechselnden Orten.
Im Jahr 1918, als Korrespondent in Zürich, tritt Flake dem Dadaismus bei. Zusammen mit Walter Serner und Tristan Tzara gibt er die letzte Dada-Publikation in Zürich heraus und porträtiert den Kreis um Hans Arp und Hugo Ball in seinem Roman Nein und Ja (1920). Später distanziert er sich von den experimentellen Formen der Prosa und kehrt zum traditionellen, linearen Erzählen zurück. In historischen Biografien und fiktiven Biografien findet er die für seine literarische Arbeit geeignete Form.
Auf Verlangen seines Verlags unterzeichnete Flake 1933 eine „Loyalitätserklärung deutscher Schriftsteller“ an den Reichskanzler Adolf Hitler. Diese Geste führt zu einem hohen Ansehensverlust in antifaschistischen Kreisen. Gleichzeitig verweigern ihm die Nationalsozialisten jedoch die Druckgenehmigung für seine Werke, da er als linksbürgerlicher Autor gilt.
Die Kriegsjahre verbringt Flake unter zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen in der Isolation von Baden-Baden, wo er sich 1928 niedergelassen hat. Dort heiratet er 1932 in seiner fünften Ehe die wesentlich jüngere Marianne Hitz, die gemäß der nationalsozialistischen Propaganda als „Halbjüdin“ gilt. Trotz der finanziellen Nöte vermeidet er die Emigration. Der Schriftsteller verwandelt sich in einen von Schulden geplagten Schreibtischarbeiter. 1933 erscheint sein Roman Hortense oder die Rückkehr nach Baden-Baden.
Nach dem Ende des Krieges wird Flake Mitglied des antifaschistischen Kulturrats und begegnet dem aus der Emigration zurückgekehrten Alfred Döblin. In der Nachkriegszeit gerät der elsässische Autor weitgehend in Vergessenheit, und nur durch Rundfunkbeiträge sowie Übersetzungen kann er sich über Wasser halten.
Erst 1958 erlebt er eine Wiederentdeckung, vor allem durch das engagierte Wirken von Rolf Hochhuth. Zwei Jahre später ehrt Baden-Baden seinen Schriftsteller mit der Verleihung des Heimatpreises der Stadt. Als jedoch der Vorschlag aufkommt, Flake zum Ehrenbürger von Baden-Baden zu ernennen, lehnt die CDU diese Ehrung ab und rät ihm stattdessen, „in die Ostzone auszuwandern“, wie Hochhuth berichtet. Flake hat zuvor gegen die Zensur eines Stückes von Bertolt Brecht protestiert, das aufgrund des Hinweises auf den Bau der Berliner Mauer vom Spielplan des örtlichen Theaters genommen werden soll.
Flake leidet an Herzproblemen und Leberbeschwerden und stirbt am 10. November 1963 im Krankenhaus von Baden-Baden.
Otto Flake: Hortense oder Die Rückkehr nach Baden-Baden. Roman. Mit einem Nachwort von Gert Ueding. Manesse, Zürich 2003. Neuausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005.
Lesen Sie nächste Woche, welcher Autor aus Bayern mit D. H. Lawrence befreundet war und sich mit seinem Werk u.a. für die „Neue Frau“ der 1920er-Jahre engagierte.