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18.06.2025, 15:17 Uhr
Pauline May
Rezensionen

Rezension zu „Es ist sein Leben“ von Silvio Blatter

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© Geparden Verlag

Wie vom Verlust erzählen, individuell wie kollektiv? Der in Zürich und München lebende Schriftsteller Silvio Blatter versucht es in seinem neuesten Erzählband Es ist sein Leben (2024, Gepardenverlag) anhand von brennenden Wäldern und eskapistischen Seniorinnen. Pauline May hat ihn für das Literaturportal Bayern gelesen.

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Jedes Leben beginnt mit dem Tag der Geburt – und obgleich man nur einmal geboren wird, wiederholt sich der Geburtstag doch Jahr für Jahr. So erscheint es nur passend, dass auch in Silvio Blatters Erzählungen Es ist sein Leben der 50. Geburtstag eines Kindheitsfreundes (wie auch -feindes) des Erzählers Markus am Anfang steht – und dass sein Geburtstag nicht der einzige bleiben wird, den es im Laufe der Erzählungen zu feiern bzw. in erster Linie zu überstehen gilt.

Besonders dramatisch gestaltet sich der Geburtstag in der Erzählung „Asche auf dem Bett“, als eine Griechenlandbesucherin anstelle der geplanten Geburtstagsfeier mit Löscharbeiten auf einer Olivenplantage beschäftigt ist. „In der Gefahrenzone“, so Blatter „ist Trauer kein Thema. Die Losung heißt Widerstand.“ Dass die Touristin in der Erzählung getreu diesem Motto auf ein brennendes Feld stürmt, um Einheimische zu retten, mutet dann doch etwas arg heroisch an. Die meisten Menschen würden sich vermutlich eher an einem sicheren Ort verbarrikadieren.

Allerdings können auch weniger dramatische Geburtstage Furcht einflößen. Ein gewisses abergläubisches Moment sucht selbst die rationalsten Köpfe heim, wenn etwa Zahlen plötzlich unheimlich wirken – bei Blatter: „Er wurde 50. Eine beunruhigende Zahl“. Oder es flattert mit einer überraschenden Einladung die Erinnerung an zurückliegende Geburtstage ins Haus – oder gar der Gedanke an eine schmerzliche gemeinsame Vergangenheit. So erinnert sich Markus, Hauptfigur in der Erzählung „Blaue Augen“, an eine frühere Freundschaft, die durch den Wettbewerb um Zuneigung geprägt war – erst um die der Mütter, dann um die der Mädchen. Diese Art Konkurrenz wird in der Folge durch ein traumatisches Ereignis bedeutungslos.

Nicht immer sind es Geburtstage, die in dem Erzählband mit traumatischen Ereignissen einhergehen. In der Erzählung „Eine kurze Geschichte“ etwa zelebrieren zwei Bewohnende eines Altenheims den Geburtstag eines Toten – des Popstars Elvis Presley. In dieser Erzählung zeigt sich besonders stark eine der größten Qualitäten von Blatters Schreiben: Sein Blick für Zärtlichkeiten inmitten der schönen wie grausamen Flüchtigkeit des Lebens.

Spiegeln gegenwärtiger Diskurse

Diese Flüchtigkeit scheint bereits in den Räumen angelegt zu sein, in denen sich Blatters Figuren bewegen: Nicht nur das Sterben in der Seniorenresidenz verweist auf die Fragilität des Lebens; auch eine brennende Olivenplantage bietet reichlich Gelegenheit zur Reflexion. Und schließlich ist da noch Kalifornien als Sehnsuchtsort – jenes Land, über das Silvio Blatter schreibt: „die latente Abbruchgefahr war ein Reiz, die tickende Zeitbombe California, die Vergänglichkeit, eines Tages, unabwendbar, würde der gigantische Rutsch in den Pazifik stattfinden.“

Derweil ist ein Zustand permanenter Krisenhaftigkeit längst nicht mehr auf Kalifornien beschränkt – man denke nur an die Klimakrise, deren Auswirkungen weltweit spürbar sind. Dennoch rücken viele literarische Texte in Auseinandersetzung mit dem Klima und seinen Auswirkungen jene Orte in den Vordergrund, die ohnehin traditionell als besonders fragil und katastrophenanfällig gelten. Es scheint, als sei es erzählerisch einfacher, die Klimakrise an Schauplätzen zu verorten, deren prekärer Status bereits kulturell etabliert ist.

Vielleicht spricht daraus eine gewisse narrative Hilflosigkeit: Statt neue Räume für das Erzählen über die Klimakatastrophe zu erschließen, greift man auf bekannte Projektionsflächen zurück – Orte, an denen das Desaster längst erwartet wird. Oder aber, es ist gerade umgekehrt: Man wählt jene besonders schönen, symbolisch aufgeladenen Landschaften, weil der Gedanke an ihre Zerstörung besonders schmerzhaft ist.

Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass die Klimakrise in den Erzählungen Silvio Blatters kaum je explizit als Ursache der geschilderten Katastrophen benannt wird. Der Begriff „Klima“ fällt zum ersten Mal in der letzten Erzählung – wo Klimaaktivistinnen im Museum eine Büste (genauer: das schützende Panzerglas) beschmieren, um auf die Auswirkungen des Klimawandels aufmerksam zu machen. Diese Szene spiegelt auf bemerkenswerte Weise den gegenwärtigen Diskurs: Auch wir sehen täglich die Bilder von Fluten, Dürren, Feuer – doch trotz der medialen Omnipräsenz ihrer zerstörerischen Kraft, wird über die Klimakrise als Ursache der Zerstörung kaum mehr gesprochen. Höchstens findet die Klimakrise als Thema im (medialen) Diskurs wieder Platz, wenn sie – wie in Blatters Text – durch störende Protestaktionen in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird.

Doch gehen Erschütterungen in den Erzählungen Silvio Blatters nicht nur von kalifornischen Erdbeben aus, sondern auch vom eigenen Körper. So wird Markus in „Blaue Augen“ im Hotel California von der Erinnerung an ein weit zurückliegendes traumatisches Ereignis heimgesucht, und in „Goodbye Everybody“ wälzt sich ein Mann in unruhigen Träumen und denkt über strahlenverseuchte Sandkästen infolge des GAUs von Tschernobyl nach. Andere Figuren Blatters geben sich der Unsicherheit der Welt nicht so grüblerisch hin. Sie machen stoisch jeden Morgen Turnübungen, panzern sich mit ihrer Muskulatur, spielen Go oder Blindschach oder bahnen sich den Weg in Richtung Brandherd griechische Küste, weil sie da an ihrem Geburtstag eben sein wollen, no matter what. Es ist immerhin ihr Leben. Angekommen am Zielort schläft die Protagonistin der besagten Geschichte aufgrund der Hitze in ihrer Wohnung auf dem Balkon. Erst als infolge der Brände morgens Asche auf ihr Balkonbett fällt und der Mond aussieht, als sei er mit „gelben Schleiern umwickelt worden“, wird ihr bewusst, dass die Wirklichkeit, in der sie lebt, längst unwirklich geworden ist:

Eine rote Sonne. Ein dunkles Meer. Leuchtender Rauch. Es stinkt nach Verbranntem. Asche liegt auf dem Bett. Auf Noemis Laken hat sich Asche angesammelt. Asche auch im Haar. Noemi bürstet es aus. Mit fast zornigen Strichen, die wehtun.

Es sind dichte, sinnliche Bilder wie diese, die Blatters Texte besonders lesenswert machen. Charmant ist zudem der Trotz seiner Figuren; etwas Widerständiges ist fast allen von ihnen eingeschrieben. Dem alten Herrn aus der titelgebenden Geschichte „Es ist sein Leben“, der nicht aus seinem Haus ausziehen mag, obwohl seine Familie es verlangt („Die Kinder langweilen ihn. Sie haben graues Schläfenhaar und schwatzen ihm die Ohren voll. Ohrstöpsel müsste er kaufen, unsichtbare.“), den Zwillingen, die sich weigern, voneinander unterscheidbar zu sein, oder der Bodybuilderin Edita, die ihr Leben ganz dem Muskelaufbau widmet. Schon aufgrund dieser Figuren lohnt sich die Lektüre.

 

Silvio Blatter: Es ist sein Leben. Geparden Verlag, 2024, 254 S.

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