Therese – das jüngste Kind

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Alte Synagoge Ohel Jakob in der Münchner Kanalstraße (1891).

Am 6. März um 7 Uhr 28 erblickte Therese Gift das Licht der Welt. Die ganze Familie hatte sich zu Hause versammelt: der Vater Salomon Gift, der sechzehnjährige Max, die fünfzehnjährige Jeanette, der vierzehnjährige Siegfried und die siebenjährige Irma. Bei Gertrude Gift hatten die Wehen eingesetzt. Die kleine zierliche Frau erwartete ihr fünftes Kind. Alle waren gespannt auf den neuen Erdenbürger? Würde es ein Mädchen oder ein Junge sein? Therese behauptete vom ersten Tag an unübersehbar ihren Platz – wie sie es später auf der Bühne tun würde: ein Schwergewicht in jeder Beziehung. Sie habe bei ihrer Geburt zehn Pfund gewogen und sich dementsprechend weiterentwickelt, lautete ihr rückblickender ironischer Kommentar.

Am Ende des 19. Jahrhunderts, zwei Jahre vor der Wende zum 20. wurde also die Frau geboren, die als eine der größten Schauspielerinnen in die Theatergeschichte eingehen und Kultstatus genießen würde – vergleichbar mit Sarah Bernhardt und Eleonore Duse. Therese Giehse kam im selben Jahr auf die Welt wie der Dichter, der für sie eine künstlerische wie menschliche Offenbarung bedeuten sollte – genau wie umgekehrt sie für ihn, so dass er Bühnenfiguren für sie erfand und sie als die größte Schauspielerin Europas bezeichnete: Bertolt Brecht. Obwohl das zum Zeitpunkt ihrer Geburt noch keine Rolle spielte, verführt es doch dazu, diese Tatsache im Nachhinein als Omen zu betrachten.

Rückblickend beschreibt sich Therese Giehse nicht als fröhlich-unbekümmertes Kind, sondern als ernst, vernünftig, nachdenklich und „alleinig“. Allein unter Erwachsenen.

Therese wuchs in ihrem konservativen jüdischen Elternhaus sehr frei auf – so nebenbei, ohne Kontrolle, Autorität, Bevormundung. Der Nachkömmling war früh selbstständig und auf sich gestellt, im Schatten der älteren Geschwister – ein „alleiniger“ junger Mensch, der genau davon profitierte, weil er sich ungestört entwickeln konnte. Die Familie Gift lebte in einer großen Wohnung in der Herzog-Rudolf-Straße, gegenüber der Synagoge des orthodoxen Ritus, „Ohel Jakob – das Zelt Jakobs“.

Verfasst von: Bayerische Staatsbibliothek / Gunna Wendt

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