Unter den Talaren: Die wilden 1960er

Mitte der 1960er-Jahre traten die ungelösten Probleme der Nachkriegszeit, verschleiert durch das Wirtschaftswunder, in einer Phase der wirtschaftlichen Stagnation, unvermittelt auf den Plan. Die nicht stattgefundene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sowie die Personenkontinuität nach Ende des Dritten Reichs, die sich gerade an den Universitäten bemerkbar machte, führte zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen den Generationen um Schuld und Sühne und zum verstärkten Autoritätsverlust der Vätergeneration. Die Universitäten gerieten in diesen Jahren enorm unter Druck, weil sie die für die weitere Steigerung der Wirtschaft nötigen Facharbeiter nicht in ausreichender Anzahl hervorbringen konnten. Zwangsexmatrikulation und Massenuniversitäten ohne finanzielle Ausstattung waren Folgen verfehlter Hochschulpolitik. Der von den rebellierenden Studenten prognostizierte autoritäre Staat schien durch politische Konzepte wie Konzertierte Aktion, Formierte Gesellschaft und letztlich die Große Koalition Wirklichkeit zu werden. Die Befürchtung, dass am Ende dieser Entwicklung die oppositionslose Gesellschaft stand, in der alle Widersprüche nivelliert waren, waren nicht nur innerhalb der Studentenschaft groß. Die Gründung der Großen Koalition wurde zur Geburtsstunde der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Die wahre Opposition fand von nun an auf der Straße statt. Studentenführer Rudi Dutschke und seine Mitstreiter versuchten den Menschen klar zu machen, dass demokratische Institutionen wie Parteien und Parlament nicht mehr länger Träger des Volkswillen waren, sondern entfunktionalisiert nur mehr der Aufrechterhaltung des Systems dienten. Die Angst vor einem neu gearteten Faschismus stand im Raum und wurde unter anderem im Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung deutlich. Nach Ansicht der rebellierenden Studenten würden die Bürger heute nicht mehr durch manifeste Gewalt unterdrückt, sondern durch Manipulation bei der Stange gehalten. Der Bürger sei politisch entmündigt, aufgrund von Erziehung und Sozialisation aber von seiner Autonomie und Freiheit überzeugt. Träger der Manipulation seien nicht zuletzt die Massenblätter des Springer-Konzerns, denen die Studenten das Konzept der Gegenöffentlichkeit entgegensetzten. „Springer enteignen“ war eine der zentralen Forderungen der 1968er. Doch es waren nicht nur innenpolitische Missstände welche die Studenten auf die Barrikaden brachte. Nichts trug so zur Politisierung einer ganzen Generation bei wie der Vietnamkrieg. Tag für Tag flimmerten neue Gräuelbilder über die Bildschirme. Vietnam war der erste Krieg in der Geschichte bei dem vor laufender Kamera gestorben wurde. Bald waren immer weniger Menschen der Ansicht, dass in Hanoi auch die Freiheit West-Berlins verteidigt wurde. Der Zusammenhang zwischen globaler Unterdrückung und internationalem Befreiungskampf wurde für immer mehr junge Menschen offenkundig und verlangte eine globale Widerstandsstrategie.

(Karl, Michaela [2003]: Rudi Dutschke. Revolutionär ohne Revolution. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl