„Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann“. Von Tanja Maljartschuk

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© Michael Schwarz

Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig, 2013 ihr Roman Biografie eines zufälligen Wunders, 2014 Von Hasen und anderen Europäern und 2019 ihr jüngster Roman Blauwal der Erinnerung. Darin beschreibt sie die Niederlage der ukrainischen Staatenbildung 1919 anhand der Schicksale ukrainischer Intellektueller, die vor den Bolschewiki ins Exil flohen. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis, 2022 den Usedomer Literaturpreis. Die Autorin und Journalistin lebt derzeit in Wien.

Audio (Lesung): 

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Wie man über die Unmöglichkeit des Schreibens schreiben kann

 

Schreiben Sie etwas Literarisches, haben sie gesagt, eine Erzählung zum Beispiel, ein Märchen, einen Text, der weder eine Zeitungskolumne noch ein Essay über den Krieg ist. Schreiben Sie, haben sie gesagt.

Ich versprach es und wusste, dass das Versprechen nicht haltbar sein würde. Gott ist in Butscha und Mariupol gestorben (und vielleicht schon viel früher). Die Metapher ist tot. Die Emotion stirbt demnächst. Und ohne diese drei Voraussetzungen entsteht keine Literatur im Sinne der Literatur. Vielleicht entsteht sie im Sinne der Überlebensnotwendigkeit?

Keiner meiner vielen ukrainischen Autorenkolleginnen und -kollegen kann derzeit schreiben. Viele sind in den Krieg gegangen. Sie haben die Uniform angezogen, die Waffe in die Hand genommen, sich verabschiedet und sind in unbekannte Richtung verschwunden. Mit ihren Familien kommunizieren sie über soziale Netzwerke (anders ist es verboten).

Artem X. hat drei Kinder. Irgendwo während einer Pause in der Kaserne zeichnet er ein Gesicht eines Buben, eine Torte mit Kerzen und einen schlichten Satz „Ich liebe dich“. Zum ersten Mal versäumt Artem den Geburtstag seines Sohnes. Die drei Liebeswörter sollen Romane ersetzen, die Artem, falls er stirbt, nie mehr schreiben wird. Wird jemand es für ihn tun? Mit gleichem Mut und Liebe vor allem?

Ich bin nicht mehr fähig, über die Liebe zu schreiben, ich bin nicht mehr fähig zu lieben. Nach Gräueltaten russischer Soldaten in Kyjiwer Vororten verlor die Verwendung der Wörter abseits eines juristischen Kontextes jeglichen Sinn. Ich habe Gespräche mit vergewaltigten Frauen und Mädchen gelesen und habe dabei gedacht, dass ich nie mehr mit einem Mann werde schlafen können, ohne an sie zu denken. Obwohl ich physisch von der zerbombten Ukraine weit weg bin, nicht geflüchtet bin, nicht wegen heulender Sirenen aufwache, keiner meinen Körper berührte, keiner in einem Keller meine Arme auf den Rücken band, – bin ich trotzdem ein Opfer dieses Krieges. Und, dass ich stundenlang reglos am Tisch sitze und die weiße Wand vor mir anstarren kann, bedeutet schlichtweg eine Phase der Verarbeitung. Ich erinnere mich daran, dass es noch vor kurzem möglich war zu weinen. Vorbei. Genauso vergeht die Erstarrung. Was kommt danach?

Schreiben Sie, haben sie gesagt. Okay, dachte ich, ich schreibe, vielleicht tut es mir wenigstens gut.

Angefangen zu schreiben habe ich vor vielen Jahren auch nur deshalb, um mir selbst etwas Gutes zu tun. Ich saß am Fensterbrett eines vielstöckigen Betonhauses und verfasste Gedichte. Anderes wäre es in dieser Stille am Rande der Sowjetunion für ein sechsjähriges Mädchen kaum erträglich gewesen. Ich schrieb, um meine einsame Existenz in Worte zu fassen und sie somit zu ergreifen, zu begreifen, was man hier am Rand eines sterbenden Imperiums überhaupt macht. Ich saß am Fensterbrett, das Fenster war offen, der Innenhof düster und voll mit Kindern, die versuchten, sich um jeden Preis zu amüsieren. Denn so sind Kinder, egal was passiert, sie müssen lachen. Aus irgendeinem Grund war die Erde im Hof voller Glasscherben. Ein Hof voller Kinder und Scherben also. Irgendwas zerbrach hier, was aus Glas war, vielleicht der Himmel. Die Kinder lachten laut und alte Frauen auf den Bänken ärgerten sich.

Schreiben Sie, wurde mir gesagt. Fasse die Realität an, sage ich mir, begreife wenigstens die Vergangenheit, die dich dazu gebracht hat, wo du heute bist. Wenn der Text unbedingt vom Krieg handeln muss, dann vielleicht nicht von diesem, sondern von einem der früheren. Frühere Kriege bekamen bereits ihre Anzüge aus Wörtern. Man hat es gelernt, über sie zu sprechen, sie zu beweinen, sich über sie lustig zu machen, ja, sogar das. Sprach man über die Zwischenkriegszeit, so verstanden die Zuhörer sofort, dass von den 20er/30er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die Rede war. Keiner brauchte es zu präzisieren. Nun wird man präzisieren müssen. Ohne es zu wissen (oder es wissen zu wollen) befanden wir uns immer schon zwischen zwei Kriegen. Zwischen dem Zweiten und dem heutigen – noch kennt keiner seinen Namen. Frieden ist eine Vorahnung der Katastrophe, nichts mehr. Wenn es in dem Augenblick gerade nicht vor deiner Tür kracht, heißt das lange nicht, es wird für immer so bleiben. Der 23. Februar 2022 gehörte zur Zwischenkriegszeit. Der schwarze Rauch nach einem Raketenanschlag in meiner Heimatstadt frühmorgens am Tag darauf kennzeichnet den Beginn einer neuen Epoche. Auf dem Fensterbrett des Betonhauses wachsen dutzende Usambaraveilchen, im Hof mit der Erde voller Glasscherben stehen mittlerweile viele Bäume.

Wie merkwürdig: Im Angesicht des heutigen Krieges schmerzen die früheren wieder viel mehr. Wurden sie tatsächlich beendet? Oder unterwarfen wir uns einer süßen Illusion, um schlummernd weiter existieren zu können und Nachwuchs in diese aus Opfern und Tätern bestehende Welt hineinzugebären? Heute scheint es mir, als hätte es immer nur diese zwei Kategorien des Hinein-Geborenen-Seins gegeben: Opfer oder Täter. Manche behaupten, es gäbe noch Zuschauer. Aber auch die Zuschauer sind Opfer. Was sie gesehen haben, wird auch sie früher oder später zerstören.

Schreiben Sie, haben sie gesagt. Okay, dachte ich, ich mache ein Märchen daraus. Egal, was passiert, die Kinder müssen lachen. Oder anders: Egal was passiert, man muss eine Form finden, Kindern davon zu erzählen, weil sie fragen. Sie wollen wissen, ob das Gute am Ende trotzdem siegt. Fallen die Raketen und Bomben, brechen die Häuser zusammen, sterben die Nachbarn, Kinder schweigen nicht. „Siegt das Gute?“, fragen sie nach und nach. Aber natürlich. Hört nur zu:

Es gab einmal ein Volk von friedlichen und schwachen Bauern. Die Friedlichen sind leider meist schwach, Bauern sowieso. Vielleicht war es überhaupt ein Fehler, Bauer zu werden. Es wäre viel besser, Räuber zu sein oder Seemann, aber es gab so viel fruchtbare Erde um diese Menschen herum und so viele Frauen, die ihre Gatten nicht aufs Meer gehen ließen. Sie dachten, wenn sie niemandem etwas antun, so tut niemand ihnen etwas. Was für ein Irrtum. Sie beackerten ihre Felder, mähten Weizen und buken Brot, bis eine feindliche Schar von Fremden kam, die all das nicht machen wollte. Diese Fremden wollten aber auch nicht zulassen, dass jemand anders ackert, mäht und backt, was eigentlich ziemlich absurd erschien, es passiert aber oft, dass man Feinde und ihre Gründe nicht versteht. Der Krieg hat seine eigene Logik. Opfer verstehen selten, warum sie sterben.

Obwohl ihre Lieder immer schon sehr traurig waren, hatten die besagten Bauern diesen Angriff nicht kommen sehen. Ihre Lieder wussten mehr über den Tod als sie selbst. Ein Junge namens Slawko lief herbei und berichtete von den vielen vorrückenden Panzern, die er aus der Ferne früh am Morgen von einem hohen Baum aus beobachtet hatte. „Es passiert also wieder“, sagte er, worauf einige Bauern antworteten, dass sie ihm nicht glaubten. „Wir sterben alle“, sagten die anderen. Und die dritten meinten, sie würden kämpfen. Dann verstummten die Kinder (sie schweigen also doch manchmal), und die Frauen weinten. In jenem Augenblick bereuten sie es ein wenig, dass sie ihre Männer nicht aufs Meer hatten gehen lassen. Und die Schlacht begann. Die Bauern errichteten Schanzen und verbarrikadierten die Denkmäler ihrer Nationaldichter mit Sandsäcken, als wären diese Statuen auf den Hauptplätzen das Wichtigste, was geschützt werden müsste. Weizenfelder und Kirchen brannten, Rauchsäulen erhoben sich gen Himmel wie die Schwerter, und der Himmel, da er aus Glas und Licht bestand, zerfiel in Scherben der Finsternis. Diese Scherben konnten wie Kerzen getragen werden, nur dass sie verdunkelten statt Licht zu spenden. Sie halfen den mutigen Verteidigern, eine Weile für die Angreifer unsichtbar zu bleiben. Aber nur eine Weile. Die Bauern hatten keine Waffen und konnten sich mit Sensen und Forken nicht lange gegen Panzer und Kampfflugzeuge verteidigen.

Haben sie also verloren?

„Nein, natürlich nicht“, pflegte Slawko zu sagen.

Er war mein Opa.

Er liebte es, solche dubiosen Geschichten zu erzählen und war deshalb als Narr und Clown in seinem Umfeld bekannt. Sein Sinn für Humor war sehr eigenartig, genauso wie sein Bedürfnis, seine Mitmenschen, um jeden Preis zum Lachen zu bringen. Opa war ein Kind, er war Kind geblieben. Als er klein war, gab es niemanden, der Slawko gesagt hätte, dass das Gute am Ende immer siegt. Darum fand er einen eigenen, etwas seltsamen Weg, sich dessen zu versichern. Er erzählte allen und vor allem mir, er sei während des Zweiten Weltkriegs jeden Morgen in einer Wanne voll mit Gold geschwommen. Die Wanne stand nah am hohen Ofen, und Slawko kletterte hinauf, um von dort geschickt ins Gold zu springen. Jeden Morgen machte er das und wurde schließlich selbst zu Gold. Kugeln konnten seine Brust und seinen Schädel nicht durchschlagen. Seine Haare waren so schön, dass alle Mädchen von ihm träumten. Aber Slawko liebte nur eines, nämlich meine Oma, und heiratete sie, obwohl sie keine Schönheit und noch dazu Analphabetin war. Als ich und Slawko in den letzten Jahren seines Lebens einander anriefen, fragte er mich stets, ob ich Geld habe. Nicht um mir Geld zu geben, falls ich nein antworten würde, sondern um zu klagen, wie traurig das ist, dass er sein berühmtes Gold im Gemüsegarten vergraben und danach vergessen hat, wo genau.

Ich hingegen fragte Slawko, ob er seine Frau wirklich geliebt hat. Warum auch immer es mir wichtig war, das zu wissen.

„Aber sag ehrlich, hast du Oma geliebt?“

„Warst du auf dem Friedhof, wo sie begraben liegt?“, war seine Antwort.

Ja, sagte ich, ich war dort.

„Hast du den Grabstein gesehen, den ich für sie habe machen lassen?“

„Ja, ich habe ihn gesehen.“

„Und glaubst du, ich hätte so einen teuren, schicken Grabstein machen lassen, hätte ich sie nicht geliebt?“

Für sich selbst bereitete Slawko einen nicht weniger guten Grabstein vor.

Schreiben Sie, haben sie gesagt. Schreiben Sie, wir möchten nur wissen, ob die armen Bauern den Krieg verloren oder gewonnen haben. Obwohl – wie konnten sie mit Sensen und Forken gegen Panzer und Flugzeuge gewinnen? Das geht selbst in einem Märchen nicht.

Doch, das geht, weil die Bauern unerwartete Hilfe bekamen. Ihre Haustiere beschlossen, ihnen zu helfen. Und falls jemand es noch nicht gehört hatte, ist es gerade passend zu erwähnen, dass Haustiere sehr blutrünstig und aggressiv sein können. Die bösen Eindringlinge ahnten davon natürlich nichts. Katzen, Hühner und Schweine wurden zu ihrem Verhängnis. Kaum näherten sich Soldaten, pickten ihnen die Tiere die Augen aus, zerfetzten ihre Gesichter, bissen ihre Arme und Beine ab, rissen ihre Herzen heraus (sofern welche vorhanden waren) und andere Organe aus den uniformierten Leibern. Die Kaninchen galten als die schrecklichsten. Sie, wie Slawko ausdrucksvoll erzählte, lebten bei ihm in einer Grube hinter der Scheune. Dass der Himmel bereits zerbrochen worden war, machte den Kaninchen überhaupt nichts aus, weil sie ohnehin das Leben im Dunkeln bevorzugen. Kaninchen gruben sich unter der Erde ein breites verflochtenes Wegesystem und tauchten plötzlich dort auf, wo keiner mit ihnen rechnete, sogar inmitten der okkupierten Villen. Mit großen scharfen Zähnen schnitten sie die Kehlen der Angreifer auf, während diese schliefen oder auf dem Klo saßen. Die Kaninchen töteten geräuschlos und ohne jedes Erbarmen. Nach dem Krieg, wie Slawko immer behauptete, hatte er selbst Angst, sie weiter zu züchten. Stattdessen züchtete er Tauben. (Obwohl die Rolle der Tauben in jenem Krieg auch höchst umstritten ist.)

Ich schreibe, ja. Wie damals auf dem Fensterbrett, um die Stille um mich herum mit meiner Stimme zu verdünnen. Nicht um die Realität zu begreifen, sondern um mir die Möglichkeit zu verschaffen, in dieser Realität bleiben zu dürfen. Egal wie sie ist, ich möchte bleiben. Und bleiben kann ich nur, indem ich schreibe.

Mit sechs, damals am Fensterbrett, schrieb ich Gedichte. Manchmal über den Tod, obwohl ich noch nicht wissen konnte, was das ist, aber viel häufiger dachte ich mir ein paar gereimte Zeilen aus, die meine Familie beim Abendessen zum Lachen bringen konnten. So wie Slawko war es mir ein Bedürfnis, den Narren zu spielen. Wenn die anderen lachten, fühlte ich mich glücklich. Wenn die anderen lachten, brüllten sie nicht und stritten nicht miteinander. Weder prügelten sie sich noch weinten sie, wenn sie lachten. Ich liebte das Lachen der anderen und liebe es immer noch. Auch wenn ich selbst nach diesem namenlosen heutigen Krieg nie mehr werde lachen können, möchte ich etwas tun können, damit die anderen lachen. Zumindest lächeln. Zumindest Kinder.

Schreiben Sie, haben sie gesagt.

 

© Tanja Maljartschuk