Info
11.05.2022, 10:49 Uhr
Kristin Vardi
Text & Debatte

„Jede Pause ein Absturz“. Kurzprosa von Kristin Vardi

Kristin Vardi wurde in Riesa/Sachsen geboren und studierte in Leipzig, Berlin und Tel Aviv. Nach dem Abschluss des Studiums (MA) der Geschichtswissenschaft und einem Volontariat bei der Freien Presse in Chemnitz lebt und arbeitet sie heute in Wien. Sie ist Gewinnerin „Bester Stil und Beste Prosa“ für ihre Kurzgeschichte Rock Button Motel im Deutschen Schriftstellerforum (DSFO). Veröffentlichungen von ihr liegen unter anderem in der Literaturzeitschrift Edit vor („Null Zeichen – Ein ungefährer Wert“).

*

Jede Pause ein Absturz

 

Elfenbeinfarbenes Seidennappa, brasilianischer Mahagoni, phantomschwarz, polierter Chrom, fast geräuschlos bei zweihundert km/h, es wird Nacht, gute Musik, und die Bässe machen alles möglich, die Geschwindigkeit, ganz natürlich, eine Reise, ein Fliegen, ein Gleiten, ganz ohne Worte, ohne vorher und nachher, durch die Nacht fahren, Ampeln interessieren mich nicht mehr, und Stoppschilder auch nicht, zu zweit sein und sich wohlfühlen und unsterblich und die Nacht ist noch jung und ich möchte fahren, und fahren, zeitlos werden und raumlos und jedes Wort wäre ein Ende, jede Pause ein Absturz, ich will fahren, fahren um zu bleiben – zwischen den Welten, zwischen vorher und nachher. Ich schalte höher, ich liebe diese Berührung, das sanfte Schieben vom vorletzten und den höchsten Gang, der sanfte Tritt aufs Gas, der zärtliche Druck auf mein Herz durch die Beschleunigung, Augenblicke die außerhalb der Zeit liegen, die ich einatme, die mich ausatmen, die die Trennung aufheben, die mich ins Ganze fließen lassen, ins Warme, ins Ewige, ins Licht. Wir sind zu zweit und es gibt kein zurück, da ist eine Energie zwischen uns, wir sind geladen, erhitzt, wir wissen, was kommt, wir wissen, alles vergeht, sobald es lebt, wir wissen, dass Worte unzutreffend sind, wir wissen, was wir haben, suchen viele Menschen ein Leben lang, manche vergeblich, wir haben es, wir haben es gespürt, wir sind zwischen heute und morgen, es hat begonnen, es soll bleiben, morgen wenn das Licht darauf fällt, werden Fragen kommen, Gedanken, Zäsur und Zersetzung. Wir sind da, im windstillen Auge der Zeit, wir wollen nicht zurück, wir wollen nicht weiter, nicht weg, nicht fort, unser Ziel ist nicht vor uns, unser Ziel ist über uns, dahin wollen wir, zu zweit, vom Überirdischen ins Überzeitliche, haben wir gesagt und gelacht, wir fahren, wir beschleunigen, wir sind ein Pfeil, ein Pfeil der mit größter Präzision und Lust in den einzig möglichen Punkt gesogen wird, der Ort des Sieges, der Perfektion, der Erfüllung.