Regina Ullmann – Behinderung als das Hilfreiche und Wesentliche: „Der Bucklige“

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Manuel Rosé (1887-1961): Clown mit Gitarre, Öl auf Leinwand, 1956

Bodenständige Erzählungen sind es, die Regina Ullmann schreibt. Und dennoch nimmt ihr Blick oftmals die Schwachen, Kranken oder sonstwie Beschädigten ins Visier, sei es eine blinde Bäckersfrau, ein beschränkter Schweinehirt, eine kinosüchtige Wäscherin. „Eingebettet in die Farbenpracht blühender Vegetation und umgeben von heimeligen Gerüchen, die ärmlichen Schwarzküchen entströmen, wird die Schwere ihres Daseins als Wertschätzung verstanden.“ (Carola Wiemers)

Eine ihrer schillerndsten Figuren ist so ein geistig zurückgebliebenes Mädchen in der Erzählung Von einem alten Wirtshausschild, das auf dem Land aufwächst und mit Respekt, ja sogar mit einer gewissen Ehrfurcht behandelt wird:

Sie war in einem geheimeren Sinne sogar mehr als nur ein Mensch. Sie hatte durch ihre ungestörte, schöne Lebensweise Bewegungen, die wir vielleicht natürlich noch nie so vollkommen gesehen haben jemals vorher. In der Stadt würde man ihre Krankheit vielleicht zu den Geisteskrankheiten gezählt haben. Hier aber auf dem Lande war sie die Blödsinnige, einfach die Blödsinnige. Und was sie tat, wurde in seiner augenblicklichen Unendlichkeit immer wieder eine Landschaft, immer wieder eine neuerschaffene. (S. 144)

In Regina Ullmanns Erzählung Der Bucklige geht es schließlich um einen buckligen Geigenbauer, der von der Ich-Erzählerin aufgesucht wird, weil diese ihre Geige abholen möchte. Der Geigenbauer ist aber auf dem Weg zu einer Zirkusveranstaltung, wo ein anderer Buckliger, ein Zirkusclown, seinen Auftritt auf dem Rücken eines Pferdes hat. Beide Figuren und Orte besucht die Ich-Erzählerin – die stille Stube des einen, die laute Arena des anderen. Über den Buckel sind sie miteinander verbunden bzw. belastet.

Während sie auf den Geigenbauer wartet, spürt sie, wie sich die Stube ihr mitteilt und vom Leben des abwesenden Meisters berichtet. Ihr Blick ist auf eine kleine Fotografie über der Werkbank gerichtet, die den Geigenbauer zusammen mit seiner Mutter zeigt; ihnen gegenüber befindet sich ein Jesuskind unter einem Glassturz mit einem Kruzifix darüber: „Sein Brustkorb drückte sich heraus, und die Arme, vom Kreuz abstehend, ließen die Schulterblätter so sichtbar werden, als sei er ebenfalls ein Buckliger gewesen, dieser menschgewordene Gott.“ (S. 195) Indem die stummen Dinge vom Leben in der Stube erzählen, erkennt die Ich-Erzählerin den ‚stillen’ Sinn, den sie aussprechen: dass diese Stube die „sichere Heimat dieses einen Menschen“ war. Die lautstarke Zirkuswelt scheint diesen Zustand für einen Moment zu übertönen. Doch noch einmal in der Werkstatt des Buckligen angelangt, fällt der Ich-Erzählerin ein neu erworbenes Bildchen auf: „Ein Buckliger stand da, ein Clown. Die eine Hand hatte er, sich verneigend, in die Seite gestemmt, und in der anderen hielt er höflichst seinen Hut, denjenigen zu verabschieden, der da noch fragen wollte. –“ (S. 202) Die neue Fotografie, die unter dem Spiegel mit dem darin sich spiegelnden Jesuskind im Glassturz angebracht ist, „erzählt vom Ende einer Leidensgeschichte, die ihre eigene, von keinem müßigen Frager zu bezweifelnde Auferstehung hat – in dieser Stube, worin die Dinge sich miteinander verbündet haben für das Kind einer Mutter.“ (Christa Bürger)

Verfasst von: Dr. Peter Czoik / Bayerische Staatsbibliothek

Sekundärliteratur:

Regina Ullmann: Von einem alten Wirtshausschild. In: Dies.: Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Zusgest. von Regina Ullmann und Ellen Delp. Neu hg. v. Friedhelm Kemp. Bd. 1. Kösel-Verlag, München 1978, S. 139-156.

Dies.: Der Bucklige. In: Dies.: Erzählungen, Prosastücke, Gedichte. Zusgest. von Regina Ullmann und Ellen Delp. Neu hg. v. Friedhelm Kemp. Bd. 1. Kösel-Verlag, München 1978, S. 193-202.

Bürger, Christa (2011): „Ich aber bin die Einsamkeit und lieb' mich selber“. Zum 50. Todestag der Dichterin Regina Ullmann. Deutschlandfunk, Reihe Essay und Diskurs, 6. November. URL: http://www.deutschlandfunk.de/ich-aber-bin-die-einsamkeit-und-lieb-mich-selber.1184.de.html?dram:article_id=185472, (05.01.2016).

Tappolet, Walter (1955): Regina Ullmann. Eine Einführung in ihre Erzählungen. Tschudy-Verlag, St. Gallen.

Wiemers, Carola (2007): Bodenständige Erzählungen mit Honigduft [Rez. zu Regina Ullmann: Die Landstraße. Erzählungen]. Deutschlandradio Kultur, Reihe Buchkritik / Archiv, 28. November. URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/bodenstaendige-erzaehlungen-mit-honigduft.950.de.html?dram:article_id=135654, (05.01.2016).



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