Literatur und Journalismus

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… sind wie Krankenschwestern mit einem Faible für Obstbaumschnitt, findet Andreas Unger.

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Eigentlich muss ich mich bei Ihnen nicht vorstellen. Wenn Sie mich noch nicht kennen, werden Sie mich bald kennen lernen. Dafür wird mein neuer Roman sorgen, ein Epos, komplex komponiert, erlesen erdacht, verfeinert verfasst.

Worum es geht: Liebe, Zeitläufte, Verrat, dazu jede Menge filigran eingearbeiteter Nebenhandlungsstränge in wohlrhythmisierter Prosa und ein ebenso ambivalentes wie vorläufiges Ende. Aber, so viel sei verraten: Das ist noch nicht alles. Sollte Ihnen diese Ankündigung Lust auf mehr gemacht haben, müssen Sie sich gedulden. Der Roman, um den es geht, wartet momentan noch auf seine Endfassung.

Auf Seite 52 wartet er. Seit zwei Jahren wartet er. Geben tut es ihn natürlich, das schon, nur ist er noch nicht vollständig getippt. Die Druckfassung existiert bis dato mehrheitlich in meinem Kopfe.

Nämlich, als ich gerade voll drin war im Schreiben, alle Figuren vor meinen inneren Augen hatte, meine Phantasie ihnen Persönlichkeit, Sprache, Geschichte, Odeur zugewiesen hatte, just als mein Romanpersonal daran war, in Interaktion zu treten, zu den phantastischsten Abenteuern anzuheben, da kam wieder ein Auftrag herein, ein journalistischer. Und noch einer und noch einer, und von irgendetwas muss ich ja leben, kurz vor meinem Durchbruch als Romancier. Also saß ich am Rechner, sprach mit der Redakteurin, den Kameraleuten, schrieb Treatments, recherchierte, drehte, interviewte, schnitt und textete. Und verzweifelte, denn das alles tat ich ja im Bewusstsein der notwendigen Vorläufigkeit auch des anspruchsvollsten Qualitätsjournalismus' und eingedenk der Tatsache, dass mir nicht ewig Zeit bleibt zum Erreichen der Unsterblichkeit, die allein mein Roman mir wird verschaffen können. Seite 52 also, immerhin.

Ich bin nicht der einzige. Einer nicht repräsentativen Umfrage zufolge haben 85 Prozent meiner journalistischen Freunde einen Romananfang im Computer stecken. Weitere 15 Prozent geben es nicht zu.

Verfasst von: Andreas Unger