Besprechung des Romans „Das Herz von allem“ (2025) von Christoph Nußbaumeder
Zwischen vergnüglichem Abenteuer und theologischem Traktat verortet Autor Christian Schüle den neuen Roman Das Herz von allem (2025) des niederbayerischen Autors Christoph Nußbaumeder. Er handelt von der Suche des emigrierten deutschen Pfarrers Gottstein nach dem rätsehaften „Incognitum“ auf einer Expedition durch die jungen USA.
*
Der Dramatiker Christoph Nußbaumeder hat abermals belletristischen Mut. Für seinen nach Die Unverhofften (2020) zweiten Roman steigt er noch tiefer in den Rückraum der Vergangenheit und nimmt sich einen historischen Stoff zum Vorbild: die Clark-und-Lewis-Expedition in den Vereinigten Staaten des Jahres 1803. Nußbaumeder konzipiert eine eigene Expedition und lässt seinen Ich-Erzähler, den Auswanderer und niederbayerischen Pfarrer Johannes Gottstein, den zehnmonatigen Trip von New York über die Kämme der Allegheny Mountains und per Floß über den Mississippi ins Land der Lakota-Indianer Jahrzehnte später rückblendend erzählen – was weit mehr ist und sein will als nur eine Abenteurergeschichte.
Am 27. Januar 1796 also besteigt Gottstein, ehemals katholischer Geistlicher in der Mönchskutte der Benediktinerabtei, ein Schiff von Le Havre nach Amerika. Er ist 30, damals gibt es gerade mal 15 Sterne auf der US-Flagge – mithin 15 Bundesstaaten. Auf Einladung eines Bekannten soll er Seelsorger auf der Expedition werden. Zwei Monate später machen sich Gottstein und neun weitere Männer auf, das „Incognitum“ zu suchen, das angeblich größte, rätselhafteste Tier der Welt. Geführt werden sie von Oliver Hancock, Freimaurer, Sohn eines Großgrundbesitzers und Inkarnation des modernen Kapitalisten voller Pioniergeist und Kühnheit, dessen eigentliches Ziel die eigene Unsterblichkeit ist: „Das Incognitum zu finden wäre eine Weltsensation, wir würden in die Geschichte eingehen!“ 1.700 Kilometer durch den zu jener Zeit noch weitgehend rechtsfreien Raum der jungen USA zu reisen, ist so waghalsig wie unwegsam.
Die Unwägbarkeit der Expedition bringt von Anfang an Spannung in die Erzählung. Nußbaumeder schreibt einen dahinsurrenden, schnörkellosen Text, der im Kontext der zeitgenössischen Geschichtslust sog. Neo-Western wie den großen Streaming-Erfolgen Yellowstone und 1883, auf ein womöglich markttaugliches Genre einzahlt. Weder überehrgeizig noch mätzchenverspielt geht es auf 448 Seiten vielmehr um das geistig-intellektuelle Spannungsfeld des „Westens“ Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts – zwischen Freimaurern und Illuminaten, katholischen Christen, dem Mystiker Jacob Böhme und Immanuel Kant, der Suche nach Freiheit und der Wahrheit des Glaubens.
Das eigentliche Sujet des Romans ist nicht die Expedition mit all ihren Gefahren und Kuriositäten; die Suche nach dem „Incognitum“, dem großen Tier, ist nur der Anlass für die Inspektion einer Epoche. Hancock, Gottstein oder auch dessen Gegenspieler, der Arzt Joe Scheider, dienen als Träger gegensätzlicher Ideen, und Nußbaumeder beschreibt seine Figuren eher, als er sie agieren und interagieren lässt, was manchmal etwas statisch und pappkameradenhaft wirkt. So schleicht sich bald das Gefühl ein, die Geschichte werde für eine theoretisch-theologische Erörterung über Schuld und Sühne instrumentalisiert.
Vermischung der Sprachgestiken
Der Autor nimmt sich viel vor und verhandelt genau genommen: alles. Für den Roman hat das Vor- und Nachteile. Aufs große Ganze zu gehen, ist ein reizvolles Unterfangen, und der Mut, sich heute der Conditio humana und der Herkunft des Bösen zu widmen, verdient Respekt. Nußbaumeder lässt seinen Helden Gottstein über den Kirchenvater Augustinus, den Teufel und die Apokalypse sinnieren, über die Ideen der Bibel und des Christentums, über die Unterschiede von Demokratie und Monarchie. Es geht um die Feinheiten von Moral und Anstand, um Sklaventum und die „wilden“ Indianer und schließlich um das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft – was man als Abenteurer auf dem Weg zu den Lakota eben so verhandelt. Die gelegentlich scharfsinnige Reflexion über die Grundlagen des Lebens und der USA ist eine schöne Einladung zum Eskapismus und thematisiert, ohne je überstiegen akademisch zu sein, letztlich die Anklage der kolonialistischen Arroganz des weißen (europäischen) Mannes, der den (amerikanischen) Ureinwohnern das Land raubt.
Je tiefer die Männer ins Landesinnere vordringen, desto eindringlicher wird ihr Überlebenskampf. Sie erfahren Gewalt und verüben Gewalt. Sie erleben Schmerz und Entbehrung und erleiden einen Verlust nach dem nächsten. Obwohl permanent etwas geschieht, lässt die Spannung im Laufe des Textes dennoch nach, weil sich das Prinzip wiederholt, der Erkenntnisgewinn aber in Grenzen hält. Nußbaumeders Reflexionen treten auf der Stelle, manche Bildungshuberei ist unglaubwürdig. Was hat die Lehre des Philosophen Spinoza vom religionskritischen Rationalismus im wilder werdenden Westen des 18. Jahrhunderts zu suchen?
Leider schreibt Nußbaumeder nicht kohärent in einem Duktus, sondern vermischt die Sprechgestiken. Bei bewusst altertümelnder Sprache („Ich schalt mich einen Idioten“) setzt er häufig auf das Prinzip der simplen Reihung: „Nun sah ich, dass …“, „dann lag da noch …“, „jetzt schien mir“. Und dann wiederum liebt es Anführer Hancock, „Effekten beizuwohnen, wo ein einziges Ereignis eine Kaskade von anderen in Kraft treten lasse.“ Würde ein Mensch anno 1796 so sprechen? Der Satz: „Der Volkswille muss gesiebt werden, sonst begehen wir staatlichen Selbstmord“ könnte gar aus heutiger Gegenwart stammen. Nußbaumeder scheint es in mehreren Momenten an Einfühlung in das von ihm selbst ausgelegte Sprachmuster zu mangeln, dazu kommen schiefe Bilder und Stilblüten, die über den Text hinweg irgendwann zum Ärgernis werden: „Auf seinen Lippen zeigte sich eine kurze, lächelnde Genugtuung.“ Oder: „Scheiders Gesicht gefror zu einem Gletscher.“ Oder: „Wirre Bilder umgaukelten mich.“ Oder: „In seinen Augen flackerte ein spitzbübisches Lächeln.“ Oder: „Die Kälte war ein stumpfer Säbel, der allen an den Muskeln sägte.“ Wo ist das Lektorat geblieben?
Erst auf den letzten 50 Seiten geht es um das rätselhafte „Icognitum“. Nach 100 Tagen Reise durch Amerika, nach Unfalltoden, Selbstmorden, Verrat und Fahnenflucht, erreicht die Rumpftruppe das Gebiet der Lakota-Indianer, um in deren heiliges Gebirge Pahá Sápa (übersetzt: „Herz von allem, was ist“) einzudringen. Ohne Not ist der Eintritt in die mysteriöse Höhle niemandem erlaubt, die weißen Eindringlinge tun es trotzdem. Für Gottstein ist hier der „biblische Garten Eden“, und im Lakota-Dorf mit 300 Tipis bittet er, politisch sehr korrekt, für die sündhaften Absichten der „Christenmenschen“ um Vergebung. Die Weißen, sagt ihm Red Fish, der stellvertretende Lakota-Häuptling, seien rastlos, immer treibe sie etwas um, ständig suchten sie nach etwas. Letztlich begreift Gottstein, wie die Sache mit dem „Incognitum“, dem „Tier der Freiheit“, eigentlich zu sehen ist: „Wir sind also das Ungeheuer, dachte ich, wir selbst, die wir uns seit Monaten abmühen, es zu finden ... brauchen es nicht zu suchen, denn es ist in uns.“
Das Herz von allem ist eher älter als Neo-Western, trotz Schwächen aber ein herzhaft erbauliches Lese-Abenteuer.
Christoph Nußbaumeder: Das Herz von allem. Rowohlt Verlag 2025, 448 S. ISBN: 978-3737102254.
Besprechung des Romans „Das Herz von allem“ (2025) von Christoph Nußbaumeder>
Zwischen vergnüglichem Abenteuer und theologischem Traktat verortet Autor Christian Schüle den neuen Roman Das Herz von allem (2025) des niederbayerischen Autors Christoph Nußbaumeder. Er handelt von der Suche des emigrierten deutschen Pfarrers Gottstein nach dem rätsehaften „Incognitum“ auf einer Expedition durch die jungen USA.
*
Der Dramatiker Christoph Nußbaumeder hat abermals belletristischen Mut. Für seinen nach Die Unverhofften (2020) zweiten Roman steigt er noch tiefer in den Rückraum der Vergangenheit und nimmt sich einen historischen Stoff zum Vorbild: die Clark-und-Lewis-Expedition in den Vereinigten Staaten des Jahres 1803. Nußbaumeder konzipiert eine eigene Expedition und lässt seinen Ich-Erzähler, den Auswanderer und niederbayerischen Pfarrer Johannes Gottstein, den zehnmonatigen Trip von New York über die Kämme der Allegheny Mountains und per Floß über den Mississippi ins Land der Lakota-Indianer Jahrzehnte später rückblendend erzählen – was weit mehr ist und sein will als nur eine Abenteurergeschichte.
Am 27. Januar 1796 also besteigt Gottstein, ehemals katholischer Geistlicher in der Mönchskutte der Benediktinerabtei, ein Schiff von Le Havre nach Amerika. Er ist 30, damals gibt es gerade mal 15 Sterne auf der US-Flagge – mithin 15 Bundesstaaten. Auf Einladung eines Bekannten soll er Seelsorger auf der Expedition werden. Zwei Monate später machen sich Gottstein und neun weitere Männer auf, das „Incognitum“ zu suchen, das angeblich größte, rätselhafteste Tier der Welt. Geführt werden sie von Oliver Hancock, Freimaurer, Sohn eines Großgrundbesitzers und Inkarnation des modernen Kapitalisten voller Pioniergeist und Kühnheit, dessen eigentliches Ziel die eigene Unsterblichkeit ist: „Das Incognitum zu finden wäre eine Weltsensation, wir würden in die Geschichte eingehen!“ 1.700 Kilometer durch den zu jener Zeit noch weitgehend rechtsfreien Raum der jungen USA zu reisen, ist so waghalsig wie unwegsam.
Die Unwägbarkeit der Expedition bringt von Anfang an Spannung in die Erzählung. Nußbaumeder schreibt einen dahinsurrenden, schnörkellosen Text, der im Kontext der zeitgenössischen Geschichtslust sog. Neo-Western wie den großen Streaming-Erfolgen Yellowstone und 1883, auf ein womöglich markttaugliches Genre einzahlt. Weder überehrgeizig noch mätzchenverspielt geht es auf 448 Seiten vielmehr um das geistig-intellektuelle Spannungsfeld des „Westens“ Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts – zwischen Freimaurern und Illuminaten, katholischen Christen, dem Mystiker Jacob Böhme und Immanuel Kant, der Suche nach Freiheit und der Wahrheit des Glaubens.
Das eigentliche Sujet des Romans ist nicht die Expedition mit all ihren Gefahren und Kuriositäten; die Suche nach dem „Incognitum“, dem großen Tier, ist nur der Anlass für die Inspektion einer Epoche. Hancock, Gottstein oder auch dessen Gegenspieler, der Arzt Joe Scheider, dienen als Träger gegensätzlicher Ideen, und Nußbaumeder beschreibt seine Figuren eher, als er sie agieren und interagieren lässt, was manchmal etwas statisch und pappkameradenhaft wirkt. So schleicht sich bald das Gefühl ein, die Geschichte werde für eine theoretisch-theologische Erörterung über Schuld und Sühne instrumentalisiert.
Vermischung der Sprachgestiken
Der Autor nimmt sich viel vor und verhandelt genau genommen: alles. Für den Roman hat das Vor- und Nachteile. Aufs große Ganze zu gehen, ist ein reizvolles Unterfangen, und der Mut, sich heute der Conditio humana und der Herkunft des Bösen zu widmen, verdient Respekt. Nußbaumeder lässt seinen Helden Gottstein über den Kirchenvater Augustinus, den Teufel und die Apokalypse sinnieren, über die Ideen der Bibel und des Christentums, über die Unterschiede von Demokratie und Monarchie. Es geht um die Feinheiten von Moral und Anstand, um Sklaventum und die „wilden“ Indianer und schließlich um das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft – was man als Abenteurer auf dem Weg zu den Lakota eben so verhandelt. Die gelegentlich scharfsinnige Reflexion über die Grundlagen des Lebens und der USA ist eine schöne Einladung zum Eskapismus und thematisiert, ohne je überstiegen akademisch zu sein, letztlich die Anklage der kolonialistischen Arroganz des weißen (europäischen) Mannes, der den (amerikanischen) Ureinwohnern das Land raubt.
Je tiefer die Männer ins Landesinnere vordringen, desto eindringlicher wird ihr Überlebenskampf. Sie erfahren Gewalt und verüben Gewalt. Sie erleben Schmerz und Entbehrung und erleiden einen Verlust nach dem nächsten. Obwohl permanent etwas geschieht, lässt die Spannung im Laufe des Textes dennoch nach, weil sich das Prinzip wiederholt, der Erkenntnisgewinn aber in Grenzen hält. Nußbaumeders Reflexionen treten auf der Stelle, manche Bildungshuberei ist unglaubwürdig. Was hat die Lehre des Philosophen Spinoza vom religionskritischen Rationalismus im wilder werdenden Westen des 18. Jahrhunderts zu suchen?
Leider schreibt Nußbaumeder nicht kohärent in einem Duktus, sondern vermischt die Sprechgestiken. Bei bewusst altertümelnder Sprache („Ich schalt mich einen Idioten“) setzt er häufig auf das Prinzip der simplen Reihung: „Nun sah ich, dass …“, „dann lag da noch …“, „jetzt schien mir“. Und dann wiederum liebt es Anführer Hancock, „Effekten beizuwohnen, wo ein einziges Ereignis eine Kaskade von anderen in Kraft treten lasse.“ Würde ein Mensch anno 1796 so sprechen? Der Satz: „Der Volkswille muss gesiebt werden, sonst begehen wir staatlichen Selbstmord“ könnte gar aus heutiger Gegenwart stammen. Nußbaumeder scheint es in mehreren Momenten an Einfühlung in das von ihm selbst ausgelegte Sprachmuster zu mangeln, dazu kommen schiefe Bilder und Stilblüten, die über den Text hinweg irgendwann zum Ärgernis werden: „Auf seinen Lippen zeigte sich eine kurze, lächelnde Genugtuung.“ Oder: „Scheiders Gesicht gefror zu einem Gletscher.“ Oder: „Wirre Bilder umgaukelten mich.“ Oder: „In seinen Augen flackerte ein spitzbübisches Lächeln.“ Oder: „Die Kälte war ein stumpfer Säbel, der allen an den Muskeln sägte.“ Wo ist das Lektorat geblieben?
Erst auf den letzten 50 Seiten geht es um das rätselhafte „Icognitum“. Nach 100 Tagen Reise durch Amerika, nach Unfalltoden, Selbstmorden, Verrat und Fahnenflucht, erreicht die Rumpftruppe das Gebiet der Lakota-Indianer, um in deren heiliges Gebirge Pahá Sápa (übersetzt: „Herz von allem, was ist“) einzudringen. Ohne Not ist der Eintritt in die mysteriöse Höhle niemandem erlaubt, die weißen Eindringlinge tun es trotzdem. Für Gottstein ist hier der „biblische Garten Eden“, und im Lakota-Dorf mit 300 Tipis bittet er, politisch sehr korrekt, für die sündhaften Absichten der „Christenmenschen“ um Vergebung. Die Weißen, sagt ihm Red Fish, der stellvertretende Lakota-Häuptling, seien rastlos, immer treibe sie etwas um, ständig suchten sie nach etwas. Letztlich begreift Gottstein, wie die Sache mit dem „Incognitum“, dem „Tier der Freiheit“, eigentlich zu sehen ist: „Wir sind also das Ungeheuer, dachte ich, wir selbst, die wir uns seit Monaten abmühen, es zu finden ... brauchen es nicht zu suchen, denn es ist in uns.“
Das Herz von allem ist eher älter als Neo-Western, trotz Schwächen aber ein herzhaft erbauliches Lese-Abenteuer.
Christoph Nußbaumeder: Das Herz von allem. Rowohlt Verlag 2025, 448 S. ISBN: 978-3737102254.