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„Nach Lemberg fahren“. Erzählung von Natalka Sniadanko

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Wappen der Stadt Lwiw (Lemberg)

Chloe fährt zum ersten Mal zurück nach Lwiw. – Eindrücklich schildert Natalka Sniadanko die Reise einer Ukrainerin ins Kriegsgebiet. Sniadanko ist 1973 im früheren Lemberg geboren und lebt in Leipzig. Auf Deutsch erschien zuletzt (2021) von ihr der Roman Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde.

*

Z którego dworca jechać
do Lwowa, jeżeli nie we śnie, o świcie,
gdy Rose auf der Tapete und właśnie rodzą się
ekspresy und torpedy
A. Zagajewski (übersetzt von Oleksandr Overchuk)

Von welchem Bahnhof
nach Lemberg, wenn nicht im Traum, bei Tagesanbruch,
wenn Tau den Koffer bedeckt und Schnellzüge und Torpedos
eben geboren werden.
(Übersetzung von Karl Dedecius)

 

„Stell dir nur vor, ich habe neulich eine ukrainische Familie in Deutschland kennengelernt“, wandte sich eine junge Frau mit Botox-Puppengesicht, das im Bus vor Chloe sitzt, plötzlich an ihre Nachbarin. Sie betont das „a“ in Ukrainisch wie alle Russischsprecher.

„Ihre Kinder können nicht mal unsere Sprache. Nur Deutsch. Was sagt man dazu?“

„Erzähl keinen Unsinn.“ Ihre Nachbarin ist entsetzt. „Wopsche  – wie das? Gar nicht?“

„Ja, einfach nur Deutsch – gut, ‚danke‘, und das war‘s. Ich weiß nicht, was sie machen werden.“

„Wie alt ist das Kind?“, fragt die Nachbarin.

„Na, so drei Jahre.“

„Das Kleine hat nie vernünftig in der Ukraine gelebt, als Säugling wurde es weggebracht.“

Das ukrainische Wort für Säugling ließ Chloe ganz aufwachen, es schnitt ins Ohr und passte nicht zum russischen Rest.

„Ja, ich hab ihr Konfekt, also, ich meine, ein Bonbon gegeben“, sagte das Botox-Mädchen, als versuche es, Chloes Eindruck von ihren vorherigen Worten auszugleichen, „und sie sagt, auf Deutsch, ‚danke‘ zu mir. Kannst du dir das vorstellen?“

„Ja, die verhunzen unsere Sprache, wo es nur geht“, schloss die Nachbarin und wandte sich an ihren dreijährigen Sohn, der versuchte, sich auf den Sitz zu stellen: „Glebuschka, mach den Sitz nicht schmutzig!“

-

Im Morgengrauen fuhr ein leuchtend grüner Bus an der ukrainischen Grenze vor. Chloe verweilte noch ein paar Momente lang im Halbschlaf mit bizarren Bildern, ohne wirklich zu wissen, wo die Grenze zwischen diesen Bildern und der Realität verlief. Dann wachte sie endlich ganz auf und schaute zum beruhigenden Rauschen der Klimaanlage aus dem Fenster. Die von der Sonne verblasste Aufschrift „Herzlich willkommen in der Ukraine“ unter der abgewetzten und rissigen Überdachung ist mit einem ebenso verblassten Muster aus roten Beeren auf grünen Blättern verziert, das ebenso wenig wie die ganze fadenscheinige Überdachungskonstruktion als eine Art Visitenkarte des Landes dienen konnte. Alles sah aus wie vor zwanzig Jahren, und stand im Kontrast nicht nur zu den neu renovierten Gebäuden des Grenzübergangs auf der polnischen Seite, sondern auch zu den ukrainischen Kontrollpunkten an anderen Grenzübergängen. Unter der Überdachung stand ein weiterer Bus, der ebenfalls den Eindruck erweckte, als sei er direkt aus den 1990er Jahren hierhergefahren. Der sah aus, als könnten sich die Räder jeden Moment selbstständig machen und der rostige Boden auf die Straße fallen. All das atmete eine gewisse Düsternis, die durch die schlaflose Nacht im Bus und die Müdigkeit der vergangenen Tage verstärkt wurde.

Chloe fuhr zum ersten Mal seit fast zweieinhalb Jahren nach Lwiw. Sie prüfte Nachrichten und Neuigkeiten, die Luftalarmkarte, den Zeitplan für die Stromsperren und dann ihr Rückflugticket. Die Tatsache, dass sie ihr Ticket in der Hand hat, beruhigte sie ein wenig.

„Im Moment haben wir keinen Strom“, zuckte die Vermieterin der Wohnung, die Chloe für die Zeit ihres Aufenthaltes gemietet hat, mit den Schultern, „aber bis jetzt wurde das Licht fast nie ausgeschaltet, das ist nur heute so.“

Die Wohnung befand sich in einem alten Gebäude im Zentrum der Stadt. Chloe beschloss, dass sie nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sein möchte, die außerdem in Lwiw nie besonders bequem waren. Abgesehen von der zentralen Lage hatte Chloe noch eine weitere Anforderung an die Wohnung: eine Klimaanlage. Es herrschte schon seit mehreren Tagen eine Julihitze von über dreißig Grad, und die Vorhersage für den Rest des Monats war nicht anders.

Chloe folgte ihrer Vermieterin die dunkle, unordentliche Wendeltreppe hinauf und atmete erleichtert auf, als sie den zweiten Stock erreichte. Sie schleppte ihren Koffer über den Balkon, der nicht weniger unordentlich und schäbig war als der Rest des Treppenhauses, und folgte dann ihrer Gastgeberin in die Wohnung.

„Auch wenn’s gerade kein Licht gibt, warmes Wasser haben wir immer“, sagte der Besitzer stolz und drehte den Wasserhahn wie zur Bestätigung auf.

„Funktioniert die Klimaanlage?“, fragte Chloe.

„Was für eine Klimaanlage?“, antwortete die Gastgeberin verwirrt.

„Aber auf der Website, über die ich gebucht habe, steht das“, sagte Chloe.

„Der Seitenbetreiber muss einen Fehler gemacht haben. Damit hab ich nichts zu tun“, sagte die Hausherrin achselzuckend.

Chloe setzte sich müde auf das Sofa im Wohnzimmer.

-

Am nächsten Morgen wachte sie um sechs Uhr durch ein ungewöhnliches Brummen vor ihrem Fenster auf. In dieser Nacht schlief sie noch weniger als im Nachtbus. Sie war übermüdet und aufgeregt. Eine Zeit lang überlegte Chloe, ob es eine Warnsirene oder ein Krankenwagen war. Sie schaute auf ihr Handy, und es war tatsächlich ein Luftalarm. Ihr erster Luftalarm. Chloe versuchte, ihre Gefühle zu sortieren. Sie hatte sich so lange auf diesen Moment vorbereitet, sich darauf eingestellt, hatte Angst, dass sie in Panik geraten und einen Luftschutzkeller suchen würde, aber jetzt fühlte sie absolut nichts. Das Geräusch vor dem Fenster hatte nichts mit der Realität zu tun. Es kam nicht in Frage, die Treppe hinunterzugehen und zu versuchen, den Schutzraum zu erreichen. Im Keller des Hauses befand sich tatsächlich ein Schild mit der Aufschrift „Schutzraum“ an einer von Spinnweben überzogenen morschen Tür. Die Tür war geschlossen und auf dem Schild stand eine Telefonnummer. Chloe stellte sich vor, wie erstaunt die Nachbarn sie ansehen würden, wenn sie tatsächlich die Nummer wählte und den Schlüssel zum Schutzraum verlangte, sie stellte sich vor, wie der Schutzraum wohl aussah und schloss wieder die Augen.

„Ich habe EcoFlow, es fließt warmes Wasser, und keine Rakete kommt hierher“, dachte sie und versuchte, ein bisschen weiter zu dösen. Neben der Sirene hörte sie auch die Straßenbahn und die Autos auf der Straße. Chloe hielt es für ein gutes Zeichen, dass die Straßenbahnen auch während des Alarms fuhren. Sie blieb noch ein wenig liegen und stand auf. Für heute hatte sie sich viel vorgenommen. Sie wollte duschen, sich die Haare föhnen, dann frühstücken und aufbrechen. Chloe ging ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Es gab weder Wasser und noch Licht. Sie füllte das restliche Trinkwasser aus der Mineralwasserflasche, die sie gestern gekauft hatte, in den Wasserkocher und versuchte, den Wasserkocher an das EcoFlow-Aggregat anzuschließen. Der Wasserkocher schaltete sich kurz ein und dann wieder aus. Chloe schüttete das Wasser in einen nicht ganz sauberen Topf und zündete den Gasbrenner an, wobei sie sich im Geiste freute, dass der Herd wenigstens nicht elektrisch war. Die Küche sah alt und schäbig aus, und die Schränke rochen nach Schimmel, aber unter den gegebenen Umständen war das eher von Vorteil. Denn wenn die Wohnung renoviert wäre, würde ohne Strom gar nichts gehen.

Chloe schaltete den Router auf Eco-Flow um und freute sich, dass die Wohnung über Glasfaser verfügte und sie so wenigstens ständig Internet haben würde. Sie überprüfte die lokalen Nachrichtenportale und fand heraus, dass die Wasserversorgung aufgrund eines Unfalls unterbrochen war. Wieder war sie froh, denn das bedeutete, dass es bald wieder Wasser geben würde, auch wenn es keinen Strom gab.

Das Wasser in der Kanne kochte. Chloe kochte Kaffee und dachte darüber nach, wie unterschiedlich die Realität hier wahrgenommen wird. Solange sie die Nachrichten aus der Ukraine nur aus dem Ausland verfolgt hatte, war sie jedes Mal entsetzt gewesen, wenn sie las, was hier passierte. Jetzt öffnete sie aus Gewohnheit Nachrichtenportale, aber es gab kein Entsetzen mehr, nur noch eine Art verdammte Ruhe. Was auch immer geschah, man konnte es nicht mehr ändern, also brauchte man sich auch nicht unnötig aufregen. Chloe dachte, dass sie sich anders fühlen würde, wenn sie kein Rückflugticket hätte und nicht nur ein paar Wochen mit dem allem hier leben müsste. Aber es war schwer, sich das „andere“ vorzustellen. Sie schaute nach draußen und sah einen jungen Mann, dem beide Beine und ein Arm fehlten und der Prothesen hatte, mit denen er offensichtlich noch lernen musste, umzugehen. Ihre Gelassenheit war wie weggeblasen, und sie tauchte in „ihren“ seit zwei Jahren gewohnten Zustand, eine Mischung aus Apathie und Unruhe, in dem sie versuchte, sich vor unangenehmen Gefühlen zu schützen, und ihre Emotionen für alle Fälle abschaltete.

-

Chloe stand mit einer Schachtel Kerzen vor dem Tor des Lytschakiw-Friedhofs und versuchte sich zu erinnern, welcher Weg der bequemste war. Seit ihrer Ankunft herrschte in der Stadt eine untypische Hitze von über dreißig Grad, die hier wegen der hohen Luftfeuchtigkeit besonders schwer zu ertragen war, so dass Chloe sich wie eine auf den Sand gespülte Qualle fühlte, die unter der sengenden Sonne zu verschwinden, sich aufzulösen drohte. Jede Bewegung fiel ihr schwer, und ihre Gedanken schwammen langsam wie durch dickes, heißes Blei. Chloe ging durch das Tor und bog rechts ab. Es dauerte eine Weile, bis sie das Grab fand, das mit Blumen bedeckt und von Kerzen mit dem Foto einer lächelnden schönen Frau gesäumt war. Automatisch zündete sie eine weitere Kerze an und stellte sie ab. Automatisch sah sie sich um. Es schien, als würde das Mädchen auf dem Foto gleich um die Ecke kommen und lächeln.

Chloe blieb noch ein wenig länger stehen und bog dann in einen anderen Weg ein, gelangte etwas tiefer in den Friedhof und zündete bei einem anderen Grabstein eine Kerze an. Beide Freundinnen, die sie heute hier besucht hatte, waren auf tragische Weise gestorben. Eine war unter noch ungeklärten Umständen zu Hause bei einem plötzlichen Brand umgekommen. Die andere wurde durch eine russische Rakete getötet, sehr weit von zu Hause. All das hätte wie ein Krimi aussehen können, aber nicht wie das wirkliche Leben. Nicht wie das Leben von Chloe.

Automatisch wanderte sie auf dem Weg des alten Friedhofs weiter und bemühte sich, Schutz vor der sengenden Sonne im Schatten der Bäume zu finden. Ebenso automatisch verließ sie den Friedhof an der Stelle, wo sich früher ein Loch im Zaun befunden hatte, durch das sie in ihrer Studienzeit eine Abkürzung zum Sportunterricht genommen hatte. Im Winter am frühen Morgen über den noch dunklen Friedhof zu gehen, war unheimlich, aber auch irgendwie romantisch. Jenseits des Friedhofszauns lag das unbebaute Marsfeld. Chloe ging hinaus und blieb stehen. Hunderte von neuen Gräbern, dicht an dicht, platzsparend angelegt, um genügend Raum für die Kommenden zu haben, die hier begraben würden. Die meisten waren junge Männer, manchmal fast noch Jugendliche, und es gab viele frische Gräber, auf denen noch Kränze lagen. Auf zahlreichen Gräbern gab es Kinderspielzeug und die Aufschrift „Für Papa“. Und da brach Chloe schließlich in Tränen aus. Ihr wurde nicht leichter davon, aber sie gelangte näher an die Realität. Zum ersten Mal in den letzten Jahren schmierte diese Realität tränenfeuchtes Salz auf ihre Wangen, drang unter die Haut, in ihr Unterbewusstsein, setzte etwas frei und verdrängte gleichzeitig etwas.

Mit einem Taschentuch in der Faust verließ Chloe den Friedhof. Ein Erinnerungssignal piepste auf ihrem Handy. In einer halben Stunde war der Termin bei Olja, zu der sie jahrelang zum Haareschneiden gegangen war, aber das letzte Mal vor fast drei Jahren. Sie hatte Glück gehabt, denn normalerweise musste man einen Termin mehrere Wochen im Voraus vereinbaren, aber gestern hatte sie angerufen und erfahren, dass jemand abgesagt hatte. Olja freute sich sehr auf das Wiedersehen, denn Chloe war früher oft zum Haareschneiden gekommen, fast jeden Monat, und sie hatten sich immer super beim Schneiden unterhalten. Chloe beschleunigte ihre Schritte, damit sie nicht zu spät kam. Der Salon war kühl und leer. Das Mädchen am Empfang schaute Chloe fragend an.

„Ich habe einen Termin bei Olja zum Haareschneiden“, sagte Chloe.

Das Mädchen wurde blass.

„Olja wird nicht kommen“, presste sie hervor und hielt mit letzter Kraft die Tränen zurück: „Sie sollte am Morgen mit dem Kijiwer Zug kommen. Aber der wurde getroffen. Es gibt keine Olja mehr.“

Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil