Blindheit III: Nina Jäckle – „Es gibt solche“

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Jan Ciągliński (1858-1913): Ociemniała (Blind), 1893

Die Autorin Nina Jäckle wird 1966 im Schwarzwald geboren und wächst in Stuttgart auf. Nach der Mittleren Reife besucht sie Sprachschulen in Neuchâtel und Paris mit dem Ziel, Übersetzerin für französische Literatur zu werden. Mit 25 Jahren beginnt sie selbst zu schreiben. Jäckle verfasste bisher Hörbücher, Theaterstücke, Drehbücher und Prosa. Ihre Texte erhalten mehrfach Auszeichnungen. Seit 2008 ist Nina Jäckle Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland, seit 2011 sitzt sie im Beirat des P.E.N.-Präsidiums.

Es gibt solche erscheint 2002 im Berlin Verlag. Der Sammelband ist die erste größere Veröffentlichung von Nina Jäckle und erzählt unter anderem die Geschichte einer jungen Frau, die erblinden wird.

Es gelingt der Protagonistin, ihr langsames Erblinden zu verschleiern. Sie verliebt sich und verbringt einen „halbblinden“ Sommer mit einem Mann, den sie kaum kennt und der ihr etwas verheimlicht, so wie sie ihre zunehmende Blindheit verheimlicht – oder es zumindest versucht. Als sie sein Geheimnis entdeckt, erfährt sie eine ganz neue Dimension ihrer Behinderung.

Mit „seismographischer Beobachtungsgabe“ beschreibt Nina Jäckle in der „Miniatur“ (eine von insgesamt fünf in Es gibt solche) die fortschreitende Erkrankung der jungen Frau, die mehr und mehr den Bezug zur Welt außerhalb ihrer Sichtweite verliert. Die eingeschränkte Wahrnehmung verändert ihre Realität: Ein dunkler Fleck auf den Fliesen im Badezimmer ist entweder nur Schmutz oder ein Tier, ein „Möglicherweise-Tier“, wie es die Erzählerin nennt. Möglicherweise Tier lautet daher auch der Titel des kurzen Prosastücks.

Der schwarze Punkt auf den weißen Badezimmerfliesen ist nur dann kein Schmutz, sondern Tier, wenn er sich bewegt. Es gibt jedoch Tiere auf den weißen Badezimmerfliesen, die sich erst täuschend lange nicht bewegen, um dann plötzlich von einer zur nächsten Fliese zu eilen. Deshalb ist es ratsam, hat man einen unbeweglichen schwarzen Punkt, also ein Möglicherweise-Tier auf einer der weißen Badezimmerfliesen entdeckt, einen Moment zu warten, bevor man den Blick dann beruhigt abwenden kann. (S. 30)

Um die Täuschung der Außenwelt aufrecht zu erhalten, passt sich die erblindende Protagonistin ihrer Umwelt an, entwickelt Strategien und Handlungsweisen für die Situationen ihres Alltags. Sie kontrolliert sich und ihre Umgebung so weit es geht. Warum sich die „Halbblinde“ zu einem solchen Verhalten genötigt sieht, darüber sagt der Text nichts aus. Es bleibt dem Leser selbst überlassen, sich einzufühlen in den „Kummer“, das Gefühl des Abgeschlossenseins vom Außen. Die Leerstelle macht das beschriebene Leben mit der Behinderung umso eindrucksvoller, weil sie Fragen aufwirft, weil sie zum Miterleben und Nachspüren auffordert. Dass der schrittweise Rückzug aus der „Welt der Sehenden“ qualvoll ist, wird dabei implizit deutlich:

Es wird da ein Problem des räumlichen Sehens geben, hatte der Arzt gesagt, es ist kein Problem, sagte ich damals, es ist eher eine Frage des Koordinatensystems. Ich muss eben mein Koordinatensystem angleichen. Der Arzt gab mir die Adresse eines Psychologen, das sei sehr theoretisch, sagte er lächelnd, ich solle auf meinen Kummer achten, sagte er weiterlächelnd. Und er lächelte auch, als er nichts mehr sagte, gedankenbegleitend, als habe er das große, umfassende Wissen von gestörter Räumlichkeit und Kummer. (S. 28)

Verfasst von: Laura Velte / Bayerische Staatsbibliothek

Sekundärliteratur:

Nina Jäckle: Es gibt solche. Erzählungen. Berlin Verlag, Berlin 2002.

Interview mit Nina Jäckle im Deutschlandfunk