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11.12.2025, 09:13 Uhr
Carola Gruber
Rezensionen

Rezension zu „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“ von Nora Gomringer

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(c) Voland & Quist

Nora Gomringer hat ein berührendes Buch über ihre verstorbene Mutter, die Germanistin Nortrud Gomringer, geschrieben. Die lustige, unkonventionelle Frau begleitete die schriftstellerischen Schritte ihrer Tochter von Beginn an ermutigend, hatte selbst aber sehr zu kämpfen. Autorin Carola Gruber hat das Buch Am Meerschwein übt das Kind den Tod für das Literaturportal Bayern gelesen.

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„Erstens, keine Kinder vor 16. Zweitens, immer genug Geld, um mindestens drei Wochen verschwinden zu können. Hotel und alles. Und drittens, nicht heiraten vor 50 – und wenn es sein muss, dann einen reichen Mann.“ Diese drei Ratschläge gibt die Mutter ihrer Tochter mit. Sie passen gut zur Mutter: Sie war eine besondere Frau, die sich zeitlebens über Konventionen hinwegsetzte. Auf dieses Leben blickt die Tochter nun zurück. Die Tochter, das ist Nora Gomringer.

Die Autorin porträtiert ihre Mutter als neugierige, lustige und schöne Frau, die allerdings mit eigenen Widersprüchen und Abgründen zu kämpfen hatte. Als Germanistin und u. a. als Herausgeberin eines Teils des Briefwechsels von Lion Feuchtwanger, war Nortrud Gomringer sehr belesen:

„Meine Mutter war die Literatin im Haushalt, weil echte Literaten Leser sein müssen und nicht nur Schreibende sein dürfen. Mein Vater und ich schreiben und lesen sehr selektiv. Meine Mutter las alles, verschlang alles, und was sie sich an Nahrung zeitweise versagte, fraß sie an Schriften.“

Wegbegleiterin des Schreibens

Für Nora Gomringer war die Mutter eine wichtige Unterstützerin auf dem Weg zum Schreiben: Von ihr lernte sie das Rezitieren, ihr verdankt sie prägende Lektüren und das Aufwachsen in einem Umfeld voller intellektueller Anregungen – samt besonderem Zugang zu Literatur: „Meine Mutter verteilte Bücher ihrer Bibliothek an mich wie Schmerztabletten.“

Und von der Mutter kommt neben freundlicher Ermutigung angesichts der ersten Schreibversuche auch „strenge, ordnende Kritik an gruseliger Teenagergrammatik“. Wie sehr die Mutter den Zugang zu Schreiben und Literatur der Tochter prägte, zeigt sich, wenn diese darüber nachdenkt, wie der neue Text wohl bei der Mutter ankäme: „Läse meine Mutter hier mit, würde sie mich streng ermahnen, lustiger zu sein.“

Familienporträt mit Dichter

Auch weitere Familienmitglieder tauchen im Text auf. So bemerkt die Autorin, wie sie, „indem ich von ihr erzähle, mich, den Vater, ihre Söhne, ihren Bruder, unsere Großeltern miterzähle, einkreise“. Insbesondere der Ehemann, der mittlerweile verstorbene Dichter Eugen Gomringer, kommt vor. Neben ihm, dem berühmten Mitbegründer der Konkreten Poesie, fühlte sich die Mutter oft ungesehen. Sie organisierte, redigierte und navigierte, war Erstleserin und, wenn es sein musste, Krisenmanagerin im Hintergrund, während er auf Bühnen stand, Lesungen und Vorlesungen hielt, gefeiert wurde.

Zum Familienleben gehörte heftiger Streit der Eltern ebenso wie das wochenweise Verschwinden des Vaters. Seinerseits ein notorischer Fremdgänger, war er krankhaft eifersüchtig. Nora Gomringer beschreibt sich „als Kind einer oft weinenden Mutter“. Wenn der Vater da war, richtete sich diese ganz auf ihn aus, passte sich an, klappte sich auf Wunsch wie ein „Schweizer Taschenmesser“ ein.

Die Mutter entwickelte eine schwere Depression und unternahm zwei Suizidversuche – dass beides eine Reaktion auf die unglückliche Ehe mit dem Vater war, legt der Text nahe.  

Über Tote nur Gutes?

„Darf ich das hier so erzählen?“ Diese Frage stellt der Text mehrmals. „Darf man von den Toten reden und ihre Versäumnisse zu Lebzeiten nennen? Wer ist man, ihnen Versäumnisse nachzusagen? Kann man dies tun, ohne sie zu verraten?“

An das Gebot, über Tote nur Gutes zu äußern, hält sich dieser „Nachrough“ – so der Untertitel des Buchs – nicht. Gerade dadurch aber entsteht ein nuanciertes Porträt ohne Aussparungen. Getragen wird es von einem stets warmherzigen Blick auf diese außergewöhnliche Frau: Eine „im Umbau befindliche Frau“, die sich aus einer Depression mit einer literaturwissenschaftlichen Doktorarbeit herausschrieb. Eine Mutter, die viel mit sich selbst beschäftigt war und der trotzdem Wichtiges gelang: die Tochter auf ihrem (schreibenden) Weg zu unterstützen und zu ermutigen – und ihr zu zeigen, dass sie sie mochte und gern Zeit mit ihr verbrachte.

Anatomie der Trauer

„Ich werde sehnsüchtig nach meiner lesenden, scherzenden Mutter“, heißt es an einer Stelle. Dem Text gelingt es, dieses schmerzliche Vermissen erlebbar zu machen.
 
Und so ist der „Nachrough“ auch ein Text über die Trauer und ihre unterschiedlichen Phasen: vom ersten Schock, als die Todesnachricht eintrifft, über den heftigen körperlichen Schmerz, als der Bestatter den Leichnam abholt, über das Erleben des Verlusts der Mutter als „persönlich erlittene Frechheit“ bis hin zu dem Punkt, an dem die Tochter „mittlerweile lange Wochen leben kann, ohne intensiv an sie zu denken“.

Für diesen Wandel findet die Autorin frische Vergleiche und Bilder:

„Die Trauer ist ein neuer Rock, ein Kleid, zwanzig Kilo weniger, neue Routine, eine schwere Bronchitis, ein langes Gebet, beständige Fragen, spontanes Weinen, laute Selbstgespräche, leises Wehklagen in erkaltetem Badewasser, irre viel Orga. Die Trauer ist vierzig Kilo mehr, dreißig neue Teile im Schrank, ist der Traum von einem kleinen Tier, ist der Besuch bei Freunden, um deren Baby anzusehen, aber vor allem deren Hund zu streicheln.“

Humorvoll, assoziativ, teils verspielt: Der Text, der in kurze Kapitel gegliedert ist, folgt in groben Zügen einer Chronologie, springt aber zeitlich wie formal – ist mal Gedicht, mal Kurzgeschichte, mal Protokoll, mal Essay. So gelingt es der Autorin, kurzweilig und mit bemerkenswerter Leichtigkeit von einem schweren Thema zu erzählen.

Bisher hat sich Nora Gomringer als Lyrikerin und Rezitatorin sowie mit Film-, Opern- und Theaterprojekten einen Namen gemacht. Mit diesem klugen, warmherzigen Buch über ihre Mutter legt die Autorin, die kürzlich mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet wurde, ein starkes Prosadebüt vor.

Nora Gomringer: Am Meerschwein übt das Kind den Tod. Ein Nachrough. Voland & Quist, 2025, 208 S., ISBN: 978-3-863914615