Heinrich „Tiny“ Stricker über sein neues Buch „Hippies in Chittagong“
Weil die Asiaten „Heinrich“ schlecht aussprechen konnten, nannten sie den durchreisenden Hippie „Tiny“ und schufen damit den Nom de plume eines Schriftstellers. 1970 debütierte der 1949 in Gundelfingen geborene Heinrich „Tiny“ Stricker im Augsburger MaroVerlag mit Trip Generation. Die Neuauflage dieses vielbeachteten Debüts wurde zum ersten Band einer Werkausgabe, die Michael Haitel in seinem Verlag p.machinery im schleswig-holsteinischen Winnert herausbringt. Im Hauptberuf war Heinrich Stricker für das Goethe-Institut tätig, unter anderem in Manchester, in Sarajevo nach dem Bosnienkrieg sowie in Thessaloniki. Zum Gespräch über sein aktuelles Buch, das in Bangladeschs zweitgrößter Stadt Chittagong angesiedelt ist, traf sich der Autor mit Katrin Hillgruber unspektakulär in der Maxvorstadt.
*
Katrin Hillgruber: Herr Stricker,
Hippies in Chittagong ist das 14. Buch Ihrer Werkausgabe im Verlag p.machinery, die mit Ihrem literarischen Debüt Trip Generation aus dem Jahr 1970 beginnt. Hätten Sie damals gedacht, dass sich ein derartiger Marathon über 55 Jahre entwickeln würde?
Heinrich Stricker: Nein, obwohl ich von meiner Sache damals schon sehr überzeugt war, von dieser Hippie-Bewegung, von dieser Gegenkultur und den Erlebnissen, die ich hatte. Und ich dachte auch, dass ich literarisch einen anderen Ansatz gefunden hatte.
Hillgruber: Ihr neues Buch setzt wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit einer Mémoire involontaire ein, den schwülen Tagen Ende Juni 2024 in Bayern. Sie lassen den Ich-Erzähler unwillkürlich an die Tage vor dem Monsun in Chittagong denken. Wie kommt es, dass diese Erinnerungen an Orte, Früchte, bunte Stoffe oder ein Bad im Seerosenteich derart frisch und lebendig geblieben sind? Haben Sie auf Reisenotizen zurückgegriffen?
Stricker: Ich habe keine Notizen aus der Zeit. Es kommt einerseits spontan, muss man sagen. Und ich bilde mir ein, dass das sogar mit zunehmendem Alter öfters vorkommt, diese Tagträume. Ich benutze höchstens Stimulanzien, hauptsächlich Musik aus der Zeit. An dem Buch habe ich vielleicht anderthalb Jahre gearbeitet, und mit der Zeit kommst du immer tiefer rein. Das ist ein automatischer Prozess. Natürlich ist die Erinnerung auch ein leicht fiktionales Element, du veränderst es schon ein bisschen dadurch. Es wird alles ein wenig fantastischer, als es wahrscheinlich war.
Hillgruber: Bei der Lektüre tritt ein Fluidum ein, etwa wenn es heißt: „Wir hatten die Orientierung nach Wochen bereits verloren oder aufgegeben.“ Oder der Ich-Erzähler erkennt nach seiner Ankunft in Kalkutta: „Ich sollte mich lieber wieder treiben lassen.“ Das erscheint mir als ein narratives Prinzip.
Stricker: Ja, ich habe schon versucht, einen Erzählmodus zu finden, der so ein bisschen dem Hippie-Dasein und dem Hippie-Gefühl entspricht: Diese Offenheit, diese assoziative, digressive Erzählweise, dieses Sich-Treiben-lassen.
Hillgruber: Wie kam es zu Ihrem Debüt Trip Generation und überhaupt zu diesen frühen Aufbrüchen aus Ihrer Heimatstadt Gundelfingen und später aus München?
Stricker: 1968 habe ich einen Mercedes nach Persien überführt. Da musste ich sehr lange Zeit bei diesem persischen Kunden bleiben, in einem Rohbau in Täbris, weil der Wagen aus meinem Pass ausgetragen werden musste. Das hat endlos gedauert. Ich glaube, weil der Anwalt Alkoholiker war. Und dann war ich sechs bis sieben Wochen bei diesem Iraner, ohne Persisch zu können. Das war ein sehr grundlegendes Erlebnis, weil das Haus praktisch ein Zelt war. Das einzige Möbelstück, an das ich mich erinnern kann, ist ein Teppich, auf dem alle saßen, auf dem sie gegessen und geschlafen haben. Das war für mich eine wichtige Erfahrung, das unmaterialistische oder prämaterialistische Leben dieser Leute, ihr Zeitgefühl und die Natürlichkeit, mit der sie sich bewegten. Hinterher war ich noch eine Zeitlang in Teheran, in dem berühmten Hotel Amir Kabir, eine ganz wichtige Hippie-Adresse…
Hillgruber: … und Titel des vorangegangenen 13. Bandes der Werkausgabe, Hotel Amir Kabir oder Die Wege der Hippies aus dem Jahr 2023…
Stricker: … genau. Dort habe ich die Hippie-Kultur live mitgekriegt, bin dann aber zurückgetrampt, weil ich zur Bundeswehr musste. Anschließend war ich eine Zeitlang bei der Bundesmarine in Glückstadt bei Hamburg, aber da haben sie mich zum Glück laufenlassen.
Hillgruber: Hatten Sie sich gezielt für die Marine beworben?
Stricker: Ich hatte mich für zehn Jahre beworben für ein Medizinstudium bei der Marine und anschließend den Dienst als Schiffsarzt. So hatte ich mir das mit achtzehn gedacht. Die Grundausbildung hat mir aber doch einiges gebracht. Nur war ich nicht schwindelfrei und es gab auch andere Probleme, so dass sie mich laufenließen. Und dann habe ich angefangen zu studieren in Erlangen. Es gab aber unglaubliche Konflikte mit meinen Eltern, wegen der langen Haare, der Kleidung, ich habe einen Parka getragen und hatte völlig andere Ansichten. Es gab endlose Auseinandersetzungen. Deshalb habe ich mich entschlossen abzuhauen. Sie haben mich hier in München im zweiten Semester bei einer Verwandten untergebracht, die schrecklich war. Und dann bin ich nachts ausgerückt mit dem Expresszug nach Istanbul. Ohne Nachricht, bis auf einen Zettel: „Bin verreist“. Und war dann lange Zeit unterwegs.
Hillgruber: Wohin ging diese Reise?
Stricker: Bis nach Istanbul und danach bin ich getrampt, weiter nach Teheran. Dort habe ich versucht, einen Job zu kriegen, das hat aber nicht geklappt. Dann sind wir über Pakistan nach Karachi. Wir wollten eigentlich nach Ceylon, aber da haben sie uns deportiert, weil wir kein Geld hatten. Und so bin ich aus purem Zufall nach Chittagong gekommen. Wir wollten natürlich wie alle anderen nach Kathmandu, haben es aber nicht geschafft.
Hillgruber: Ich finde die Atmosphäre sehr schön geschildert, vor allem das permanente Warten in der Schwüle auf den Regen. Der Monsun wird dadurch zu einer eigenen Erzählinstanz.
Stricker: So wie das Land und die Wetterverhältnisse, ich glaube, das ist schon ganz gut beobachtet. Man kann sich kaum fortbewegen, wenn der Monsun wirklich da ist. Chittagong wird zur Insel. Du bist praktisch im Meer, du schwimmst endlos im Meer. Das ist aber auch ein eigenes Gefühl, wenn man sich daran gewöhnt hat.
Hillgruber: In Chittagong stößt der Ich-Erzähler überall auf Spuren der britischen Kolonialmacht. Er findet eine Anstellung im Seamen’s Welfare Institute, was sehr witzig geschildert ist, auch weil es dort eine heißbegehrte Dusche gibt. Hat diese Reiseerfahrung Ihr Interesse an der englischsprachigen Kultur und damit auch später am Studium der Anglistik geweckt?
Stricker: Möglicherweise, ja. Ich war lange Zeit mit Engländern unterwegs, darunter mit Simon, einem Hochstapler, der behauptete, er sei der künftige Earl of Essex. Und der hat ausgiebig seine englischen Verhaltensweisen zelebriert. Er kam auch damit noch sehr gut durch, in diesem postkolonialen Ost-Pakistan, viele Leute waren sehr anglophil. Er hat schnell einen Job als Lehrkraft an einer Schule gekriegt. Für uns Hippies war er im Grunde ein wichtiger Mensch, der uns auch eine Zeitlang über Wasser gehalten hat. Wir waren ja praktisch am Nullpunkt, wobei das eine wichtige Erfahrung war – vielleicht auch am Nullpunkt der Literatur.
Hillgruber: In unserer gegenwärtigen politischen Lage wirkt das wie eine ganz große Freiheit und ein Versprechen auf demokratische Verhältnisse in Ländern, in denen mittlerweile religiöser Fanatismus herrscht.
Stricker: Es gab viele Einheimische, die bei der Hippie-Bewegung mitmachen wollten, aber es gab auch viele Reaktionäre in Pakistan, die gefährlich waren und gefürchtet, vor allem bei weiblichen Tramperinnen. Im Buch ist ja auch eine Episode, in der einer meint, ich hätte seine Frau angeschaut. Da bin ich schon mit der Kultur in Konflikt gekommen.
Hillgruber: Trotz der Warmherzigkeit der Bengalen blitzen beim Reisenden Tiny Momente des Heimwehs auf, als er eine englische Ausgabe von Heinrich Heines Lied von der Loreley findet oder die Briefe seines Vaters als Poste Restante eintreffen. Wird man sich der eigenen Kultur tatsächlich am stärksten im Ausland bewusst?
Stricker: Das stimmt. Also, dieser Nullpunkt, den man da erreicht, ist eine Bewusstwerdung von bestimmten Werten, die man schätzt. Und manche Dinge verherrlicht man geradezu. Gegenstände, die man sammelt, gewinnen einen riesigen Wert. Wir hatten als Bücher nur Der König der Taschendiebe, das wir zufällig an einem Bücherstand entdeckt hatten, und Tagores Gedichtsammlung Gitanjali auf Englisch. Ich glaube, ich hatte außerdem Naked Lunch dabei, aber das hat überhaupt nicht gepasst. Da war ich sehr froh, dass ich zumindest die Loreley gefunden habe in der Bibliothek von Chittagong.
Hillgruber: Einmal wird auch auf die Verbindung des Sanskrit zum Deutschen hingewiesen.
Stricker: Das war in Indien schon eine interessante Erfahrung, dass es ganz viele Verbindungen gibt zwischen den indo-europäischen Sprachen. Noch stärker in Persien: Dort sind viele Grundwörter ähnlich, die Wörter für Zahlen oder für die Familie wie „Tochter“ und „dokhtar“. Das berührt einen sehr, dass wir auf eine ganz archaische Art verwandt sind.
Hillgruber: Was ist als nächstes von Tiny Stricker zu erwarten?
Stricker: Ich habe diesen Hippie-Zyklus vorläufig abgeschlossen. Es handelt sich im engeren Sinne um eine Trilogie, bestehend aus Ein Mercedes für Täbris, Hotel Amir Kabir und Hippies in Chittagong. Aber die anderen Bücher haben sich darum herum gerankt, wie „London Pop und frühe Liebe“. Nach Chittagong war ich bei einer Band, darüber habe ich auch ein Buch geschrieben, „Unterwegs nach Essaouira“. Aber dann kam der sogenannte „Abtörn“, als die Hippie-Bewegung ihren Niedergang erlebt hat. Nun habe ich einen Campus-Roman verfasst, der in England spielt. Ich habe schon mal so etwas Ähnliches geschrieben, Spieler im Park. Und jetzt folgt mit Haltloses Dinner oder Die Campus-Tage die Fortsetzung.
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Weil die Asiaten „Heinrich“ schlecht aussprechen konnten, nannten sie den durchreisenden Hippie „Tiny“ und schufen damit den Nom de plume eines Schriftstellers. 1970 debütierte der 1949 in Gundelfingen geborene Heinrich „Tiny“ Stricker im Augsburger MaroVerlag mit Trip Generation. Die Neuauflage dieses vielbeachteten Debüts wurde zum ersten Band einer Werkausgabe, die Michael Haitel in seinem Verlag p.machinery im schleswig-holsteinischen Winnert herausbringt. Im Hauptberuf war Heinrich Stricker für das Goethe-Institut tätig, unter anderem in Manchester, in Sarajevo nach dem Bosnienkrieg sowie in Thessaloniki. Zum Gespräch über sein aktuelles Buch, das in Bangladeschs zweitgrößter Stadt Chittagong angesiedelt ist, traf sich der Autor mit Katrin Hillgruber unspektakulär in der Maxvorstadt.
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Katrin Hillgruber: Herr Stricker,
Hippies in Chittagong ist das 14. Buch Ihrer Werkausgabe im Verlag p.machinery, die mit Ihrem literarischen Debüt Trip Generation aus dem Jahr 1970 beginnt. Hätten Sie damals gedacht, dass sich ein derartiger Marathon über 55 Jahre entwickeln würde?
Heinrich Stricker: Nein, obwohl ich von meiner Sache damals schon sehr überzeugt war, von dieser Hippie-Bewegung, von dieser Gegenkultur und den Erlebnissen, die ich hatte. Und ich dachte auch, dass ich literarisch einen anderen Ansatz gefunden hatte.
Hillgruber: Ihr neues Buch setzt wie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit einer Mémoire involontaire ein, den schwülen Tagen Ende Juni 2024 in Bayern. Sie lassen den Ich-Erzähler unwillkürlich an die Tage vor dem Monsun in Chittagong denken. Wie kommt es, dass diese Erinnerungen an Orte, Früchte, bunte Stoffe oder ein Bad im Seerosenteich derart frisch und lebendig geblieben sind? Haben Sie auf Reisenotizen zurückgegriffen?
Stricker: Ich habe keine Notizen aus der Zeit. Es kommt einerseits spontan, muss man sagen. Und ich bilde mir ein, dass das sogar mit zunehmendem Alter öfters vorkommt, diese Tagträume. Ich benutze höchstens Stimulanzien, hauptsächlich Musik aus der Zeit. An dem Buch habe ich vielleicht anderthalb Jahre gearbeitet, und mit der Zeit kommst du immer tiefer rein. Das ist ein automatischer Prozess. Natürlich ist die Erinnerung auch ein leicht fiktionales Element, du veränderst es schon ein bisschen dadurch. Es wird alles ein wenig fantastischer, als es wahrscheinlich war.
Hillgruber: Bei der Lektüre tritt ein Fluidum ein, etwa wenn es heißt: „Wir hatten die Orientierung nach Wochen bereits verloren oder aufgegeben.“ Oder der Ich-Erzähler erkennt nach seiner Ankunft in Kalkutta: „Ich sollte mich lieber wieder treiben lassen.“ Das erscheint mir als ein narratives Prinzip.
Stricker: Ja, ich habe schon versucht, einen Erzählmodus zu finden, der so ein bisschen dem Hippie-Dasein und dem Hippie-Gefühl entspricht: Diese Offenheit, diese assoziative, digressive Erzählweise, dieses Sich-Treiben-lassen.
Hillgruber: Wie kam es zu Ihrem Debüt Trip Generation und überhaupt zu diesen frühen Aufbrüchen aus Ihrer Heimatstadt Gundelfingen und später aus München?
Stricker: 1968 habe ich einen Mercedes nach Persien überführt. Da musste ich sehr lange Zeit bei diesem persischen Kunden bleiben, in einem Rohbau in Täbris, weil der Wagen aus meinem Pass ausgetragen werden musste. Das hat endlos gedauert. Ich glaube, weil der Anwalt Alkoholiker war. Und dann war ich sechs bis sieben Wochen bei diesem Iraner, ohne Persisch zu können. Das war ein sehr grundlegendes Erlebnis, weil das Haus praktisch ein Zelt war. Das einzige Möbelstück, an das ich mich erinnern kann, ist ein Teppich, auf dem alle saßen, auf dem sie gegessen und geschlafen haben. Das war für mich eine wichtige Erfahrung, das unmaterialistische oder prämaterialistische Leben dieser Leute, ihr Zeitgefühl und die Natürlichkeit, mit der sie sich bewegten. Hinterher war ich noch eine Zeitlang in Teheran, in dem berühmten Hotel Amir Kabir, eine ganz wichtige Hippie-Adresse…
Hillgruber: … und Titel des vorangegangenen 13. Bandes der Werkausgabe, Hotel Amir Kabir oder Die Wege der Hippies aus dem Jahr 2023…
Stricker: … genau. Dort habe ich die Hippie-Kultur live mitgekriegt, bin dann aber zurückgetrampt, weil ich zur Bundeswehr musste. Anschließend war ich eine Zeitlang bei der Bundesmarine in Glückstadt bei Hamburg, aber da haben sie mich zum Glück laufenlassen.
Hillgruber: Hatten Sie sich gezielt für die Marine beworben?
Stricker: Ich hatte mich für zehn Jahre beworben für ein Medizinstudium bei der Marine und anschließend den Dienst als Schiffsarzt. So hatte ich mir das mit achtzehn gedacht. Die Grundausbildung hat mir aber doch einiges gebracht. Nur war ich nicht schwindelfrei und es gab auch andere Probleme, so dass sie mich laufenließen. Und dann habe ich angefangen zu studieren in Erlangen. Es gab aber unglaubliche Konflikte mit meinen Eltern, wegen der langen Haare, der Kleidung, ich habe einen Parka getragen und hatte völlig andere Ansichten. Es gab endlose Auseinandersetzungen. Deshalb habe ich mich entschlossen abzuhauen. Sie haben mich hier in München im zweiten Semester bei einer Verwandten untergebracht, die schrecklich war. Und dann bin ich nachts ausgerückt mit dem Expresszug nach Istanbul. Ohne Nachricht, bis auf einen Zettel: „Bin verreist“. Und war dann lange Zeit unterwegs.
Hillgruber: Wohin ging diese Reise?
Stricker: Bis nach Istanbul und danach bin ich getrampt, weiter nach Teheran. Dort habe ich versucht, einen Job zu kriegen, das hat aber nicht geklappt. Dann sind wir über Pakistan nach Karachi. Wir wollten eigentlich nach Ceylon, aber da haben sie uns deportiert, weil wir kein Geld hatten. Und so bin ich aus purem Zufall nach Chittagong gekommen. Wir wollten natürlich wie alle anderen nach Kathmandu, haben es aber nicht geschafft.
Hillgruber: Ich finde die Atmosphäre sehr schön geschildert, vor allem das permanente Warten in der Schwüle auf den Regen. Der Monsun wird dadurch zu einer eigenen Erzählinstanz.
Stricker: So wie das Land und die Wetterverhältnisse, ich glaube, das ist schon ganz gut beobachtet. Man kann sich kaum fortbewegen, wenn der Monsun wirklich da ist. Chittagong wird zur Insel. Du bist praktisch im Meer, du schwimmst endlos im Meer. Das ist aber auch ein eigenes Gefühl, wenn man sich daran gewöhnt hat.
Hillgruber: In Chittagong stößt der Ich-Erzähler überall auf Spuren der britischen Kolonialmacht. Er findet eine Anstellung im Seamen’s Welfare Institute, was sehr witzig geschildert ist, auch weil es dort eine heißbegehrte Dusche gibt. Hat diese Reiseerfahrung Ihr Interesse an der englischsprachigen Kultur und damit auch später am Studium der Anglistik geweckt?
Stricker: Möglicherweise, ja. Ich war lange Zeit mit Engländern unterwegs, darunter mit Simon, einem Hochstapler, der behauptete, er sei der künftige Earl of Essex. Und der hat ausgiebig seine englischen Verhaltensweisen zelebriert. Er kam auch damit noch sehr gut durch, in diesem postkolonialen Ost-Pakistan, viele Leute waren sehr anglophil. Er hat schnell einen Job als Lehrkraft an einer Schule gekriegt. Für uns Hippies war er im Grunde ein wichtiger Mensch, der uns auch eine Zeitlang über Wasser gehalten hat. Wir waren ja praktisch am Nullpunkt, wobei das eine wichtige Erfahrung war – vielleicht auch am Nullpunkt der Literatur.
Hillgruber: In unserer gegenwärtigen politischen Lage wirkt das wie eine ganz große Freiheit und ein Versprechen auf demokratische Verhältnisse in Ländern, in denen mittlerweile religiöser Fanatismus herrscht.
Stricker: Es gab viele Einheimische, die bei der Hippie-Bewegung mitmachen wollten, aber es gab auch viele Reaktionäre in Pakistan, die gefährlich waren und gefürchtet, vor allem bei weiblichen Tramperinnen. Im Buch ist ja auch eine Episode, in der einer meint, ich hätte seine Frau angeschaut. Da bin ich schon mit der Kultur in Konflikt gekommen.
Hillgruber: Trotz der Warmherzigkeit der Bengalen blitzen beim Reisenden Tiny Momente des Heimwehs auf, als er eine englische Ausgabe von Heinrich Heines Lied von der Loreley findet oder die Briefe seines Vaters als Poste Restante eintreffen. Wird man sich der eigenen Kultur tatsächlich am stärksten im Ausland bewusst?
Stricker: Das stimmt. Also, dieser Nullpunkt, den man da erreicht, ist eine Bewusstwerdung von bestimmten Werten, die man schätzt. Und manche Dinge verherrlicht man geradezu. Gegenstände, die man sammelt, gewinnen einen riesigen Wert. Wir hatten als Bücher nur Der König der Taschendiebe, das wir zufällig an einem Bücherstand entdeckt hatten, und Tagores Gedichtsammlung Gitanjali auf Englisch. Ich glaube, ich hatte außerdem Naked Lunch dabei, aber das hat überhaupt nicht gepasst. Da war ich sehr froh, dass ich zumindest die Loreley gefunden habe in der Bibliothek von Chittagong.
Hillgruber: Einmal wird auch auf die Verbindung des Sanskrit zum Deutschen hingewiesen.
Stricker: Das war in Indien schon eine interessante Erfahrung, dass es ganz viele Verbindungen gibt zwischen den indo-europäischen Sprachen. Noch stärker in Persien: Dort sind viele Grundwörter ähnlich, die Wörter für Zahlen oder für die Familie wie „Tochter“ und „dokhtar“. Das berührt einen sehr, dass wir auf eine ganz archaische Art verwandt sind.
Hillgruber: Was ist als nächstes von Tiny Stricker zu erwarten?
Stricker: Ich habe diesen Hippie-Zyklus vorläufig abgeschlossen. Es handelt sich im engeren Sinne um eine Trilogie, bestehend aus Ein Mercedes für Täbris, Hotel Amir Kabir und Hippies in Chittagong. Aber die anderen Bücher haben sich darum herum gerankt, wie „London Pop und frühe Liebe“. Nach Chittagong war ich bei einer Band, darüber habe ich auch ein Buch geschrieben, „Unterwegs nach Essaouira“. Aber dann kam der sogenannte „Abtörn“, als die Hippie-Bewegung ihren Niedergang erlebt hat. Nun habe ich einen Campus-Roman verfasst, der in England spielt. Ich habe schon mal so etwas Ähnliches geschrieben, Spieler im Park. Und jetzt folgt mit Haltloses Dinner oder Die Campus-Tage die Fortsetzung.
