Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 20: Gutti Alsen, Requiem (1929)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
*
„Die trübe Melodie der Harmonika ist zum kleinen Kinderlied geworden, das in mein aufschreiendes Herz schlägt. So will ich versuchen, dich heraufzubeschwören aus deinem Verschwundensein. So will ich versuchen, dein Wesen widerzuspiegeln. Dass ein Buch dich durch die vielen Jahrzehnte trage, die dir geraubt sind. Dass du auferstehst, wenn auch als Schatten, für dieses Geschlecht. Und vielleicht die überdauerst, die heute stark sind an Leben und Gut.“
Mit nur zwanzig Jahren verstirbt die Tochter der heute weithin vergessenen expressionistischen Schriftstellerin Gutti Alsen an einer fiebrigen Infektion. In ihrer tiefen Trauer sieht die Mutter alles, was sie noch für die viel zu früh Verlorene tun kann, darin, das vorliegende Requiem zu verfassen, das den Untertitel „Dies schwarze Leid“ trägt. Ihr Ziel ist es, das Verschwundene „heraufzubeschwören“, das Wesen ihrer Tochter aus der Dunkelheit des Verschwindens in ihrem Werk „widerzuspiegeln“. In dem Prolog, der gleichermaßen ergreifend wie erschütternd ist, teilt Alsen diese emotionale Mission mit, wobei sie mit kraftvollen Bildern und Metaphern brilliert, in denen sie ihre unermessliche Trauer förmlich herausweint.
Obwohl der Roman erst ein Jahr nach Alsens eigenem Tod im Jahr 1929 und somit einige Jahre nach dem Tod ihrer offenbar bereits 1923 bzw. 1924 verstorbenen Tochter veröffentlicht wurde, hat sich der Wunsch der Autorin, ihr Werk möge die Verstorbene „durch die vielen Jahrzehnte tragen“, die ihr „geraubt sind“, in gewisser Weise mit dieser Neuausgabe noch erfüllt. Der zweifellos (auto-)biografisch zu lesende Roman ist als Monolog verfasst, mit dem die Mutter zu ihrer verstorbenen Tochter spricht.
Beginnend in den Tagen, Wochen oder Monaten nach der Geburt ihres „einzigen Kindes“ erfasst Alsen in dem Roman zunächst einzelne, flüchtige Momente aus dessen Leben, die sich im Verlauf der Erzählung zu einer zusammenhängenden und fortlaufenden Narration verdichten. In dieser ergeben sich immer wieder tragische Verluste, die vor allem die Tochter schwer treffen. So muss die Heranwachsende etwa den Tod ihres Vaters sowie den Verlust einer Freundin verarbeiten. Die tröstenden Worte der Mutter, dass sie neue Freunde finden werde, nachdem eine weitere Freundin sich von ihr abgewandt hat, weist die Tochter mit der resoluten Bemerkung zurück, niemand sei ersetzbar und jeder bleibe „einmalig in dieser Welt“.
Bald darauf beginnt die Tochter der Ich-Erzählerin, angeregt durch das 1887 posthum veröffentlichte Tagebuch der russischen Malerin Marie Bashkirtseff (1858-1884), selbst zu schreiben, und lässt sich von ihrer Mutter deren Besuch im Haus der zuvor Verstorbenen schildern. Vor dem Hintergrund der erschütternden Erkenntnis, dass von Bashkirtseffs „außerordentlichem Talent, ihrem brennenden Durst nach den Weinen des Lebens“ nichts geblieben ist als „das Leuchten ihres Totenhauses“, versinkt die Tochter zunehmend in Untergangsfantasien. Diese kulminieren in der schmerzlichen Vision, „dass niemand mehr ein Lachen habe, wenn ich, ich, die diese ganze herrliche Welt so unsinnig liebt, sie verlassen muss!“
In den Jahren, in denen ihre Tochter heranwächst und sich scheinbar mehr und mehr von ihr zu entfernen beginnt, empfindet die Ich-Erzählerin eine zunehmende Entfremdung von ihr. Diese seelische Zerrissenheit verarbeitet sie in einem Roman, der ihr dazu dienen soll, die Tochter „neu zu gebären“. Dennoch hegt sie Bedenken, das Werk zu veröffentlichen, aus der Sorge heraus, dass der Roman, der von der Selbstaufgabe einer Mutter für ihre beiden missratenen Söhne erzählt, allzu intime Einblicke in ihre eigene Beziehung zu ihrer Tochter gewähren könnte. Aus diesem Grund überlässt sie ihrer Tochter das Manuskript zur Lektüre. Diese jedoch hegt keinerlei Zweifel an einer Veröffentlichung, da der Roman für sie lediglich einen „Angstschrei“ darstellt.
Tatsächlich veröffentlichte Alsen bereits 1922 unter dem Titel Die Mutter einen Roman, der das fatale Mutter-Sohn-Verhältnis thematisiert, welches auch in Requiem beschrieben wird. Während sich das vorliegende Requiem ganz auf die Mutter-Tochter-Beziehung fokussiert, dringen die dramatischen Ereignisse der Zeit immer wieder in die Erzählung ein. So fällt ein junger Mann, mit dem die Tochter seit Kindertagen befreundet war, im Ersten Weltkrieg, und die Mutter richtet einen dreifachen „Fluch den Greisen an den grünen Tischen“, „Fluch den Machthabern“, „Fluch den Verblendeten“ aus. Die dreifache Verfluchung erinnert an die Worte der lange unterschätzten Heimatdichterin Clara Viebig, die in ihrem 1917 erschienenen Antikriegsroman Töchter der Hekuba den wiederholten „Fluch dem Krieg!“ prägnant formuliert hatte.
Gegen Ende des Werks fügt die Autorin einige Passagen aus dem Tagebuch der Tochter ein, deren letzter Eintrag kurz vor ihrem Tod verfasst wurde. Diese Zeilen wirken so authentisch wie fiktiv, genau wie der Roman selbst. Er endet ebenso ergreifend wie er beginnt – im Sterbezimmer der Tochter, in dessen „Winkel“ der „düstere Freier“ während der „langen Fiebertage“ der Leidenden stumm und geduldig verharrt, während die Mutter von einer Verschmelzung mit der Sterbenden träumt.
Mit Requiem ist ein Werk neu veröffentlicht worden, das nicht nur die Tochter der Schriftstellerin lebhaft vor Augen ruft, sondern vor allem das literarische Erbe der weitgehend unbekannten Expressionistin Gutti (eigentlich: Gustave) Alsen einer breiteren Öffentlichkeit näherbringt. Diese 1869 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geborene Autorin stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie und etablierte sich als agile Netzwerkerin zu einer festen Größe im literarischen Leben ihrer Zeit. Sehr viel mehr ist über sie nicht bekannt.
Gutti Alsen: Requiem. Dies schwarze Leid. Homunculus Verlag, Erlangen 2019
Lesen Sie nächste Woche über eine adelige Sozialistin und Autorin und ihr autobiografisches Buch.
Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 20: Gutti Alsen, Requiem (1929)>
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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„Die trübe Melodie der Harmonika ist zum kleinen Kinderlied geworden, das in mein aufschreiendes Herz schlägt. So will ich versuchen, dich heraufzubeschwören aus deinem Verschwundensein. So will ich versuchen, dein Wesen widerzuspiegeln. Dass ein Buch dich durch die vielen Jahrzehnte trage, die dir geraubt sind. Dass du auferstehst, wenn auch als Schatten, für dieses Geschlecht. Und vielleicht die überdauerst, die heute stark sind an Leben und Gut.“
Mit nur zwanzig Jahren verstirbt die Tochter der heute weithin vergessenen expressionistischen Schriftstellerin Gutti Alsen an einer fiebrigen Infektion. In ihrer tiefen Trauer sieht die Mutter alles, was sie noch für die viel zu früh Verlorene tun kann, darin, das vorliegende Requiem zu verfassen, das den Untertitel „Dies schwarze Leid“ trägt. Ihr Ziel ist es, das Verschwundene „heraufzubeschwören“, das Wesen ihrer Tochter aus der Dunkelheit des Verschwindens in ihrem Werk „widerzuspiegeln“. In dem Prolog, der gleichermaßen ergreifend wie erschütternd ist, teilt Alsen diese emotionale Mission mit, wobei sie mit kraftvollen Bildern und Metaphern brilliert, in denen sie ihre unermessliche Trauer förmlich herausweint.
Obwohl der Roman erst ein Jahr nach Alsens eigenem Tod im Jahr 1929 und somit einige Jahre nach dem Tod ihrer offenbar bereits 1923 bzw. 1924 verstorbenen Tochter veröffentlicht wurde, hat sich der Wunsch der Autorin, ihr Werk möge die Verstorbene „durch die vielen Jahrzehnte tragen“, die ihr „geraubt sind“, in gewisser Weise mit dieser Neuausgabe noch erfüllt. Der zweifellos (auto-)biografisch zu lesende Roman ist als Monolog verfasst, mit dem die Mutter zu ihrer verstorbenen Tochter spricht.
Beginnend in den Tagen, Wochen oder Monaten nach der Geburt ihres „einzigen Kindes“ erfasst Alsen in dem Roman zunächst einzelne, flüchtige Momente aus dessen Leben, die sich im Verlauf der Erzählung zu einer zusammenhängenden und fortlaufenden Narration verdichten. In dieser ergeben sich immer wieder tragische Verluste, die vor allem die Tochter schwer treffen. So muss die Heranwachsende etwa den Tod ihres Vaters sowie den Verlust einer Freundin verarbeiten. Die tröstenden Worte der Mutter, dass sie neue Freunde finden werde, nachdem eine weitere Freundin sich von ihr abgewandt hat, weist die Tochter mit der resoluten Bemerkung zurück, niemand sei ersetzbar und jeder bleibe „einmalig in dieser Welt“.
Bald darauf beginnt die Tochter der Ich-Erzählerin, angeregt durch das 1887 posthum veröffentlichte Tagebuch der russischen Malerin Marie Bashkirtseff (1858-1884), selbst zu schreiben, und lässt sich von ihrer Mutter deren Besuch im Haus der zuvor Verstorbenen schildern. Vor dem Hintergrund der erschütternden Erkenntnis, dass von Bashkirtseffs „außerordentlichem Talent, ihrem brennenden Durst nach den Weinen des Lebens“ nichts geblieben ist als „das Leuchten ihres Totenhauses“, versinkt die Tochter zunehmend in Untergangsfantasien. Diese kulminieren in der schmerzlichen Vision, „dass niemand mehr ein Lachen habe, wenn ich, ich, die diese ganze herrliche Welt so unsinnig liebt, sie verlassen muss!“
In den Jahren, in denen ihre Tochter heranwächst und sich scheinbar mehr und mehr von ihr zu entfernen beginnt, empfindet die Ich-Erzählerin eine zunehmende Entfremdung von ihr. Diese seelische Zerrissenheit verarbeitet sie in einem Roman, der ihr dazu dienen soll, die Tochter „neu zu gebären“. Dennoch hegt sie Bedenken, das Werk zu veröffentlichen, aus der Sorge heraus, dass der Roman, der von der Selbstaufgabe einer Mutter für ihre beiden missratenen Söhne erzählt, allzu intime Einblicke in ihre eigene Beziehung zu ihrer Tochter gewähren könnte. Aus diesem Grund überlässt sie ihrer Tochter das Manuskript zur Lektüre. Diese jedoch hegt keinerlei Zweifel an einer Veröffentlichung, da der Roman für sie lediglich einen „Angstschrei“ darstellt.
Tatsächlich veröffentlichte Alsen bereits 1922 unter dem Titel Die Mutter einen Roman, der das fatale Mutter-Sohn-Verhältnis thematisiert, welches auch in Requiem beschrieben wird. Während sich das vorliegende Requiem ganz auf die Mutter-Tochter-Beziehung fokussiert, dringen die dramatischen Ereignisse der Zeit immer wieder in die Erzählung ein. So fällt ein junger Mann, mit dem die Tochter seit Kindertagen befreundet war, im Ersten Weltkrieg, und die Mutter richtet einen dreifachen „Fluch den Greisen an den grünen Tischen“, „Fluch den Machthabern“, „Fluch den Verblendeten“ aus. Die dreifache Verfluchung erinnert an die Worte der lange unterschätzten Heimatdichterin Clara Viebig, die in ihrem 1917 erschienenen Antikriegsroman Töchter der Hekuba den wiederholten „Fluch dem Krieg!“ prägnant formuliert hatte.
Gegen Ende des Werks fügt die Autorin einige Passagen aus dem Tagebuch der Tochter ein, deren letzter Eintrag kurz vor ihrem Tod verfasst wurde. Diese Zeilen wirken so authentisch wie fiktiv, genau wie der Roman selbst. Er endet ebenso ergreifend wie er beginnt – im Sterbezimmer der Tochter, in dessen „Winkel“ der „düstere Freier“ während der „langen Fiebertage“ der Leidenden stumm und geduldig verharrt, während die Mutter von einer Verschmelzung mit der Sterbenden träumt.
Mit Requiem ist ein Werk neu veröffentlicht worden, das nicht nur die Tochter der Schriftstellerin lebhaft vor Augen ruft, sondern vor allem das literarische Erbe der weitgehend unbekannten Expressionistin Gutti (eigentlich: Gustave) Alsen einer breiteren Öffentlichkeit näherbringt. Diese 1869 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geborene Autorin stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie und etablierte sich als agile Netzwerkerin zu einer festen Größe im literarischen Leben ihrer Zeit. Sehr viel mehr ist über sie nicht bekannt.
Gutti Alsen: Requiem. Dies schwarze Leid. Homunculus Verlag, Erlangen 2019
Lesen Sie nächste Woche über eine adelige Sozialistin und Autorin und ihr autobiografisches Buch.