Im Rausch der Ideologie: Bernward Vesper

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Bernward Vesper: Die Reise. Rowohlt Taschenbuch, 8. Aufl. 1983 (Bildcover)

Bernward Vesper wird 1938 in Frankfurt/Oder geboren und studiert in Tübingen Geschichte, Germanistik und Soziologie. Mit Gudrun Ensslin, seiner späteren Verlobten, wechselt er an die Freie Universität Berlin und betätigt sich als Verleger. 1965 wird er als Redenschreiber für Willy Brandt tätig, quittiert die Arbeit für die Bundesregierung jedoch aus Protest gegen die Notstandsgesetze. 1968 begründet er seinen eigenen Verlag: die Edition Voltaire. Im selben Jahr verlässt Ensslin, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat, Vesper für Andreas Baader. 1969 begibt er sich auf ebenjene Reise, die Vorlage für sein gleichnamiges literarisches Werk wird, das 1977 posthum unvollendet veröffentlicht wird.  Eine wichtige Station der Reise ist auch München, wo er einen LSD-Trip erlebt und einen schizoiden Schub erleidet. Dieser Vorfall wirft ihn endgültig aus der Bahn. Die Reise endet im Klinikum Haar. Und noch im selben Jahr nimmt er sich das Leben in der Hamburger Psychiatrie, in die er kurz zuvor aus München überstellt worden war.

Die literarische Reise wird 1977 unmittelbar nach dem Deutschen Herbst veröffentlicht und trifft ins Schwarze: Der Tod des Erzählers spiegelt geradezu den Gruppenselbstmord der RAF-Terroristen in der Todesnacht von Stammheim, unter denen sich auch die ehemaligen Weggefährten Ensslin und Baader finden. Die Reise darf daher als eines der wichtigsten Vermächtnisse der '68er gelten, das Uwe Schweikert in der Frankfurter Rundschau sehr bezeichnend mit den Worten rezensiert:

In seinem individuellen Schreiben spiegelt sich das kollektive Scheitern jener Generation wider, die Mitte der sechziger Jahre aufbrach, die versteinerte Gesellschaft der westlichen Industriestaaten zu verändern und die heute, wie es scheint, mit wenig mehr als der ohnmächtigen Hoffnung in leeren Händen dasteht.

Im Mittelpunkt der konsequent kleingeschriebenen Aufzeichnungen entlang des Bewusstseinsstroms des Erzählers stehen die Beobachtungen der politischen Situation im Nachkriegsdeutschland und die eigene Stellungnahme zu diesen, die Reflexion der Vater-Sohn-Beziehung, Anekdoten aus der Kindheit und die eigenen Drogenerfahrungen. Es ist eine zeitgeschichtliche, aber auch eine Lebens-Reise, die aufgrund des gesundheitlichen Zustands des Autors unvollendet bleibt und entsprechend keiner linearen Handlung folgt. Die Kategorisierung des Fragments als autobiografischen „Romanessay“, eine Mischform aus Narrativ und Pamphlet, trägt diesem Collagecharakter Rechnung und fügt sich zugleich in den revolutionären Geist, indem es die altgedienten Gattungsgrenzen sprengt. Der Duktus fällt mal poetisch, mal ironisch, mal politisch-impulsiv aus, was zu einer stark subjektiven Färbung und Wertung der Niederschrift führt. So ist auch Vespers Reise wie so zahlreiche Beiträge der '68er-Literatur im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv anzusiedeln.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Koenen, Gerd (2003): Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Köln.