Elena Ferrante, ihr Pseudonym und die vielen Gründe, inkognito zu bleiben – eine Chronologie (2)

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© Nicola Bardola

Elena Ferrante ist das Pseudonym einer italienischen Schriftstellerin, die sich unter Wahrung der Anonymität seit Anfang der 1990er-Jahre einen Namen als international erfolgreiche Romanautorin gemacht hat. Ihre Neapolitanische Saga unter dem Titel Meine geniale Freundin zählt zu den bedeutendsten Werken der zeitgenössischen italienischen Literatur. Obwohl es in letzter Zeit immer wieder Versuche gab, die Identität von Elena Ferrante zu entschlüsseln, ist relativ wenig über die Autorin bekannt. Nun tauchen neue Fragen auf: Wie veränderte sich Elena Ferrantes Verhältnis in den vergangenen 27 Jahren zu ihrem Pseudonym? Was motivierte die Autorin, immer mehr von sich preiszugeben? Der in Zürich geborene und bei München lebende Autor, Journalist und Übersetzer Nicola Bardola hat ein Buch über Elena Ferrante geschrieben, das von der Literaturkritik hochgelobt wurde. Im Literaturportal Bayern kann man dem Mythos Elena Ferrante mit Bardolas Geschick dank dieser bisher unveröffentlichten Chronologie erneut auf den Grund gehen. Wir bringen heute die zweite Folge seiner 4-teiligen Journalreihe.

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Im August 2003 lehnt Elena Ferrante den Wunsch eines dänischen Journalisten ab, der sie um eine Selbstbeschreibung, auch des Aussehens bittet. Ferrante antwortet stattdessen mit einem Zitat Italo Calvinos: „Ich mache keine biografischen Angaben, oder falsche oder ändere sie einfach jedes Mal. Sie können mich gerne alles fragen, ich werde auch antworten, aber auf keinen Fall die Wahrheit.“ Diese Aussage habe ihr immer sehr gefallen, und sie habe sie teilweise übernommen. „Ich könnte Ihnen antworten, dass ich schön und sportlich bin oder dass ich seit meiner Jugend an den Rollstuhl gefesselt bin oder dass ich eine Frau bin, die vor ihrem eigenen Schatten Angst hat, oder dass ich Begonien mag oder dass ich nur von zwei bis fünf Uhr morgens schreibe, oder anderen Blödsinn“, so Ferrante. Ihr Problem sei allerdings, dass es ihr im Gegensatz zu Calvino widerstrebe, eine Frage mit vielen Lügen zu beantworten.

Der dänische Journalist hatte mehrere Fragen mit dieser Zielrichtung gestellt: „Haben Sie sich amüsiert über die unterschiedlichen Theorien, wonach Sie entweder ein bekannter Kritiker (Goffredo Fofi), eine neapolitanische Schriftstellerin (Fabrizia Ramondino) oder sogar ein neapolitanischer Homosexueller sein sollen?“ Ferrante erwidert, sie schätze die genannten Schriftsteller sehr und fühle sich geschmeichelt, dass man ihre Bücher einem von ihnen zuschreibt. „Auch die Gay-Variante hat was. Das ist der Beweis dafür, dass ein Text viel mehr aussagen kann, als der, der ihn schreibt, über sich selbst weiß.“

Damit greift Ferrante die Mutmaßungen über ihre Identität auf und zieht Schlüsse daraus. An anderen Stellen lobt sie ihre Leserinnen, die nicht nach der Identität fragen und Mutmaßungen ignorieren. Nicht so die Urheberin selbst: Auch auf die Frage nach autobiografischen Zügen in ihren Romanen geht sie ein, obwohl sie in früheren Gesprächen solchen Themen ausgewichen ist. „Jede Erzählung wurzelt zwangsläufig in den realen Gefühlen desjenigen, der schreibt. Je mehr dieses Empfinden in die Handlung, in die Figuren eingeht, desto schärfer arbeitet der Text die Wahrheit heraus“, erklärt Ferrante, um dann noch die Bedeutung stilistischer Effekte zu betonen.

Im Oktober 2003 wird Elena Ferrante von der Tageszeitung Repubblica befragt. Sie gibt hier beruflich und privat ungewöhnlich viel Persönliches von sich preis. Eine Frage lautet, ob sie besondere Maßnahmen ergreift, um die schriftstellerische Arbeit geheim zu halten. „Ich bin es nicht, die meine Tätigkeiten versteckt, es ist vielmehr umgekehrt, meine Tätigkeit versteckt mich [...] Lesen und Schreiben sind Tätigkeiten, die man in geschlossenen Räumen betreibt, die einen im Wortsinn den Blicken anderer entziehen“, antwortet Ferrante. Auf die Frage, warum sie der Auffassung sei, dass biografische Informationen überhaupt nichts zum Werkverständnis beitragen, antwortet sie überraschend und ihrer Maxime von 1991 widersprechend: „Ich bin keineswegs der Ansicht, dass der Autor vollkommen unwichtig ist. Ich will nur selbst entscheiden, was von mir in die Öffentlichkeit gelangt und was privat bleiben soll“. Und schränkt kurz darauf ein: „der biografische Ansatz führt uns nicht zum Genie eines Werkes, er kann immer nur eine minimale Beigabe sein“.

Schließlich wird Ferrante gefragt, was der eigentliche Grund dafür sei, dass sie sich dem Buchmarkt entzogen hat, weil sie seine Mechanismen ablehnt oder weil Lästige Liebe stark autobiografische Züge aufweist: „Beide Annahmen sind begründet“, erwidert Ferrante. Darüber hinaus gebe es noch jede Menge weiterer Gründe. Als sie ihr Debüt veröffentlichte, habe sie nicht bedacht, welche Auswirkungen die physische Abwesenheit der Autorin haben kann.

 

Ein alter Archivar

Ab Januar 2004, also unmittelbar nach Veröffentlichung von Frantumaglia ändert sich grundsätzlich Ferrantes Position den Journalisten gegenüber. Ferrantes Denk- und Schreibweise außerhalb ihrer zwei veröffentlichten Romane ist jetzt zwischen zwei Buchdeckeln gedruckt überall in Italien erhältlich. Der Tarnname der Romanautorin bleibt zwar bestehen, bezeichnet aber nun jemanden, der sehr viel von sich erzählt.

© Nicola Bardola

Im Spätsommer 2005 wird Ferrante von der Zeitschrift L’Espresso mit linguistischen Untersuchungen konfrontiert, die computergestützt nach den wahren Verfassern suchen, die sich hinter Pseudonymen verbergen. In den Niederlanden wurde damit gerade Marek van der Jagt als Arnon Grunberg entlarvt. Nun wird mittels Big Data nach der wahren Elena Ferrante gefahndet. Ob sie sich jemals outen werde, will der Journalist wissen. „Ich oute mich jedes Mal, wenn ich etwas veröffentliche, auch durch dieses Interview. Das muss genügen“, erwidert Ferrante und fährt fort: „Ich weiß auch gar nicht, was es da Großartiges zu entdecken geben soll. Die Worte, die veröffentlicht werden, gehören doch allen. Dass man sie dem einen oder anderen zuschreibt, ist ihr Schicksal. [...] Bücher gehören ihren Verfassern nur, wenn ihre Zeit abgelaufen ist und niemand sie mehr liest.“ Diesen Zustand aber wird Elena Ferrante mit ihren Büchern nicht mehr erleben, auch nicht mit Frantumaglia, worin sie sich selbst präzise beschreibt, denn die Prosa Elena Ferrantes und Frantumaglia werden aller Wahrscheinlichkeit nach noch lange über den Tod der Autorin hinaus lieferbar bleiben.

Im Dezember 2006 wird Elena Ferrante von einem Journalisten der Tageszeitung La Repubblica gefragt, ob sie immer noch überzeugt von ihrer Entscheidung sei, im Schatten zu bleiben. Darauf Ferrante: „‚Im Schatten bleiben‘ ist ein Ausdruck, der mir nicht gefällt. Er klingt nach Verschwörung und Auftragsmord. Sagen wir, ich habe es vor fünfzehn Jahren vorgezogen, Bücher zu veröffentlichen, ohne das Gefühl, deshalb den Beruf der Schriftstellerin ausüben zu müssen.“ Hier kommen zwei neue Aspekte hinzu: Einerseits der Wunsch, wegen ihrer Anonymität nicht in die Nähe von Kriminalität gerückt zu werden, andererseits die Ablehnung eines Lebens als Berufsschriftstellerin.

Im selben Gespräch wird sie gefragt, ob sie die Theorien bezüglich ihrer Identität amüsant oder ärgerlich findet. „Sie sind legitim, aber oberflächlich“, erwidert hier Ferrante, was vor allem den Wissenschaftlern missfällt, die Wissen und Zeit in linguistische Recherchen investieren. Ferrante fährt fort: „Wen sollte mein kleines Privatleben interessieren, wenn wir auf das von Homer und Shakespeare verzichten können?“ Dabei überspielt Ferrante, dass wir auf das Privatleben von Homer und Shakespeare verzichten müssen, hingegen etwas Zuverlässiges über ihr Privatleben in Erfahrung bringen könnten. Sie verstärkt ihre Aussage mit einem Jesusvergleich: „Der Gläubige weiß wohl, dass über den Jesus, der für ihn wirklich zählt, im Einwohnermeldeamt rein gar nichts zu finden ist.“ Das klingt, als erwarte die Frau, die selbst nicht religiös ist, von ihren Lesern blinden Glauben, denn an anderer Stelle sagt sie: „Ich wundere mich immer, wenn mich jemand wie auf einen Defekt darauf hinweist, dass sich meine Geschichten nicht zum Transzendenten öffnen. Ich möchte hier etwas Prinzipielles klarstellen: Seit ich fünfzehn bin, glaube ich an kein Reich irgendeines Gottes mehr, weder im Himmel noch auf Erden, und im Gegenteil, finde ich gefährlich, wo auch immer man ihn positioniert.“

Welche der vermuteten Identitäten für Ferrante die faszinierendste sei, will die Repubblica wissen, Starnone, Fofi oder Ramondino. Keine, erwidert Ferrante. Für sie sei das ein banales Spielchen der Medienindustrie. Die Literaturkritiker und Wissenschaftler, die notwendig waren, um diese drei Namen überhaupt zu eruieren, erwähnt sie nicht. Ferrante kritisiert die Medien: Sie nähmen „einen wenig konsistenten Namen wie meinen“, um ihn mit einem gewichtigeren in Verbindung zu bringen. Das mag 2006 noch so gewesen sein, doch seither hat sich viel verändert. Heute ist der gewichtigste Autorenname stets Elena Ferrante, neben dem alle anderen Autorennamen der vermuteten Identitäten verblassen. Ferrante kritisiert 2006, dass es nie umgekehrt sei: Keiner Zeitung falle je ein, „eine Seite mit der Hypothese zu füllen, meine Bücher könnten von einem alten, pensionierten Archivar verfasst worden sein oder von einer jungen, neu eingestellten Bankmitarbeiterin“. Es ist erstaunlich, dass an diesem Punkt Elena Ferrante selbst Identitäten ins Spiel bringt. Mit den bestehenden Hypothesen ist sie unzufrieden, also schlägt sie neue vor.   

 

Verschiebung des Problems

Im selben Gespräch geschieht etwas noch Überraschenderes: Elena Ferrante greift den Journalisten der Repubblica direkt an, nachdem er gefragt hatte, ob es sie störe, dass die Fragen nach der Identität die literarischen überlagern und wie sie das verhindern wolle. „Ja, das stört mich. Aber es scheint mir auch ein Beweis dafür zu sein, dass die Medien an der Literatur an sich kein oder nur sehr geringes Interesse haben. Nehmen wir Ihre Fragen: Ich habe ein Buch veröffentlicht, aber Sie haben, wohl wissend, dass Sie nichts als sehr allgemeine Antworten bekommen würden, das ganze Interview auf das Thema meiner Identität konzentriert.“

© Nicola Bardola

Die Verärgerung Ferrantes ist in dieser Antwort gut spürbar. Sie fährt fort: „Sie haben, mit Verlaub, Frau im Dunkeln, seine Materie, den Schreibstil nicht einmal gestreift. Sie fragen, wie ich verhindern will, dass man nur darüber spricht, wer ich bin, und die Bücher beiseitelässt. Ich weiß es nicht. Sie jedenfalls – verzeihen Sie – tun nichts, um diese Situation zu ändern und die Fragen, die Sie die literarischen nennen, in Angriff zu nehmen.“ Aber natürlich wissen Elena Ferrante und ihr Verlag, wie man Fragen nach der Identität verhindern könnte. Für Filmschauspieler und Rockstars ist es an der Tagesordnung, Journalisten vor den Interviews zu informieren, welche Fragen unerwünscht sind und keinesfalls beantwortet werden. Aber Elena Ferrante und ihr Verlag finden offensichtlich Gefallen daran, mit den ungeliebt-geliebten Fragen nach der Identität überhaupt von den Medien wahrgenommen zu werden. Das gilt vor allem für die Jahre 1992 bis 2010, in denen Elena Ferrante eine eher unbekannte und erfolglose Schriftstellerin war (die Auflagenzahlen sind bekannt und bescheiden) und deren Renommee vor allem im Pseudonym ihres Namens bestand.

Die nachfolgende Frage, ob das „Mysterium Ferrante“ etwas Amüsantes für Ferrante habe, empfindet sie als Bestätigung für die vorhergehende Antwort: „Sehen Sie? Was soll ich Ihnen sagen? Amüsant daran ist nur, dass man versuchen kann, den Lesern die journalistischen Wertmaßstäbe zu erklären.“ Nur die Geheimnisse seien den Journalisten wichtig, insbesondere die irrelevanten, aber nicht die Lektüre ihrer Bücher.  

Ferrantes dritter Roman Frau im Dunkeln war gerade erschienen und nun wird sie direkt darauf angesprochen, ob das Mysterium Ferrante den Verkauf ihrer Bücher begünstige. Ferrante wischt die Vermutung vom Tisch: „Ich antworte, dass das Unsinn ist. Etwas, das den Verkauf meiner Bücher tatsächlich angekurbelt hat, ist das Kino. Das ‚Mysterium Ferrante‘ ist nichts als ein Ärgernis für die echten Leser.“ Die nächste Frage differenziert zwischen verschiedenen Möglichkeiten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, ob es demnach nicht möglich sei, in Erscheinung zu treten und sich trotzdem den spektakulärsten, auffälligsten, werbewirksamen Aspekten des Medienrummels zu entziehen. „Natürlich. Aber hier liegt ein Irrtum vor: Die Lösung kann für mich nicht sein, in Erscheinung zu treten und mich dann wieder zurückzuziehen; ich bin alles andere als scheu. Es geht darum, gar nicht erst zu erscheinen.“ Bemerkenswert: Vor einigen Jahren bezeichnete sie sich als schüchtern, jetzt stellt sie sich als „alles andere als scheu“ dar.

Schließlich will der Journalist wissen, ob auch ein anderer, früher genannter Grund für ihre Zurückhaltung noch zutreffe, nämlich die erkennbar autobiografischen Elemente in ihrer Prosa. „Ja. Wie alle, die schreiben, arbeite ich mit Tatsachen, Empfindungen und Emotionen, die tief im Innersten Teil von mir sind. Allerdings hat sich das Problem über die Zeit ein wenig verschoben. Heute ist mir vor allem wichtig, weiterhin die Freiheit zu haben, in meinen Geschichten bis auf den Grund zu gehen, ohne jede Selbstzensur.“