Demokratisierung des Theaters

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Protest gegen die Notstandsgesetze 1968 (Bayerische Staatsbibliothek/Bildarchiv, Timpe)

Auf der Kinoleinwand oder dem Bildschirm mag sich die Rebellion noch an der Peripherie bewegt haben; auf der Bühne wird der revolutionäre Geist hingegen regelrecht aufgesogen und kann sich in den Spielstätten dauerhaft etablieren und institutionalisieren. Theater wird nicht mehr nur fürs Bildungsbürgertum gemacht, sondern einer durchgehenden Demokratisierung unterzogen – es soll ebenso bildungsferne und untere Schichten ansprechen, mit einem volksnahen Programm. In den Augen der Obrigkeiten alias Ministerialräten oder Abgeordneten bedeutet dieses Bestreben eine Proletarisierung des Theaterbetriebs. Den Spielplan der Münchner Bühnen studierend meint der CSU-Abgeordnete Erich Schosser, man fände dort „fast keine Bayern mehr“. Wo seien die Mundartstücke abgeblieben, fragt ein anderer Abgeordneter. Doch auch unter den Sozialdemokraten rührt sich eine Sehnsucht nach den guten, alten Klassikern. Joachim Kaiser, Kritikerpapst, beklagt, dass das Programm kaum noch förderungswürdig sei, stellt eine „Mischung aus Hinterwäldlerei und Ahnungslosigkeit“ fest. Zum Glück spiele man immerhin noch Ludwig Thoma. Aber nicht einmal der linke Brecht hat noch Konjunktur. An seine Stelle tritt unter anderem die Heiner-Müller-Inszenierung im Hippie-Stil Im Ardenner Wald (Originaltitel: Was ihr wollt). Klassiker überleben, wenn sie denn revolutionäres Potential haben. So erfreut sich auch Schillers Räuber-Drama im Residenztheater (wie bundesweit) größter Beliebtheit. Im Fokus der Kritik stehen die Kammerspiele, die Deutschlands Avantgardebühne, der Berliner Schaubühne, Konkurrenz machen.

Der Stadtrat erwägt, dass die Aufführung ihrer Stücke vom Kulturausschuss abgesegnet werden müsse, da sich Stimmen mehren, die das Unbehagen unter den Zuschauern protokollieren. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel wehrt sich gegen diesen Plan – die Kunst ist und bleibt frei, und der Intendant August Everding erklärt die Unabhängigkeit des Ensembles von der „Lust der Unaufgeklärtheit und dem Noch-nicht-soweit-sein des Zuschauers“. Aufwind erhält die Bühne auch durch Kulturreferent Herbert Hohenemser, der zu dem Schluss kommt, dass das Aufgebot an Moderner Literatur – mit Namen von Dramatikern wie Robert Walser oder Friedrich Dürrenmatt – auf bundesdeutschen Bühnen einmalig sei. Die Münchner Kammerspiele avancieren zum subversiven Theater schlechthin. Diese Subversion geht so weit, das am 23. Mai 1968 die Vorstellungen im Schauspielhaus und im Werkraum für eine Protestaktion gegen die Notstandgesetzgebung unterbrochen werden: Das Ensemble fordert das Publikum zum Diskutieren auf. Während der Werkraum applaudiert, zeigt sich das bürgerliche Publikum im Schauspielhaus brüskiert. Den Höhepunkt des Protestprogramms markiert ein Stück von Peter Weiss: Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Vietnam. Und der noch junge Regisseur Martin Sperr, der durch seine Jagdszenen aus Niederbayern (1965) Bekanntheit erlangen wird, jagt seine Schauspieler mit schrecklichen Masken auf die Bühne und lässt diese im Publikum für vietnamesische Befreiungskrieger sammeln – 500 D-Mark kommen zusammen „für eine Rakete“. In den Tagen darauf wird das Schauspielhaus schließlich noch Schauplatz eines Sit-Ins. Das geht sogar dem grundliberalen Everding zu weit, der den Rabauken den Riegel vorschiebt. Nachwuchsdramaturg Peter Stein zieht infolgedessen den Hut und geht nach Berlin, um dort sein Agitproptheater vorantreiben zu können.

Ein nicht minder wichtiges Bühnenspiel etabliert sich in der Münchner Kabarettszene: Liebste Zielscheibe ist der debile Bundespräsident Lübke, dessen Persiflage das Schaufenster des Münchner Rationaltheaters ziert, seinerzeit Deutschland bissigste Satire-Bühne. Lübke, der sich bei seinem Staatsbesuch in Afrika als Landwirtschaftsminister durch seine Begrüßung: „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Negerinnen und Neger“ ausgezeichnet hat, wird 1965 zum Bundespräsidenten gewählt und dabei von der SPD, die sich auf eine große Koalition ausrichtet, gestützt. Die Politik empört sich bitterlich über seine Persiflage. Das Rationaltheater folgt dessen ungeachtet unmittelbar Martin Walsers Appell, die deutschen Theater mögen sich politisch positionieren. So hatte Walser unter anderem 3000 Münchner Vietnam-Demonstranten dazu aufgefordert, mit einer Postkarte der „CSPDU“ in Bonn „blutige Ostern“ zu wünschen.

Während das Rationaltheater konsequent kapitalismus- und systemkritisch war, sympathisierte die Konkurrenzbühne der Lach- und Schießgesellschaft mit den Sozialdemokraten: Das unweit in Schwabing benachbarte Haus formierte sich zum lustigen Oppositionstheater mit Zugpferd Dieter Hildebrandt. Den linken Studenten war die Lach- und Schießgesellschaft damit zu populär – so vermag das Ensemble ihre Fraktion denn auch nicht mit ihrem 1968 aufgeführten Programm Der Moor ist uns noch was schuldig auf seine Seite zu ziehen; ein provokantes Stück, das jedoch auch nicht zögert, einen Seitenhieb gegen die Aggression der Revolutionäre auszuteilen (s. im Folgenden Komik und Kritik: Dieter Hildebrandt).

Gegenüber den weltpolitischen Statements findet eine weitere, populäre Dimension der '68er auf den Bühnen Gehör: die „freie“ Liebe hält Einzug in die Schauspielhäuser. Das Love-Peace-and-Freedom-Kultstück Hair markiert den Höhepunkt der Münchner Freizügigkeit: Am 24. Oktober 1968 findet die deutsche Erstaufführung des „Schock- und Rock-Musicals“ in der bayerischen Landeshauptstadt statt. 30 Männer und Frauen hüpfen entkleidet über die Bühne des Theaters in der Brienner Straße. Das Synästhesiespektakel von Texten, Bildern und Klängen beschreibt Karl Stankiewitz:

Ein höllisches und himmliches Spektakel. Blasphemisch und inbrünstig zugleich, tiefsinnig und banal, linksradikal und asozial, aufklärerisch und mystisch, optimistisch und nihilistisch: Musical, Demonstration, Kabarett, Happening, Zirkus.

(Stankiewitz 2008, S. 142)

Inszeniert wird die Münchner Aufführung von dem Mitverantwortlichen der Broadway-Version Bertrand Castelli. Das Ordnungsamt ist darauf gefasst, gegen eine Entkleidungsszene in rosafarbenem Licht und die Darbietung eines heidnischen Tanzes auf den ewigen Frieden und die Versöhnung der Menschheit einzugreifen. Der Auflagenbescheid wird jedoch aufgehoben, das Kunstinteresse der Inszenierung anerkannt. Eine Textszene muss allerdings gestrichen werden – die pressekritische Parole „Töten ist der letzte Schrei, Springers Bild ist auch dabei“ – und bei einer akrobatischen Sexaktszene soll ein Tuch vorgehalten werden. Die deutschen Buchautoren, die das Stück übersetzt und auf deutsche Verhältnisse übertragen hatten, Ulf von Mechow und Karlheinz Freynik, bauen obendrein eine Verballhornungs-Szene deutscher Jodler mit ein.

Nicht zuletzt spielt natürlich auch Rainer Werner Fassbinder eine zentrale Rolle in diesem experimentellen Umfeld. Was als „antitheater“ in einem Schwabinger Hinterhof begann, erweist sich als ein Lebenswerk: das antibürgerliche Theater schlechthin, das seine Aufführung Dada-like ad absurdum führt. Die Gegenkultur des antitheater richtet sich darüber hinaus aber auch gegen das subkulturelle Theater – also gegen das bereits bestehende Antibürgerliche. Sein Mittel, um das bürgerliche Theater zu kappen: es mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Fassbinder entstellt die klassischen Stoffe, Stoffe wie die der Iphigenie oder Lulu oder Don Carlos. Ihre Inszenierung wird zu Rudimenten dekonstruiert. Und die klassischen Helden geraten zu Antihelden: zu Unterdrückten oder zu Kapitalisten. Die Liebe entpuppt sich als sittenwidrige Orgie, Gaunereien als Prinzipien des Establishments. Sein Ensemble nennt sich fortan: „Antiautoritäre Produktionsgemeinschaft“. Vom Hinterhof tritt sie den Feldzug auf die größeren Bühnen an. Fassbinder geht von Entlehnungen zu eigenen Stücken über, erst für die Bühne, wie Der amerikanische Soldat (1968) oder Anarchie in Bayern (1969); oder dann für den Film, der seine großen bundesweiten und schließlich internationalen Erfolge mit Meisterwerken wie Katzelmacher (1969) oder Liebe ist kälter als der Tod (1969) zeitigen wird. Damit steht der Filmemacher Fassbinder mit seinen hintersinnigen Produktionen für eine Reihe ambitionierter Stücke, die es anfänglich nicht leicht haben, sich gegenüber den populären Streifen durchzusetzen, die in den 1960/70ern in einer Vielzahl über den Bildschirm flimmern.

Verfasst von: Monacensia im Hildebrandhaus / Dr. Nastasja S. Dresler

Sekundärliteratur:

Stankiewitz, Karl (2008): München '68. Traumstadt in Bewegung. Volk Verlag, München.