Rezension zu Leon Englers Roman „Die Botanik des Wahnsinns“
Feiertagszeit ist auch Lesezeit! Eines der vielen Highlights der bewegten Bücherlandschaft 2025 ist zum Beispiel der Roman die „Die Botanik des Wahnsinns“ von Leon Engler. Die Autorin Joana Osman hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Sind wir epigenetisch ausgeliefert?
Wir sind alle ein wenig Gaga, das steht nach der Lektüre von Leon Englers Die Botanik des Wahnsinns zweifelsfrei fest, aber manche sind ein weniger mehr hinüber als andere.
Der Ich-Erzähler dieses halb autobiografischen Romans jedenfalls befindet sich in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik, allerdings nicht als Patient, sondern als Psychiater. Warum dies nicht zufällig so ist, sondern eher wie eine Art Coping-Strategie zu verstehen ist, wird relativ bald deutlich: Unter keinen Umständen will der Held dieser Geschichte, den wir unter dem Namen Leon kennen, so enden wie seine Eltern und deren Eltern. In seiner Familie nämlich tauchen überproportional viele „Tagelöhner, Trinker und Träumer“ auf und eine Menge psychische Erkrankungen. Von Depression über Bipolar bis hin zur Schizophrenie ist alles dabei, was auch der Grund dafür ist, dass Leon früh beschlossen hat, eben gerade nicht dem Wahnsinn anheim zu fallen, sondern sich mit Leib und Seele der Bekämpfung dessen verschrieb.
Und so behandelt er die seelischen Leiden anderer wie ein psychiatrischer Don Quichotte, während er selbst immer tiefer in den dunklen Sog seiner Vorfahren gezogen wird.
Sind wir epigenetisch unseren Vorfahren und ihren Störungen ausgeliefert? Ist unsere Herkunft ein Fluch oder ein Segen? Ist es möglich, Verzweiflung zu heilen?
Leon Engler führt uns langsam und bedächtig in den tiefen Strudel der menschlichen Psyche – passenderweise lokalisiert in der Hauptstadt der Psychoanalyse: Wien.
Wie einst Freud, Nietzsche und Jung mäandert der Ich-Erzähler in der österreichischen Hauptstadt von Schwermut zu Hoffnung und wieder zurück.
Auf drei Erzählebenen nimmt Engler uns mit in die „Botanik des Wahnsinns“ – in Familiendynamiken, Verletzungen und Urgründe. Dabei baut er alle drei Ebenen aufeinander und miteinander auf, ohne sich ein einziges Mal darin zu verheddern:
Ein Makramee aus Tollheit, Trunksucht und Traurigkeit
Der Erzähler reflektiert in seinem Tagebuch über den Schmerz des Verlustes seiner Eltern – kein physischer Verlust, sondern ein psychischer. Die Mutter, die sich so lange gewehrt hat gegen den Sog der Neurosen, gleitet immer mehr ab ins Dunkle der Depression. Schließlich brechen beide Eltern den Kontakt zu ihrem Sohn ab, dem nichts anderes übrigbleibt, als dies zu akzeptieren. Radikale Akzeptanz – als psychologisches Tool durchaus nützlich – fühlt sich für den Erzähler an wie eine Niederlage. Ein Aufgeben. Ein Scheitern. „Ich bin nicht imstande, sie zu trösten“, schreibt er in Bezug auf die Eltern des Protagonisten – es liest sich wie eine Verabschiedung, geboren aus Resignation.
In Rückblenden spricht Englers Erzähler von der Vergangenheit und seinen Vorfahren, er ordnet sich selbst und seine Eltern in ein größeres Ganzes ein, ein Makramee aus Tollheit, Trunksucht und Traurigkeit. Darin wiederum webt er geschickt historische und fachliche Exkurse mit ein – in kleinen aber höchst interessanten Anekdoten zu Psychiatrie und Psychoanalyse etwa.
Eine sensible Geschichte über Selbstwirksamkeit und Selbstmitgefühl
Die Klinik als Schauplatz des Romans fungiert dabei wie ein abgeschirmter Resonanzraum – über allem liegt eine eigentümliche Zeitlosigkeit. Die Tage (und Themen) vergehen, aber sie entwickeln sich nicht fort, sie wachsen eher schichtweise und entwickeln sich wie Pflanzen, was dem Roman seinen Titel und seine zentrale Metapher verleiht.
Engler denkt psychische Zustände nicht medizinisch, sondern organisch. Depression erscheint nicht als plötzlich ausbrechende Krankheit, sondern als etwas, das tief wurzelt, das sich langsam verzweigt und schließlich überwuchert. Wahnsinn ist in diesem Buch nichts Außergewöhnliches oder Spektakuläres, sondern etwas Alltägliches, beinahe Natürliches.
Obwohl (oder weil?) Leon Engler selbst. neben Theater- und Kulturwissenschaft, ein Masterstudium der Psychologie hinter sich hat, versteckt der Text sich nicht hinter klinischer Nüchternheit, sondern bleibt radikal subjektiv.
Damit ist Die Botanik des Wahnsinns nicht nur ein höchst tiefgreifender Entwicklungsroman, sondern vor allem eine sensible Geschichte über Selbstwirksamkeit und Selbstmitgefühl – mit einer Thematik die aktueller nicht sein könnte.
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Feiertagszeit ist auch Lesezeit! Eines der vielen Highlights der bewegten Bücherlandschaft 2025 ist zum Beispiel der Roman die „Die Botanik des Wahnsinns“ von Leon Engler. Die Autorin Joana Osman hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.
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Sind wir epigenetisch ausgeliefert?
Wir sind alle ein wenig Gaga, das steht nach der Lektüre von Leon Englers Die Botanik des Wahnsinns zweifelsfrei fest, aber manche sind ein weniger mehr hinüber als andere.
Der Ich-Erzähler dieses halb autobiografischen Romans jedenfalls befindet sich in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik, allerdings nicht als Patient, sondern als Psychiater. Warum dies nicht zufällig so ist, sondern eher wie eine Art Coping-Strategie zu verstehen ist, wird relativ bald deutlich: Unter keinen Umständen will der Held dieser Geschichte, den wir unter dem Namen Leon kennen, so enden wie seine Eltern und deren Eltern. In seiner Familie nämlich tauchen überproportional viele „Tagelöhner, Trinker und Träumer“ auf und eine Menge psychische Erkrankungen. Von Depression über Bipolar bis hin zur Schizophrenie ist alles dabei, was auch der Grund dafür ist, dass Leon früh beschlossen hat, eben gerade nicht dem Wahnsinn anheim zu fallen, sondern sich mit Leib und Seele der Bekämpfung dessen verschrieb.
Und so behandelt er die seelischen Leiden anderer wie ein psychiatrischer Don Quichotte, während er selbst immer tiefer in den dunklen Sog seiner Vorfahren gezogen wird.
Sind wir epigenetisch unseren Vorfahren und ihren Störungen ausgeliefert? Ist unsere Herkunft ein Fluch oder ein Segen? Ist es möglich, Verzweiflung zu heilen?
Leon Engler führt uns langsam und bedächtig in den tiefen Strudel der menschlichen Psyche – passenderweise lokalisiert in der Hauptstadt der Psychoanalyse: Wien.
Wie einst Freud, Nietzsche und Jung mäandert der Ich-Erzähler in der österreichischen Hauptstadt von Schwermut zu Hoffnung und wieder zurück.
Auf drei Erzählebenen nimmt Engler uns mit in die „Botanik des Wahnsinns“ – in Familiendynamiken, Verletzungen und Urgründe. Dabei baut er alle drei Ebenen aufeinander und miteinander auf, ohne sich ein einziges Mal darin zu verheddern:
Ein Makramee aus Tollheit, Trunksucht und Traurigkeit
Der Erzähler reflektiert in seinem Tagebuch über den Schmerz des Verlustes seiner Eltern – kein physischer Verlust, sondern ein psychischer. Die Mutter, die sich so lange gewehrt hat gegen den Sog der Neurosen, gleitet immer mehr ab ins Dunkle der Depression. Schließlich brechen beide Eltern den Kontakt zu ihrem Sohn ab, dem nichts anderes übrigbleibt, als dies zu akzeptieren. Radikale Akzeptanz – als psychologisches Tool durchaus nützlich – fühlt sich für den Erzähler an wie eine Niederlage. Ein Aufgeben. Ein Scheitern. „Ich bin nicht imstande, sie zu trösten“, schreibt er in Bezug auf die Eltern des Protagonisten – es liest sich wie eine Verabschiedung, geboren aus Resignation.
In Rückblenden spricht Englers Erzähler von der Vergangenheit und seinen Vorfahren, er ordnet sich selbst und seine Eltern in ein größeres Ganzes ein, ein Makramee aus Tollheit, Trunksucht und Traurigkeit. Darin wiederum webt er geschickt historische und fachliche Exkurse mit ein – in kleinen aber höchst interessanten Anekdoten zu Psychiatrie und Psychoanalyse etwa.
Eine sensible Geschichte über Selbstwirksamkeit und Selbstmitgefühl
Die Klinik als Schauplatz des Romans fungiert dabei wie ein abgeschirmter Resonanzraum – über allem liegt eine eigentümliche Zeitlosigkeit. Die Tage (und Themen) vergehen, aber sie entwickeln sich nicht fort, sie wachsen eher schichtweise und entwickeln sich wie Pflanzen, was dem Roman seinen Titel und seine zentrale Metapher verleiht.
Engler denkt psychische Zustände nicht medizinisch, sondern organisch. Depression erscheint nicht als plötzlich ausbrechende Krankheit, sondern als etwas, das tief wurzelt, das sich langsam verzweigt und schließlich überwuchert. Wahnsinn ist in diesem Buch nichts Außergewöhnliches oder Spektakuläres, sondern etwas Alltägliches, beinahe Natürliches.
Obwohl (oder weil?) Leon Engler selbst. neben Theater- und Kulturwissenschaft, ein Masterstudium der Psychologie hinter sich hat, versteckt der Text sich nicht hinter klinischer Nüchternheit, sondern bleibt radikal subjektiv.
Damit ist Die Botanik des Wahnsinns nicht nur ein höchst tiefgreifender Entwicklungsroman, sondern vor allem eine sensible Geschichte über Selbstwirksamkeit und Selbstmitgefühl – mit einer Thematik die aktueller nicht sein könnte.
