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06.11.2013, 12:58 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [273]: Extrablatt für Camus zum 100. Geburtstag

Camus' Biograph Morvan Lebesque hat einmal geschrieben, dass man dann berühmt ist, wenn man den Vornamen nicht mehr zu nennen braucht, um die Person zu identifizieren. Camus, dem der Ruhm egal war, gehört in diese Gruppe – und ist doch einzigartig geblieben: der Dichter der wunderbaren Pest, des Fremden und des Falls, der Theoretiker des Mensch in der Revolte, der Philosoph des Sisyphos, der politische, recht eigentlich aber unpolitische Artikelschreiber, der Lobredner des algerischen Mittelmeeres, des Lichts, der Sonne und des „mittelmeerischen Denkens“, der am 7. November 1913 geboren wurde, 1960 einem absurden Verkehrsunfall erlag und in die Unsterblichkeit einwanderte. Hat er – abgesehen von dieser Unsterblichkeit – irgendetwas mit Jean Paul gemein?

Wie er war Camus ein Dichter und Denker, indem sein Gesamtwerk geschlossen ist wie kaum ein Anderes: es gibt bei ihm keine „Nebenwerke“, keine Zufallsprodukte. Alles – seine Romane, Erzählungen, Dramen, philosophischen Essays und politischen Artikel – entspringt einem Geist. Im zweiten Teil des 1951 publizierten Mensch in der Revolte, der den kranken, vor der Geschichte hochpeinlichen Hass Jean-Paul Sartres und seiner Höflinge auf sich zog, hat er sich in die Zeit begeben, in der Die unsichtbare Loge entstand. Von hier aus können wir ermessen, was „Humanität“ für Camus, vielleicht auch für Jean Paul bedeutete. Nämlich so: in der Historischen Revolte geht Camus von der Regierung der Französischen Revolution aus, die notwendigerweise eine Kriegsregierung gewesen sei: eine Revolution, die die metaphysische Revolte, aus der sie einst entsprang, in sich einschloss. Er fragt: „Aber ist die Ganzheit die Einheit?“ Zumindest eine Einheit, in der der Königsmord mit dem Gottesmord einhergeht. „Machen wir uns nichts vor“, hätte Jean-Paul gesagt, Camus ist ein bewusster Atheist (darin Jean Paul denkbar unähnlich), wenn auch ein Atheist mit einer starken religio: der Rückbindung an die Metaphysik des Humanismus. Diese Revolution frisst bekanntlich ihre Kinder, nachdem sie im Beginn der Revolution noch quasireligiös bekundete, die Tyrannei abzuschaffen. „Doch der Augenblick kommt, wo der Glaube, wird er dogmatisch, seine eigenen Altäre aufstellt und bedingungslose Anbetung verlangt. Dann erscheinen die Schafotte von neuem, und trotz der Altäre, der Freiheit, der Eide und der Feste der Vernunft werden die Messen des neuen Glaubens im Blut gefeiert.“ In dieser Zeit, genau in dieser Zeit, konzipiert ein Mann in Schwarzenbach einen Roman über die Befreiung des Menschen aus den Banden des Hofes und der bürgerlichen Beschränkung.

Der Tugendterror der Revolution fordert, praktisch und theoretisch, Zigtausende von Opfern, Saint-Just erweist sich, antigenießerisch (höchstens die Mordlust grimmig genießend) als ein „Anti-Sade“, Marat hat seinen Auftritt: der „traurige Marat“, der „Affe Rousseaus, wie Michelet richtig sagt“. Der Schluss muss ein Dilemma sein: „Das Gesetz kann in der Tat herrschen, sofern es das Gesetz der allgemeinen Vernunft ist. Aber das ist es niemals, und seine Rechtfertigung geht verloren, wenn der Mensch nicht von Natur aus gut ist. Eines Tages stößt die Natur mit der Ideologie zusammen. Dann gibt es keine legitime Macht mehr.“ Dann gibt es in letzter Konsequenz nur noch das Verbrechen, um „Verbrechen“ zu bekämpfen. Der rationale Schluss, der immerhin die Verbrechen eindämmen will, die im Namen der Göttin Vernunft begangen werden, muss dahin gehen, „Gott“ zu einem abstrakten Prinzip zu erheben (was es per se schon ist), das Gesetz zu normalisieren und mit größter Chuzpe und hegelianischer Überzeugung eine „logische“, absurd anmutende Abfolge von Weltaltern zu konstruieren (das sagt nicht Camus, das sagt der Blogger).

Jean Paul war nicht auf der Seite Saint-Justs, ebenso wenig auf der hegelianischen, aber er hätte die ursprünglichen, vernunftbetonten Ziele der Revolution – weil er selbst sich beständig in der Revolte befand – nicht bestritten. Die Frage bleibt: Wie weit wird Gustav gehen, um im Wust der Zeiten seine Revolte zu verwirklichen? Wir sie sich zur Revolution auswachsen? Oder metaphysisch bleiben? Und Beata? Wird sie zu einer Gefährtin des Revolutionärs heranwachsen? Oder auch weiterhin bei der Frau von Bouse am Spinett sitzen?

Halten wir nur vorher fest, dass dem „Ich rebelliere, also sind wir“, dem „Wir sind allein“ der metaphysischen Revolte die mit der Geschichte ringende Revolte hinzufügt: statt zu töten und zu sterben, um das Sein hervorzubringen, das wir nicht sind, müssen wir leben und leben lassen, um zu schaffen, was wir sind.

Natürlich ist es rein hypothetisch, aber ich stelle mir vor, dass Jean Paul, der Romancier, Essayist und politische Artikelschreiber, seinen Kollegen außerordentlich geschätzt hätte, weil er sich im Wesentlichen mit ihm getroffen hätte: im unabgegolten Humanistischen, in der Liebe – zu den Menschen und den Landschaften –, in der Kritik, letzten Endes im Verständnis einer Welt, die immer noch auf ein Friedensreich wartet.

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