Ichfindung und soziale Zugehörigkeit: Karin Struck

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Publikation des Industrial Worker (IWW-Zeitung) von 1911, die für die Organisation der Arbeiter wirbt. Sie zeigt eine der Kritiken am Kapitalismus und basiert auf dem Flugblatt der Union Russischer Sozialisten, das 1900 und 1901 verteilt wurde.

Karin Struck wird 1947 bei Greifswald in eine Bauernfamilie geboren. Im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft siedelt die Familie aus der DDR in die Bundesrepublik über. Struck studiert Romanistik, Germanistik und Psychologie in Bielefeld, Bonn und Düsseldorf, engagiert sich im SDS und ist Mitglied in der KPD. Mit ihrem Debütroman Klassenliebe (1973) profiliert sie sich zu einer Mitbegründerin der Neuen Subjektivität. Als eines der ersten Beispiele bundesdeutscher Schriftstellerinnen und obendrein alleinerziehende Mutter von drei Kindern reiht sie sich in den '68er-Protest gegen die patriarchalischen Strukturen der Nachkriegsgesellschaft ein. Im Gegensatz zu Feministinnen wie Alice Schwarzer und Simone de Beauvoir vertritt sie jedoch keine kritische, um nicht zu sagen feindselige Haltung gegenüber der Mutterschaft, sondern betrachtet diese Rolle als großes Glück. Entsprechend traumatisch fällt für sie das Erlebnis eines Schwangerschaftsabbruchs Anfang der 1990er-Jahre aus, das ihrem literarischen Schaffen eine entscheidende Wende verleiht. Blaubarts Schatten (1991) und Ich sehe mein Kind im Traum (1992) sind Zeugnisse ihrer Entwicklung hin zu einer militanten Abtreibungsgegnerin und überzeugten Katholikin. Am Ende ihrer Schaffenszeit kann sie allerdings nicht mehr an ihren anfänglichen Erfolg anknüpfen und publiziert isoliert vom Literaturbetrieb vereinzelt noch in katholischen Medien.

Klassenliebe liest sich als Tagebuch, dessen Eintragungen vom 16. Mai bis 25. August 1972 reichen. Die Ich-Stimme positioniert sich in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld von Familie, Bekannten und Partner: Zentrales Thema ist das Verhältnis von individueller Entwicklung und sozialer Herkunft. In einer durch Klassen bestimmten Gesellschaft gerät das Individuum in einen Konflikt mit den Ansprüchen seiner Selbstfindung. Diese Gespaltenheit illustriert Struck am Beispiel ihrer eigenen Vita. Um als Tochter aus bäuerlichen Verhältnisse das Abitur ablegen und studieren zu können, ordnet sie sich dem System unter. Bis ins Erwachsenenalter verspürt sie die Sehnsucht nach einer anderen Lebensform. Ihr Lebensweg stellt sie vor die Entscheidung zwischen zwei Klassen, der Unter- und der Mittelschicht, die sich auch in den beiden Männern verkörpert, dem H. – Mediziner aus ihrer Klasse, mit dem sie ein Kind hat und verheiratet ist – und dem Z. – aus der Mittelschicht stammend, ein Schriftsteller, eine Affäre, von dem sie ein Kind zu erwarten hofft. Will sie sich einerseits der Welt der Intellektuellen anschließen, bekennt sie sich zu deren historischem Erbe, indem sie die großen Schriftsteller zitiert, so hadert sie zugleich mit dieser Identifikation, die ihre Herkunft, ihr Elternhaus zu verleugnen droht. Letztlich fühlt sie sich weder zu der einen noch anderen Klasse zugehörig:

Ich merke die ganze Misere, diese ganze große Trauer kommt daher, daß H. und ich abgeschnitten sind: abgeschnitten von der Arbeiterklasse... Kaum bin ich eine ‚Intellektuelle‘, stoßen mich die Arbeiter weg, intellektuellenfeindlich aus Angst und Minderwertigkeitsgefühl, stoßen mich die anderen weg, weil ich gar keine ‚richtige‘ Intellektuelle bin und nie sein werde.

(Karin Struck: Klassenliebe. Frankfurt am Main 1973, S. 49.)

Das Ich braucht jedoch einen Milieubezug: Das Ich, so die Diskussion entlang des Bewusstseinsstroms, ist ein soziales Ich und will zugleich nicht durch seine Sozialisierung determiniert werden. Struck denkt die Überwindung abstrakter Ideologien hin zum sinnlichen Individuum und seiner sinnlichen Wahrnehmung. Einer Frau fällt diese Überwindung möglicherweise leichter, da sie ihren Körper stärker wahrnimmt. „Offenbar war ich ungeheuer sensibilisiert durch das Kind in meinem Leib und nahm alles mehrfach verstärkt wahr“ (ebda., S. 27). Die Sinnlichkeit gilt es in einer entsinnlichten, schematisierten Gesellschaft herauszudestillieren – auch die Kommerzialisierung der weiblichen Sexualität ist eine dieser Entsinnlichungen. Ganz grundsätzlich problematisiert Struck die Vorbestimmung des Ich in der Werbeindustrie vermittels ihrer identitätsstiftenden Zerrbilder – eine Identität, die sich stets über eine jeweilige Klasse bestimmt und die Deindividualisierung des Konsumenten einfordert. Die Klassenidentität ist Identifikationsbrücke für ein Kollektiv und setzt die Vernichtung der Identität des Einzelnen voraus. Unter diesen Bedingungen stellt die Autorin auch die Frage nach der Möglichkeit von Liebesbeziehungen. Die Liebe befände sich in einer sozialen Krise. Es scheint, Liebe ist nur innerhalb einer Klasse möglich. Doch kann das Lieben nur unter Individuen funktionieren. Die Erzählerin will die Scheidung von H., der in ihrer Klasse ist. Doch auch von Z. (die Figur ist ihrem damaligen Mann Arnfrid Astel entlehnt) bleibt sie geschieden: Beide teilen nicht dasselbe Klassenverständnis. Auch die Liebe ist also immer ein gesellschaftliches Bezugsphänomen. Das Lieben ist Teil dieses ewigen Konflikts von Ich-Werdung und Du-Findung.

Die „Klassenliebe“ ist die innerhalb einer Klasse vorbestimmte Liebe, was in Hinblick auf H. eine lieblose Deindividualisierung bedeutet und in Hinblick auf Z. Beliebigkeit und Austauschbarkeit mit einem anderen Individuum. Struck geht es um die Besonderheit der Liebenden und die vollkommene gegenseitige Öffnung, die in beiden Fällen, im Sozialismus wie im Kapitalismus, nicht zu ihrem Recht kommt. Ihre Utopie ist die der Überwindung einer Klassenliebe, hin zu einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Individuen abseits des Konflikts mit einer determinierenden Herkunft zu ihrer Identität und zu ihrem Gegenüber finden. Der Literatur kommt dabei eine wichtige Rolle zu: Literarische Werke sind Produktionen individueller Identitäten, und vermittels der Leserrezeption leistet die Autorschaft eine Form der Sozialisierung. So erfüllt die Literatur für Struck einerseits die Funktion einer persönlichen Lebensbewältigung und fungiert andererseits als Sozialkritik. Im literarischen Schaffen leistet der Autor/die Autorin somit eine Verschränkung von Privatem und Gesellschaftlichem. Der bei Struck beschriebene Klassenkampf ist allerdings ein sehr persönlicher und zutiefst innerer Vorgang. Und vielen Linken war das zu viel der Innerlichkeit. Struck nimmt innerhalb der revolutionären Bewegung selbst also eine ebenso vereinzelte Position ein, wie sie in der Klassenliebe vor dem Hintergrund der fragwürdigen Gesellschaftsstruktur zur Diskussion stellt: Sie verachtet den bürgerlichen Dünkel und ihre Normen genauso wie die Sozialromantik der Linken: „Diese beschissenen Linken kriegen schon ein Leuchten in die Augen, wenn sie nur das Wort ‚Arbeiter‘ hören...“ (Christa Rotzoll: Zwischen den Klassen? In: Die Zeit, 8. Juni 1974; zitiert nach: Hans Adler und Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Karin Struck. Materialien. Frankfurt am Main 1984, S. 206.)

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Adler, Hans; Schrimpf, Hans Joachim (Hg.) (1984): Karin Struck. Materialien. Frankfurt a. Main.

Jurgensen, Manfred (1985): Karin Struck. Eine Einführung. Bern.



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