Wernher der Gärtner – „Helmbrecht“: Verstümmelung und Verfehlung

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Pieter Brueghel d.Ä. (1526/1530-1569): Die Krüppel, Gemälde 1568

Auf Kosten der Landbevölkerung, zu der er einst gehörte, lebt Helmbrecht über seinem Stand. Vor seinen Gefährten verbirgt er seine Herkunft aus bäuerlichen Verhältnissen und agiert mit falschem Namen.

Bei der Heimkehr zu seiner Familie, die ihn freudig aufnimmt und hofiert, zeigt er sich dagegen hochmütig und prahlt mit seinem neuen Leben. Zwar muss er sich hier wieder zu seiner Herkunft bekennen, verlässt die Familie dann aber erneut gegen den Wunsch seines Vaters und verleitet zusätzlich auch seine Schwester Gotelind zum Bruch mit den Eltern.

Als er sie mit einem seiner Waffengefährten verheiratet, werden die Raubritter von der Obrigkeit und seinen Anhängern überwältigt. Alle Gefährten von Helmbrecht werden gehängt. Als Zehnter wird er nach altem Brauch begnadigt, doch werden im die Augen ausgestochen und je eine Hand und ein Fuß abgehackt.

Niemals verzeiht Gott dem,
der Unrecht tut.
Das wurde Helmbrecht offenbar,
an dem der Vater gerächt wurde,
der Scherge stach ihm die Augen aus.
Aber damit war die Rache noch nicht vollständig.
Die Mutter wurde dadurch gerächt, daß man ihm
eine Hand und einen Fuß abschlug. [...]
Für jene Sünden mußte er nun
diese vielen Schmerzen erdulden,
so daß ihm der Tod tausendmal
lieber gewesen wäre
als dies schmähliche Überleben.
Der blinde Räuber Helmbrecht (V 1684-1707)

Lovis Corinth (1858-1925): Der geblendete Simson, Gemälde 1912

Geblendet und verstümmelt sucht er Zuflucht bei seinem Vater, der ihn nun aber abweist. Nach einem Jahr frevelhaften Raubrittertums muss Helmbrecht nun ein Jahr für seine Sünden büßen. Als er im Wald schließlich den Bauern in die Hände fällt, bei denen er zuvor gemordet und geplündert hat, erhängen sie ihn. Die Geschichte endet mit einem Epilog, in dem der Dichter Wernher der Gärtner seinen Rezipienten Helmbrechts warnendes Beispiel vorhält und zum Respekt vor Gottes Geboten aufruft.

„[...] Die Leute hier haßen mich,
zu meinem Unglück haßt auch Ihr mich jetzt.
Ich muß elend umkommen,
wenn Ihr mich verstoßt.‘
Das Alte lachte höhnisch,
obwohl es ihm das Herz brach,
war er doch sein Fleisch und Blut,
wenn er nun auch geblendet vor ihm stand.
Er sagte: ‚Ihr seid rücksichtslos durch die Welt geritten [...]
Viele Menschen hatten unter euch zu leiden. [...]
Euer Elend kümmert mich nicht.“ (V 1771-1811)

Das Motiv der Verstümmelung funktioniert im Text als Zeichen der Verfehlungen eines Menschen: den Verstoß gegen die patriarchale Familien- und Standesordnung, die im Mittelalter als Schöpfungsordnung Gottes betrachtet wurde, durch Untreue, Verrat und den Verstoß gegen das vierte Gebot, Verbrechen an der Gemeinschaft und die Todsünde Hochmut.

Helmbrecht enthebt sich dem Platz in der Gesellschaft, der ihm (von Gott) zugewiesen wurde und wird deswegen mit einem Stigma bestraft, das ihn vollständig ausgrenzt. Die körperliche Behinderung wird zum sichtbaren Ausdruck seiner Verfehlungen. Sie rächt seine Fehler.

Solche Zuschreibungen sind stets in ihrem historischen Kontext zu sehen. Eine Verschränkung von Charakter bzw. Verhalten eines Menschen, Behinderung als äußerem Stigma und dem Gesellschaftssystem ist schon seit Jahrhunderten überholt. Dennoch kann die Auseinandersetzung mit Texten wie dem Helmbrecht unter Beachtung ihres zeitgeschichtlichen Kontextes auch heute Einblicke in den Umgang mit Behinderung in der Literatur und damit auch in der Gesellschaft geben, die weiterhin nachwirken. Stigmatisierung und Ausgrenzung sind auch heute – wenn auch aus anderen Gründen – noch nicht überwunden.

Verfasst von: Laura Velte / Bayerische Staatsbibliothek