Ingmar Bergman über München II

Für einen Barbaren aus dem Norden, der die Treue zum Wort mit der Muttermilch eingesogen hat, ist das alles schrecklich, aber es macht Spaß. Das Publikum tobt und jubelt, die Kritik tobt und jubelt, man selbst bekommt einen heißen Kopf, der Boden schwankt unter den Füßen. Was ist es, was ich sehe, was ist es, was ich höre, bin ich derjenige, der – oder?

Allmählich entscheide ich mich – jetzt gilt es, verdammt noch mal, Stellung zu beziehen –, das tun alle, und dann fühlt man sich gut, auch wenn man seine Behauptungen am nächsten Tag zurückzieht und das Gegenteil sagt. Also: Das meiste, was im Deutschen Theater auf mich einstürzt, ist nicht totale Freiheit, sondern totale Neurose. Was soll den armen Teufeln denn auch noch einfallen, um das Publikum und vor allem die Kritik dazu zu bringen, auch nur die Augenbraue zu heben ... Jetzt kommt es also darauf an, frech zu sein, wenn man sich profilieren will. Freiheit ist das nicht. Inmitten dieses Chaos blühen große Theatererlebnisse, geniale Interpretationen und entscheidende, explosive Ausbrüche. Die Leute gehen ins Theater, beklagen sich laut. Oder freuen sich. Oder beklagen und freuen sich. Die Presse ist mit von der Partie. Ununterbrochen detonieren lokale Theaterkrisen, ein Skandal löst den anderen ab. Kritiker schänden und werden geschändet, es ist, kurz gesagt, ein teuflischer Radau. Krisen in Massen, aber kaum eine richtige Krise.

Ingmar Bergman, Laterna Magica. Mein Leben, 1987 (Zit. aus: Ingmar Bergman: Laterna Magica. Mein Leben. Berlin 1987, S. 342f.)

 

Ingmar Bergman (1918-2007), schwedischer Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur; Aufenthalt in München: 1976 bis 1985

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek