Wassily Kandinsky über München II

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Am Auermühlbach, um 1930 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler)

Als Kind sprach ich sehr viel Deutsch (meine Großmutter mütterlicherseits war eine Baltin). Die deutschen Märchen, die ich als Kind so oft hörte, wurden lebendig. Die jetzt verschwundenen hohen, schmalen Dächer am Promenadeplatz und am Maximiliansplatz, das alte Schwabing und ganz besonders die Au, die ich einmal zufällig entdeckte, verwandelten diese Märchen in Wirk­lichkeit. Die blaue Trambahn zog durch die Straßen wie verkörperte Märchenluft, die das Atmen leicht und freudig machte. Die gelben Briefkästen sangen von den Ecken ihr kanarienvogellautes Lied. Ich begrüßte die Aufschrift „Kunstmühle“ und fühlte mich in einer Kunststadt, was für mich dasselbe war wie Märchenstadt.

Wassily Kandinsky, Rückblick, 1931 (Zit. aus: Wassily Kandinsky: Rückblick (Mai 1913). Baden-Baden 1955, S. 10)

 

Wassily Kandinsky (1866-1944), russischer Maler; Aufenthalt in München: 1896 bis 1906 und 1909 bis 1914

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek