Krafts Schattenkanon. Eine Ergänzung. Teil 21: Hermynia Zur Mühlen, Ende und Anfang (1929)
300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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„Die Welt, in der ich aufwuchs, ist tot; wenn auch viele ihrer einstigen Bewohner noch leben“, beginnt Hermynia Zur Mühlens 1929 erschienenes Lebensbuch Ende und Anfang. Die Welt, von der die Rede ist, meint die dahinsiechende k.u.k. Monarchie Österreichs. Karl Kraus schmäht dieses Reich, Joseph Roth begleitet melancholisch seinen Niedergang. Zur Mühlen, selbstbewusster Spross des europäischen Hochadels, lässt es entschlossen hinter sich. Bereits als Zwölfjährige gründet sie einen Verein mit dem einzigen Ziel, den Adel abzuschaffen: „Ich brach mit meiner alten Welt“, heißt es am Ende dieser Erinnerungen, „und wagte den Sprung in die neue. Ich lernte arbeiten, auf eigenen Füßen stehen.“
Die „rote Gräfin“ ist eine der bekanntesten kommunistischen Publizistinnen der Weimarer Republik. Dieses „Lebensbuch“ rechnet kompromisslos mit den aristokratischen Kreisen ab, aus denen die Autorin kommt, und zeichnet ihren unkonventionellen Lebensweg und ihre politische Entwicklung eindringlich nach. Ihre Autobiografie ist bei Erscheinen ein großer Erfolg und entfaltet das schillernde Panorama eines Lebens, das man so kaum erfinden könnte.
Hermynia zur Mühlen wird 1883 als Gräfin Hermine Isabelle Maria Folliot de Crenneville in Wien geboren. Die zweite Tochter eines Diplomaten erzählt in ihrer Autobiografie Ende und Anfang, dass sie sich als Kind am liebsten bei ihrer Großmutter aufhielt, einer Engländerin mit liberalen Ansichten. Bei dieser entwickelte die kleine Komtess ihren Sinn für Gerechtigkeit – und eine herablassende Haltung gegenüber dem Bürgertum. „Dass die Aristokraten sich für den umbilicus mundi hielten, war nicht einzig und allein ihre Schuld; die in Ehrfurcht ersterbenden Bürger trugen ihr Teil dazu bei. Ich erinnere mich ganz genau, dass ein Arzt, sonst ein netter kluger Mensch, anlässlich des großen Brandes beim Wohltätigkeitsbasar in Paris sagte: 'Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, wie viele Aristokraten dabei verbrannt sind!' Und ich erinnere mich auch an die sanfte Frage meiner Großmutter: 'Glauben Sie, dass es für die anderen nicht ebenso schrecklich war, Herr Doktor?'“
Eigensinnig, wie sie ist, heiratet sie gegen den elterlichen Willen 1908 den deutschbaltischen Großgrundbesitzer Victor von zur Mühlen und folgt ihm auf sein Landgut im heutigen Estland. „Die größeren Güter hatten einen eigenen „Uriadnik“, Landgendarmen, und dessen Aussage genügte, um einen Menschen die lange Reise antreten zu lassen ... Die baltischen Barone, deutsch bis in die Knochen, wilde Gegner alles Russischen, fanden dieses Regime äußerst sympathisch; ihnen geschah nichts, und sie konnten mit seiner Hilfe ihre Arbeiter kleinkriegen.“ Die Ehe mit dem knochentrockenen Krautjunker ist sehr unglücklich; Hermynia Zur Mühlen lässt sich 1920 von ihrem Mann scheiden. Zeitlebens leidet sie an Tuberkulose. Vom Schweizer Luftkurort Davos aus verfolgt sie im Sog russischer Exilanten mit großer Sympathie die Oktoberrevolution 1917 in Russland. 1919 zieht Hermynia Zur Mühlen nach Deutschland. Sie schließt sich der kommunistischen Bewegung an und tritt der KPD bei. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten und späterem Ehemann, dem Übersetzer und Journalisten Stefan Isidor Klein (1889-1960), den sie in Davos kennengelernt hat, lebt sie in Frankfurt am Main und Berlin.
Zur Mühlen entledigt sich ihres Adelstitels. Sie ist entschlossen, die „soziale Frage“, die sie schon als Jugendliche beschäftigt, zu lösen. In Frankfurt beginnt sie, für die kommunistische Presse zu schreiben: „Fort mit dem Luxus und dem Behagen und hinein in das proletarische Leben!“, fasst sie 1930 rückblickend ihr Lebensgefühl zusammen.
Der ungarische Schriftsteller Sandor Marai, der mit ihr Anfang der 1920er-Jahre in Frankfurt am Main zeitweilig unter einem Dach wohnt, beschreibt ihre außergewöhnliche Erscheinung: „Sie war groß von Wuchs und krankhaft mager; in ihrem bis auf die Knochen eingefallenen Gesicht lebten nur die beseelten Augen, von Todesfurcht geadelte, in menschlicher Solidarität warm leuchtende Augen ... Wo wir in der Stadt auftauchten, empfingen uns feindselige Blicke, denn von dieser Frau ging etwas Außergewöhnliches aus, eine alarmierende, anziehende Einmaligkeit, das Strahlen einer in Schmerz, Erkenntnis und Leidenschaft geläuterten Seele. Die Menschen verstummten, sobald wir irgendwo eintraten.“ Und Marai endet: „Ich lebte fügsam in ihrer Nähe, duldete ihre Aggressivität und ihre Verschrobenheiten; nie wieder habe ich einen Menschen, noch dazu eine Frau, so seltsam, bescheiden und traurig ertragen wie diese ungewöhnliche Gräfin. Das Schicksal wartete ihr mit leidvollen Lebensformen auf, die sie trotzig und rebellisch ertrug. Sie war Aristokratin im innigsten, im menschlichen Sinn des Wortes.“
Zu dieser Zeit beginnt Zur Mühlens Karriere als Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Schriften spiegeln in wachsendem Maße ihre damalige revolutionäre Einstellung wider. Der KPD bleibt sie bis Ende 1932 treu. Sie macht sich dabei insbesondere als linksgerichtete Kinderbuchautorin einen Namen – berühmt wird der Band Was Peterchens Freunde erzählen (1921). Außerdem übersetzt sie politische Literatur, insbesondere viele Romane des erfolgreichen amerikanischen Schriftstellers Upton Sinclair (1878-1968) für den Malik Verlag.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zieht sich Hermynia Zur Mühlen 1933 nach Wien zurück. Dort warnt sie vor dem Faschismus. Im Laufe der Jahre distanziert sie sich von ihrer kommunistischen Umgebung, findet zu ihren katholischen Wurzeln zurück und schreibt für sozialdemokratische und linksliberale Gazetten. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 flüchten Hermynia Zur Mühlen und Stefan Klein nach Bratislava, wo sie heiraten. Nach der endgültigen Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 emigrieret das Paar nach England. Auch dort setzt sie ihre schriftstellerische Arbeit fort. Mit Kleine Geschichten von großen Dichtern festigt sie ihren Ruf in der Kinder- und Jugendliteratur.
Bis 1948 bleiben die Eheleute in London, danach – verarmt und schwer erkrankt – wohnen sie nördlich der britischen Hauptstadt. Zur Mühlen schreibt nicht nur Märchen, sondern auch Erzählungen, Feuilletons sowie erste Romane, etwa Das Licht. Sie übersetzt aus mehreren Sprachen und verfasst unter dem amerikanischem Pseudonym Lawrence H. Desberry erfolgreiche Kriminalromane. Aus der Frau, die an der Seite ihres aristokratischen Vaters luxuriös durch die Welt gereist ist und einen baltischen Großgrundbesitzer geheiratet hat, wird eine selbständige proletarische Bohemienne, Fußgängerin, engagierte Schriftstellerin, Feuilletonistin und Übersetzerin: „Hinter mir lag eine sterbende Welt der Privilegien, vor mir die neue, lebensvolle.“
Hermynia Zur Mühlen: Werke. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung ausgewählt und herausgegeben von Ulrich Weinzierl, mit einem Essay von Felicitas Hoppe. Zsolnay Verlag, Wien 2019
Lesen Sie nächste Woche, welcher deutsche Reportage-Roman 1932 New Yorks „Wolkenkratzerwelt von unten bis oben“ darstellt.
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300 Jahre Literaturgeschichte hat sich der Münchner Schriftsteller und Publizist Thomas Kraft vorgenommen, um für das Literaturportal Bayern einige Schätze zu heben. Rund 40 unentdeckte Romane und Erzählungen deutschsprachiger Autorinnen und Autoren – darunter bekannte wie weniger bekannte – finden in dieser kurzweiligen Reihe (neu) ans Licht.
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„Die Welt, in der ich aufwuchs, ist tot; wenn auch viele ihrer einstigen Bewohner noch leben“, beginnt Hermynia Zur Mühlens 1929 erschienenes Lebensbuch Ende und Anfang. Die Welt, von der die Rede ist, meint die dahinsiechende k.u.k. Monarchie Österreichs. Karl Kraus schmäht dieses Reich, Joseph Roth begleitet melancholisch seinen Niedergang. Zur Mühlen, selbstbewusster Spross des europäischen Hochadels, lässt es entschlossen hinter sich. Bereits als Zwölfjährige gründet sie einen Verein mit dem einzigen Ziel, den Adel abzuschaffen: „Ich brach mit meiner alten Welt“, heißt es am Ende dieser Erinnerungen, „und wagte den Sprung in die neue. Ich lernte arbeiten, auf eigenen Füßen stehen.“
Die „rote Gräfin“ ist eine der bekanntesten kommunistischen Publizistinnen der Weimarer Republik. Dieses „Lebensbuch“ rechnet kompromisslos mit den aristokratischen Kreisen ab, aus denen die Autorin kommt, und zeichnet ihren unkonventionellen Lebensweg und ihre politische Entwicklung eindringlich nach. Ihre Autobiografie ist bei Erscheinen ein großer Erfolg und entfaltet das schillernde Panorama eines Lebens, das man so kaum erfinden könnte.
Hermynia zur Mühlen wird 1883 als Gräfin Hermine Isabelle Maria Folliot de Crenneville in Wien geboren. Die zweite Tochter eines Diplomaten erzählt in ihrer Autobiografie Ende und Anfang, dass sie sich als Kind am liebsten bei ihrer Großmutter aufhielt, einer Engländerin mit liberalen Ansichten. Bei dieser entwickelte die kleine Komtess ihren Sinn für Gerechtigkeit – und eine herablassende Haltung gegenüber dem Bürgertum. „Dass die Aristokraten sich für den umbilicus mundi hielten, war nicht einzig und allein ihre Schuld; die in Ehrfurcht ersterbenden Bürger trugen ihr Teil dazu bei. Ich erinnere mich ganz genau, dass ein Arzt, sonst ein netter kluger Mensch, anlässlich des großen Brandes beim Wohltätigkeitsbasar in Paris sagte: 'Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, wie viele Aristokraten dabei verbrannt sind!' Und ich erinnere mich auch an die sanfte Frage meiner Großmutter: 'Glauben Sie, dass es für die anderen nicht ebenso schrecklich war, Herr Doktor?'“
Eigensinnig, wie sie ist, heiratet sie gegen den elterlichen Willen 1908 den deutschbaltischen Großgrundbesitzer Victor von zur Mühlen und folgt ihm auf sein Landgut im heutigen Estland. „Die größeren Güter hatten einen eigenen „Uriadnik“, Landgendarmen, und dessen Aussage genügte, um einen Menschen die lange Reise antreten zu lassen ... Die baltischen Barone, deutsch bis in die Knochen, wilde Gegner alles Russischen, fanden dieses Regime äußerst sympathisch; ihnen geschah nichts, und sie konnten mit seiner Hilfe ihre Arbeiter kleinkriegen.“ Die Ehe mit dem knochentrockenen Krautjunker ist sehr unglücklich; Hermynia Zur Mühlen lässt sich 1920 von ihrem Mann scheiden. Zeitlebens leidet sie an Tuberkulose. Vom Schweizer Luftkurort Davos aus verfolgt sie im Sog russischer Exilanten mit großer Sympathie die Oktoberrevolution 1917 in Russland. 1919 zieht Hermynia Zur Mühlen nach Deutschland. Sie schließt sich der kommunistischen Bewegung an und tritt der KPD bei. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten und späterem Ehemann, dem Übersetzer und Journalisten Stefan Isidor Klein (1889-1960), den sie in Davos kennengelernt hat, lebt sie in Frankfurt am Main und Berlin.
Zur Mühlen entledigt sich ihres Adelstitels. Sie ist entschlossen, die „soziale Frage“, die sie schon als Jugendliche beschäftigt, zu lösen. In Frankfurt beginnt sie, für die kommunistische Presse zu schreiben: „Fort mit dem Luxus und dem Behagen und hinein in das proletarische Leben!“, fasst sie 1930 rückblickend ihr Lebensgefühl zusammen.
Der ungarische Schriftsteller Sandor Marai, der mit ihr Anfang der 1920er-Jahre in Frankfurt am Main zeitweilig unter einem Dach wohnt, beschreibt ihre außergewöhnliche Erscheinung: „Sie war groß von Wuchs und krankhaft mager; in ihrem bis auf die Knochen eingefallenen Gesicht lebten nur die beseelten Augen, von Todesfurcht geadelte, in menschlicher Solidarität warm leuchtende Augen ... Wo wir in der Stadt auftauchten, empfingen uns feindselige Blicke, denn von dieser Frau ging etwas Außergewöhnliches aus, eine alarmierende, anziehende Einmaligkeit, das Strahlen einer in Schmerz, Erkenntnis und Leidenschaft geläuterten Seele. Die Menschen verstummten, sobald wir irgendwo eintraten.“ Und Marai endet: „Ich lebte fügsam in ihrer Nähe, duldete ihre Aggressivität und ihre Verschrobenheiten; nie wieder habe ich einen Menschen, noch dazu eine Frau, so seltsam, bescheiden und traurig ertragen wie diese ungewöhnliche Gräfin. Das Schicksal wartete ihr mit leidvollen Lebensformen auf, die sie trotzig und rebellisch ertrug. Sie war Aristokratin im innigsten, im menschlichen Sinn des Wortes.“
Zu dieser Zeit beginnt Zur Mühlens Karriere als Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Schriften spiegeln in wachsendem Maße ihre damalige revolutionäre Einstellung wider. Der KPD bleibt sie bis Ende 1932 treu. Sie macht sich dabei insbesondere als linksgerichtete Kinderbuchautorin einen Namen – berühmt wird der Band Was Peterchens Freunde erzählen (1921). Außerdem übersetzt sie politische Literatur, insbesondere viele Romane des erfolgreichen amerikanischen Schriftstellers Upton Sinclair (1878-1968) für den Malik Verlag.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland zieht sich Hermynia Zur Mühlen 1933 nach Wien zurück. Dort warnt sie vor dem Faschismus. Im Laufe der Jahre distanziert sie sich von ihrer kommunistischen Umgebung, findet zu ihren katholischen Wurzeln zurück und schreibt für sozialdemokratische und linksliberale Gazetten. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 flüchten Hermynia Zur Mühlen und Stefan Klein nach Bratislava, wo sie heiraten. Nach der endgültigen Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 emigrieret das Paar nach England. Auch dort setzt sie ihre schriftstellerische Arbeit fort. Mit Kleine Geschichten von großen Dichtern festigt sie ihren Ruf in der Kinder- und Jugendliteratur.
Bis 1948 bleiben die Eheleute in London, danach – verarmt und schwer erkrankt – wohnen sie nördlich der britischen Hauptstadt. Zur Mühlen schreibt nicht nur Märchen, sondern auch Erzählungen, Feuilletons sowie erste Romane, etwa Das Licht. Sie übersetzt aus mehreren Sprachen und verfasst unter dem amerikanischem Pseudonym Lawrence H. Desberry erfolgreiche Kriminalromane. Aus der Frau, die an der Seite ihres aristokratischen Vaters luxuriös durch die Welt gereist ist und einen baltischen Großgrundbesitzer geheiratet hat, wird eine selbständige proletarische Bohemienne, Fußgängerin, engagierte Schriftstellerin, Feuilletonistin und Übersetzerin: „Hinter mir lag eine sterbende Welt der Privilegien, vor mir die neue, lebensvolle.“
Hermynia Zur Mühlen: Werke. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung ausgewählt und herausgegeben von Ulrich Weinzierl, mit einem Essay von Felicitas Hoppe. Zsolnay Verlag, Wien 2019
Lesen Sie nächste Woche, welcher deutsche Reportage-Roman 1932 New Yorks „Wolkenkratzerwelt von unten bis oben“ darstellt.