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12.06.2014, 11:29 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [424]: Wo Götter und Menschen einander wechselseitig nachahmten

Die Alpen ein Kraftort. Er läuft durch die Stadt, die Stadt glüht. Sein Blick fällt auf ein Plakat. Die Idee glimmt auf in seinem Hirn: Warum nicht nach Süden fahren? Warum nicht die Kutsche besteigen und an den Stahremberger See fahren? Herr von Mann hat ihn ja eingeladen, er kann da auch übernachten, es muss schön sein am Stahremberger See, wenn's in der Stadt so glüht. Die Alpen ein Kraftort, man könnte ihn wenigstens aus der Ferne sehen. Von Schwabing aus ist das nicht so einfach. Der Hund ächzt auch schon. Wie kühl muss da der See auf ihn, auf den Dichter und das Tier wirken!

Still ruht der See. Da sind sie schon, sie diesen in der Ferne, man ahnt den Schnee, man spürt die Grenze, die Riesen des Winters, die Göttersöhne stehen, mit Lauwinen und Katarakten und Wintern bewaffnet, Wache um das göttliche Land, wo Götter und Menschen einander wechselseitig nachahmten. Dieser fließende Wolkenhimmel, in welchen uns nur die Alpen heben: er hatte das schon richtig beschrieben, gefühlt, erträumt, damals, als er seinen ersten Roman unter den Händen hatte und es darum ging, für Albanos Alpenübergang und fürs Lilienbad die richtigen Worte zu finden, eine Ewigkeit scheint das her zu sein. Nun endlich sieht er diese Riesen, die den Blick nach Süden begrenzen, ohne ihn zu stören. Still ruht der See. Man müsste eintauchen in ihn, um nimmer emporzutauchen.

Nein, man muss das Boot besteigen, es muss schäumen, es muss gischten! Es geht schließlich zum Herrn von Mann, zu Karl Christian von Mann – ein guter Mann, man muss das so sagen, denn hatte er nicht am Bayerischen Strafgesetzbuch mitgearbeitet? Rechtssicherheit muss sein, wir wissen, wie es zugeht, wenn Fürstens tun, was sie tun wollen, Oberscheerau war auch in dieser Hinsicht ein miserables Fürstentümchen. Nun ist Mann ein großer Mann: als Präsident des Appellationsgerichts des Isarkreises genießt er das Vertrauen des guten Königs – seines, Jean Pauls, Königs. Außerdem interessiert er sich für die Künste, sein Haus am See ist das beste Beispiel für einen gebildeten, Natur und Kultur verbindenden Umkreis. Er hat vor nicht allzu langer Zeit eine Zeitschrift gegründet, Eos heißt sie, der Dichter wünscht ihr eine lange Zukunft, und dies auch, weil er hier selbst schon tätig sein durfte. „Es soll Ernst mit Frohsinn, Wahrheit mit Dichtung sich hier einen“, hatte der Herausgeber ihm damals geschrieben. Recht so! Denn genau dies ist ja auch sein, Jean Pauls, Programm! Und schon für die erste Ausgabe – zwei Jahre ist das her, war es gestern oder vor Jahrzehnten? – hatte er einen Beitrag geliefert: Für den achten Februar, den Geburtstag des menschlichsten Fürsten! Ein schöner Text, er hat ihn für Dalberg geschrieben, soviel Ehre musste sein, und nun fährt er mit Mann über den See, das Wasser spritzt empor, der Wind bläst einen um die Ohren.

Die Worte sind fern, das Wasser ist nah.

Wie schön! Ein Ballon hat sich in die Lüfte erhoben, majestätisch schwebt er über den See. Sein Giannozzo, er, seine Figur, der Luftschiffer, der Held und sein Schiff, sind so nah wie fern. Was ist die Zeit? Was ist der Raum? Die Sonne schimmert jetzt sacht, die Fragen werden unwichtig.

Jetzt trägt mich ein Windstoß ganz nahe vor die göttliche Glanzwelt. Der Sonnenwagen geht schon tief im Erden-Staube. Wie fliegen die Goldadler der Flammen überall, um die Sonne, um die Eiskuppeln, um den zerknirschten Rhein und um die giftige Wolke, und ruhen mit aufgeschlagenen Flügeln an grünen Alpen aus – Ich glaube, ich soll heute sterben, das große Gewitter wird mich fassen. So sterb' ich gern, Verhüllter über mir; vor dem Angesicht der Berge und der Sonne und des gewölbten Blaues weicht gern mein Geist aus der einklemmenden Hütte und fliegt in den weiten, freien Tempel. Ich drücke die sonnenrote Stunde und die gebürgige Welt noch tief ins brausende Herz, und dann zerbrech' es, woran es will.

So hatte Giannozzo einst in seine letztes Logbuch geschrieben – doch plötzlich muss er an Ottomar denken: Ottomar, den ruhelosen Kapitän, der mit dem Luftschiff gereist wäre, hätte er kein Erdschiff gelenkt. Auch er ist ein Verwandter des Luftschiffers – er, der von seinen Reisen eine wesentliche Erkenntnis mit nach Hause nahm:

Mein Reisedurst ist mit Alpen-Eis und Seewasser gelöscht; ich ziehe nun heim in meine Ruhestatt, und wenn mich dann unter meiner Haustüre wieder über die Berge hinüberverlangt: so denk' ich: in den Guadiana- und in den Wolgastrom sieht das nämliche lechzende Menschenherz hinein, das in dir neben dem Rheine seufzet, und was auf die Alpen und auf den Kaukasus steigt, ist, was du bist, und wendet ein sehnendes Auge nach deiner Haustüre herüber.

Ist auch sein Reisedurst gestillt? Er weiß es nicht. Er wird sehen. Er könnte ewig hier bleiben – wenn er nicht schon am nächsten Tag forteilen müsste. Fort – von der Lust zu der Unlust.

Fotos: Frank Piontek, 8.6. 2013

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