Rezension zu Pierre Jarawans Roman „Frau im Mond“
Pierre Jarawan erzählt in Frau im Mond die bewegende Familiengeschichte der Zwillinge Lilit und Lina, die vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts von Kanada in den Libanon führt. Die Autorin Joana Osman hat den Roman für das Literaturportal Bayern gelesen.
*
Die Protagonistin Lilit und ihre Zwillingsschwester Lina werden unterwegs geboren, genauer gesagt auf der Fähre von Montreal nach Langegeuil, mit der Dana, die Mutter der Kinder und Jules, der Vater, unterwegs sind, um endlich zu heiraten. Zur gleichen Zeit zündet der Großvater dieser Kinder, Maroun, eine selbstgebastelte Rakete vom Dach seines Seniorenwohnheims und wird prompt verhaftet.
So beginnt der Roman mit zwei unwahrscheinlichen Geschichten – der Geschichte einer Sturzgeburt und der Geschichte einer Raketenzündung und das ist nicht zufällig so:
Frau im Mond beschreibt die Chronik der Familie El-Shami, die in gewisser Weise auch die Chronik eines ganzen Landes ist, denn die Familie stammt aus dem Libanon und lebt, wie so viele libanesische Familien, in der ganzen Welt verstreut – in Kanada, in den USA und in Armenien. Zerstreut sind auch die Familienmitglieder selbst, sowohl im übertragenen als auch im Wortsinne – denn sie haben echte Schwierigkeiten damit, die Fäden, die sie als Familie zusammenhalten, auch in den Händen zu behalten.
Dieser Aufgabe widmet sich schließlich Lilit, die Ich-Erzählerin des Romans.
Unter der Haut eingefrorene Tränen der Erinnerungen
Lilit el-Shami arbeitet in Kanada als Dokumentarfilmerin. Als solche streift – nein, taumelt sie durch die Gegenwart und die Vergangenheit ihrer weitverzweigten Familie, die nicht nur Generationen, sondern auch Kontinente und historische Ereignisse miteinander verbindet.
Der Tod des Patriarchen Maroun wird zur Initialzündung für ihre Suche, die sie nicht nur nach Beirut – in die die Heimat der Familie führt –, sondern auch ins eigene Innere.
Jarawan lässt seine, im Laufe des Romans zunehmend ratlosere, Protagonistin die Familienchronik nicht in gerader Linie erzählen. Das wäre auch zu einfach. Stattdessen legt er den Text an wie einen Countdown – in rückwärts nummerierte Kapitel, in denen das Ende bereits das Ziel ist, aber nicht das Ziel im Sinne einer Lösung. Eher ein Aufprall. Und während Lilit sich durch das Labyrinth aus Archivmaterial, Familiengeheimnissen und der leisen, nie ausgesprochenen Schuld des Nicht-Wissens arbeitet, springt der Text zwischen den Jahrzehnten und Generationen, zwischen Marouns jungen Jahren in Beirut und seiner Liebe zu Anoush, einer armenischen Geflüchteten mit Erinnerungen, die wie eingefrorene Tränen unter ihrer Haut leben, hin zu Lilits kanadischem Jetzt, das seltsam blutleer wirkt angesichts der Hitze und Wucht der Vergangenheit.
Die Beziehung der Eltern Dana und Jules, die Liebe Marouns zu Anoush, Erinnerungen an Kriege und Traumata und mittendrin: Raketen. Genauer gesagt: Ein libanesisches Weltraumforschungsprogramm, das so unwahrscheinlich ist, dass es dem Hirn eines phantasiebegabten Romanciers entsprungen sein muss, ist es aber gar nicht: Die Lebanese Rocket Society gab es wirklich – 1960 ins Leben gerufen von jungen Ingenieursstudenten, die voll Idealismus und Überschwang daran arbeiteten, den Libanon zu einer Raumfahrtnation zu machen. Jarawan lässt den Großvater Maroun Teil dieses Raumfahrtprogramms sein und erklärt damit sein Faible für Raketen. Lilit begibt sich auf die Spuren ihres Großvaters, der als junger Student in den quirligen 60ern in Beirut lebte, damals, als die Stadt noch als Paris des Nahen Ostens galt, sich der kommende Bürgerkrieg aber bereits drohend am Horizont anbahnte.
Politische Kontexte, die niemals zum Lehrbuch geraten
Frau im Mond ist kein lauter Roman und er wirkt nicht zielstrebig. Alles in diesem Buch ist schwebend – die Figuren, die Erinnerungen, die politischen Kontexte, die niemals zum Lehrbuch geraten, sondern wie Radiowellen durch den Text pulsieren. Jarawan entfaltet die Gesichte langsam und in einem lakonisch-poetischen Ton, in dem Melancholie und zärtliche Versponnenheit sich zu einem Makramee der Erinnerungen verwebt.
Dass Lilit dabei versucht, alles zu durchdringen, alles zu verstehen, und sich dennoch immer wieder in der eigenen Verlorenheit verheddert, macht sie zu einer Protagonistin, die nicht Heldin sein will. Sie ist vielmehr eine Chronistin des Fragments. Eine, die nicht weiß, wo sie anfangen soll, weil sich alles in diesem Roman im Kreise dreht. Und so wird ihre Reise nicht nur eine in das Land ihrer Herkunft, sondern auch in ein Familienuniversum, das sich in Spiralbewegungen dreht, in Träumen, in falsch archivierten Erinnerungen.
Denn Antworten gibt es hier wenige. Das Buch ist nicht daran interessiert, Rätsel zu lösen oder am Ende eine Familie zu versöhnen, die nie ganz eine war. Vielmehr geht es um das Fragen selbst. Um das Aushalten von Lücken. Um die Erkenntnis, dass manchmal die größten Geschichten jene sind, die nie ganz erzählt wurden.
Das Aushalten von Lücken, Fragen
Und wie in jeder guten Familiengeschichte geht es nie nur um diese eine Familie. Jarawan schreibt von kollektiven Traumata, ohne sie zu benennen, von Fluchten und Vertreibungen, von Träumen, die größer waren als die Länder, in denen sie geträumt wurden. Und wie bei allen Nachkriegskindern – oder deren Kindern – schwingen die Fragen mit: Was wurde verschwiegen, was verdrängt, was weitergegeben im Schweigen?
Der Roman schafft einen Raum zwischen Erinnerung und Fiktion, zwischen Kanada und dem Nahen Osten, zwischen Archiv und Erfindung.
Frau im Mond ist kein Roman, den man mal eben nebenbei liest. Er ist anspruchsvoll, eben weil es nicht den einen dramatischen Plot gibt, der in den Bann zieht, sondern weil der Roman vor allem eines ist: ein Gefühl – aber eines, das sich schwer benennen lässt. Eine Mischung aus Sehnsucht, Wehmut, Irritation und dem leisen Wunsch, dass es da irgendwo eine Wahrheit gibt, die man vielleicht nie ganz erfassen kann, aber doch suchen muss. Vielleicht ist das das Schönste an diesem Buch: dass es die Unmöglichkeit des Verstehens nicht als Scheitern darstellt, sondern als menschlichsten aller Zustände.
Pierre Jarawan: Frau im Mond. Berlin Verlag 2025, 496 S., ISBN 978-3-8270-1499-3
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Pierre Jarawan erzählt in Frau im Mond die bewegende Familiengeschichte der Zwillinge Lilit und Lina, die vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts von Kanada in den Libanon führt. Die Autorin Joana Osman hat den Roman für das Literaturportal Bayern gelesen.
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Die Protagonistin Lilit und ihre Zwillingsschwester Lina werden unterwegs geboren, genauer gesagt auf der Fähre von Montreal nach Langegeuil, mit der Dana, die Mutter der Kinder und Jules, der Vater, unterwegs sind, um endlich zu heiraten. Zur gleichen Zeit zündet der Großvater dieser Kinder, Maroun, eine selbstgebastelte Rakete vom Dach seines Seniorenwohnheims und wird prompt verhaftet.
So beginnt der Roman mit zwei unwahrscheinlichen Geschichten – der Geschichte einer Sturzgeburt und der Geschichte einer Raketenzündung und das ist nicht zufällig so:
Frau im Mond beschreibt die Chronik der Familie El-Shami, die in gewisser Weise auch die Chronik eines ganzen Landes ist, denn die Familie stammt aus dem Libanon und lebt, wie so viele libanesische Familien, in der ganzen Welt verstreut – in Kanada, in den USA und in Armenien. Zerstreut sind auch die Familienmitglieder selbst, sowohl im übertragenen als auch im Wortsinne – denn sie haben echte Schwierigkeiten damit, die Fäden, die sie als Familie zusammenhalten, auch in den Händen zu behalten.
Dieser Aufgabe widmet sich schließlich Lilit, die Ich-Erzählerin des Romans.
Unter der Haut eingefrorene Tränen der Erinnerungen
Lilit el-Shami arbeitet in Kanada als Dokumentarfilmerin. Als solche streift – nein, taumelt sie durch die Gegenwart und die Vergangenheit ihrer weitverzweigten Familie, die nicht nur Generationen, sondern auch Kontinente und historische Ereignisse miteinander verbindet.
Der Tod des Patriarchen Maroun wird zur Initialzündung für ihre Suche, die sie nicht nur nach Beirut – in die die Heimat der Familie führt –, sondern auch ins eigene Innere.
Jarawan lässt seine, im Laufe des Romans zunehmend ratlosere, Protagonistin die Familienchronik nicht in gerader Linie erzählen. Das wäre auch zu einfach. Stattdessen legt er den Text an wie einen Countdown – in rückwärts nummerierte Kapitel, in denen das Ende bereits das Ziel ist, aber nicht das Ziel im Sinne einer Lösung. Eher ein Aufprall. Und während Lilit sich durch das Labyrinth aus Archivmaterial, Familiengeheimnissen und der leisen, nie ausgesprochenen Schuld des Nicht-Wissens arbeitet, springt der Text zwischen den Jahrzehnten und Generationen, zwischen Marouns jungen Jahren in Beirut und seiner Liebe zu Anoush, einer armenischen Geflüchteten mit Erinnerungen, die wie eingefrorene Tränen unter ihrer Haut leben, hin zu Lilits kanadischem Jetzt, das seltsam blutleer wirkt angesichts der Hitze und Wucht der Vergangenheit.
Die Beziehung der Eltern Dana und Jules, die Liebe Marouns zu Anoush, Erinnerungen an Kriege und Traumata und mittendrin: Raketen. Genauer gesagt: Ein libanesisches Weltraumforschungsprogramm, das so unwahrscheinlich ist, dass es dem Hirn eines phantasiebegabten Romanciers entsprungen sein muss, ist es aber gar nicht: Die Lebanese Rocket Society gab es wirklich – 1960 ins Leben gerufen von jungen Ingenieursstudenten, die voll Idealismus und Überschwang daran arbeiteten, den Libanon zu einer Raumfahrtnation zu machen. Jarawan lässt den Großvater Maroun Teil dieses Raumfahrtprogramms sein und erklärt damit sein Faible für Raketen. Lilit begibt sich auf die Spuren ihres Großvaters, der als junger Student in den quirligen 60ern in Beirut lebte, damals, als die Stadt noch als Paris des Nahen Ostens galt, sich der kommende Bürgerkrieg aber bereits drohend am Horizont anbahnte.
Politische Kontexte, die niemals zum Lehrbuch geraten
Frau im Mond ist kein lauter Roman und er wirkt nicht zielstrebig. Alles in diesem Buch ist schwebend – die Figuren, die Erinnerungen, die politischen Kontexte, die niemals zum Lehrbuch geraten, sondern wie Radiowellen durch den Text pulsieren. Jarawan entfaltet die Gesichte langsam und in einem lakonisch-poetischen Ton, in dem Melancholie und zärtliche Versponnenheit sich zu einem Makramee der Erinnerungen verwebt.
Dass Lilit dabei versucht, alles zu durchdringen, alles zu verstehen, und sich dennoch immer wieder in der eigenen Verlorenheit verheddert, macht sie zu einer Protagonistin, die nicht Heldin sein will. Sie ist vielmehr eine Chronistin des Fragments. Eine, die nicht weiß, wo sie anfangen soll, weil sich alles in diesem Roman im Kreise dreht. Und so wird ihre Reise nicht nur eine in das Land ihrer Herkunft, sondern auch in ein Familienuniversum, das sich in Spiralbewegungen dreht, in Träumen, in falsch archivierten Erinnerungen.
Denn Antworten gibt es hier wenige. Das Buch ist nicht daran interessiert, Rätsel zu lösen oder am Ende eine Familie zu versöhnen, die nie ganz eine war. Vielmehr geht es um das Fragen selbst. Um das Aushalten von Lücken. Um die Erkenntnis, dass manchmal die größten Geschichten jene sind, die nie ganz erzählt wurden.
Das Aushalten von Lücken, Fragen
Und wie in jeder guten Familiengeschichte geht es nie nur um diese eine Familie. Jarawan schreibt von kollektiven Traumata, ohne sie zu benennen, von Fluchten und Vertreibungen, von Träumen, die größer waren als die Länder, in denen sie geträumt wurden. Und wie bei allen Nachkriegskindern – oder deren Kindern – schwingen die Fragen mit: Was wurde verschwiegen, was verdrängt, was weitergegeben im Schweigen?
Der Roman schafft einen Raum zwischen Erinnerung und Fiktion, zwischen Kanada und dem Nahen Osten, zwischen Archiv und Erfindung.
Frau im Mond ist kein Roman, den man mal eben nebenbei liest. Er ist anspruchsvoll, eben weil es nicht den einen dramatischen Plot gibt, der in den Bann zieht, sondern weil der Roman vor allem eines ist: ein Gefühl – aber eines, das sich schwer benennen lässt. Eine Mischung aus Sehnsucht, Wehmut, Irritation und dem leisen Wunsch, dass es da irgendwo eine Wahrheit gibt, die man vielleicht nie ganz erfassen kann, aber doch suchen muss. Vielleicht ist das das Schönste an diesem Buch: dass es die Unmöglichkeit des Verstehens nicht als Scheitern darstellt, sondern als menschlichsten aller Zustände.
Pierre Jarawan: Frau im Mond. Berlin Verlag 2025, 496 S., ISBN 978-3-8270-1499-3