Thomas Mann: „Der Donnerschlag“

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Entstehungsquell für den Roman "Der Zauberberg": Sanatorium Schatzalp in Davos kurz nach seiner Eröffnung, 1900

Wo sind wir? Was ist das? Wohin verschlug uns der Traum? Dämmerung, Regen und Schmutz, Brandröte des trüben Himmels, der unaufhörlich von schwerem Donner brüllt, die nassen Lüfte erfüllt, zerrissen von scharfem Singen, wütend höllenhundhaft daherfahrendem Heulen, das seine Bahn mit Splittern, Spritzen, Krachen und Lohen beendet von Stöhnen und Schreien, von Zinkgeschmetter, das bersten will, und Trommeltakt, der schleuniger, schleuniger treibt... Dort ist ein Wald, aus dem sich farblose Schwärme ergießen [...] Hier ist ein Wegweiser, – unnütz ihn zu befragen; Halbdunkel würde uns seine Schrift verhüllen, auch wenn das Schild nicht von einem Durchschlage zackig zerrissen wäre. Ost oder West? Es ist das Flachland, es ist der Krieg. Und wir sind scheue Schatten am Wege, schamhaft in Schattensicherheit, und keineswegs gesonnen, uns in Prahlerei und Jägerlatein zu ergehen, aber dahergeführt vom Geist der Erzählung, um von den grauen, laufenden, stürzenden, vorwärts getrommelten Kameraden, die aus dem Walde schwärmen, einem, den wir kennen, dem Weggenossen so vieler Jährchen, dem gutmütigen Sünder, dessen Stimme wir so oft vernahmen [Hans Castorp], noch einmal ins einfache Angesicht zu blicken, bevor wir ihn aus den Augen verlieren.

(Thomas Mann: Der Zauberberg, S. 980f.)

Mit diesen Worten aus „Der Donnerschlag“ des 7. Kapitels werden die letzten Seiten von Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924) und seines Helden Hans Castorp eingeleitet. Die erste Phase der Entstehung reicht von Juli 1913 bis August 1915 (unterbrochen von Gedanken im Kriege und Friedrich und die große Koalition) und wird nach den Betrachtungen eines Unpolitischen am 9. April 1919 wieder fortgeführt.

Der Roman, „der sich als Seelenpanorama europäischer Vorkriegswelt lesen läßt und nach Thomas Manns Wort von Anfang an auf eine Katastrophe wie den Ausbruch des Krieges zugesteuert sei“ (vgl. Brief vom 22. August 1914 an Samuel Fischer, wonach der Krieg von 1914 als „Lösung“ in die „Verkommenheit meines Zauberberges“ hereinbrechen soll) – dieser Roman kann wie Manns Vorkriegsnovelle Der Tod in Venedig (1912) als Verfallsgeschichte, als Geschichte einer Depersonalisation, gelesen werden: „Weil am Anfang die bürgerliche Identität, am Ende die Identitätsaufhebung im Kriege steht, kann man zu Recht von einem Entbildungsroman sprechen (Kristiansen).“

Trotz kleiner Aufschwünge seit dem Schneetraum (6. Kapitel: „Schnee“) gelingt es Hans Castorp nicht, sich selbst aus dem Bann des Zauberbergs zu befreien. Der Kriegsausbruch befreit ihn zwar, aber nicht zu entwickelter Menschlichkeit wie im klassischen Bildungsroman, sondern als – beiläufiges – Endresultat eines elementaren Ereignisses bzw. eines großen Kollektivs:

Sie sind dreitausend, damit sie noch ihrer zweitausend sind, wenn sie bei den Hügeln, den Dörfern anlangen; das ist der Sinn ihrer Menge. Sie sind ein Körper, darauf berechnet, nach großen Ausfällen noch handeln und siegen, den Sieg noch immer mit tausendstimmigem Hurra begrüßen zu können, – ungeachtet derer, die sich vereinzelten, indem sie ausfielen.

(Thomas Mann: Der Zauberberg, S. 982)

Castorps Befreiung zum Flachland des Zauberbergs bedeutet nur, dass die Welt des Todes – wie im Sanatorium – die Farbe gewechselt und nun unverhüllt Gestalt angenommen hat. Der Ton des Erzählers wird daher in seiner Eigenart auch weniger ironisch und lässt das Spielerisch-Intellektuelle der vorangegangenen Kapitel vermissen. Beim Krieg, dem „Weltfest des Todes“, wie es zuletzt heißt, endet gewissermaßen der ganze Spaß:

O Scham unserer Schattensicherheit! Hinweg! Wir erzählen das nicht! Ist unser Bekannter getroffen? Er meinte einen Augenblick, es zu sein. Ein großer Erdklumpen fuhr ihm gegen das Schienbein, das tat wohl weh, ist aber lächerlich. Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Füßen, bewußtlos singend:

„Und sei-ne Zweige rau-uschten,

Als rie-fen sie mir zu –“

Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er uns aus den Augen.

(Thomas Mann: Der Zauberberg, S. 984)

 

(Eder, Jürgen [2000]: Die Geburt des Zauberbergs aus dem Geiste der Verwirrung, S. 172)

(Kurzke, Hermann [19973]: Thomas Mann, S. 208f.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik