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19.06.2013, 09:53 Uhr
Frank Piontek
Jean-Paul-Reihe
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Jean Paul selbst nannte seinen Debütroman eine „geborne Ruine“: Frank Piontek liest „Die unsichtbare Loge“ von Jean Paul, Tag für Tag, von der ersten bis zur letzten Seite, und bloggt darüber.

Logen-Blog [177]: Kein Mittelmaß, nirgends

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Auch ein Mann (Mann?) mit bipolaren Störungen oder: Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt. Ins Deutsche gebracht hat den Donald Duck die berühmte Übersetzerin Erika Fuchs, die jahrzehntelang in Schwarzenbach an der Saale lebte und arbeitete.

Der 23. Sektor (oder XX. Trinitatis-Sektor) beginnt zwar nicht mit einem Paukenschlag, aber mit einer jener rhetorischen Überraschungen, die es verständlich machen, wieso die Zeitgenossen und die Kritiker den Jean Paul so merkwürdig anders fanden. Modisch ausgedrückt: es herrschte da eine Alterität, die nicht einmal im Hinblick auf die voran gegangene komische Literatur erklärbar war. Der Erzähler meint nämlich, dass er nicht herausfinden konnte, „warum Gustav fünf Tage später in Scheerau eintraf, als er konnte.“ Auch Amandus, Gustavs Herz-, Busen- und Kardinalfreund, vermag es nicht aus ihm herauszuquetschen, so sehr die Beiden auch ein Herz und eine Seele sind.

Jean Paul charakterisiert diesen Gustav in konziser Weise:

In seinem Charakter war ein Zug, der ihn, wenn er unter einer Brüdergemeinde wäre, längst als Wildenbekehrer aus ihr nach Amerika hinabgerollet hätte: er predigte gern. Ich kann es anders sagen: seine quellende Seele musste entweder strömen oder stocken, aber tropfen konnte sie nicht – und wenn sich ihr denn ein freundschaftliches Ohr auftat: so regnete sie nieder in Begeisterung über Tugend, Natur und Zukunft.

Gustav ist also ein Extremist der Gefühle, die er entweder bis zum Stillestehen bändigt oder wie ein Hysteriker nach außen schleudert. Dieser Extremismus macht verständlich, wieso er an der Zeit und ihren Protagonisten (Protagonisten wie Röper) leidet: weil er sich jeden Schuh anzieht. Der „lichte, tiefblaue Himmel seines Innern“, den er Amandus gegenüber auftut, als er ihm von der Schmach des Auftritts im Röperschen Haus, von seiner „Vergehung“ also erzählt und seinen Schmerz „wegspricht“ – dieser Himmel hat eine depressive Kehrseite. Man sieht: Idealismus ist eine schöne Sache, aber wenn der Preis für ihn jenes finstere Gefühl ist, das sich immer dann einstellt, wenn der Idealismus gerade enttäuscht wurde, darf man daran zweifeln, ob Menschen wie Gustav wirklich das Rechte treffen. Nun ist der junge Mann ja noch sehr jung; mag sein, dass „das Leben“ ihn noch so abschmirgeln wird, dass Beides in ein Verhältnis gesetzt werden kann, so dass in deren Mitte etwas „Ordentliches“ herauskommen wird – aber so zu argumentieren hieße vermutlich, jenen bürgerlichen Ansprüchen zu genügen, die „Jean Paul“ so verachtet. Gustav repräsentiert eben so wenig das Mittelmaß wie sein Erfinder; in diesem Sinne ist er sein Alter Ego. In diesem Sinne mag der Roman autobiographisch sein.

 

Kleine Humboldtsche Ergänzung

Hat Jean Paul irgendwo Humboldt erwähnt? Natürlich. Ich mache die Probe aufs Exempel, greife mir völlig willkürlich einen Band der Werkausgabe, schlage ihn auf einer beliebigen Seite auf – und finde sofort, ohne auch nur ein einziges Mal umzublättern, eine Humboldtstelle. Merkwürd'ger Fall. Die erste Fußnote des zweiten Kapitels der Wahlkapitulation zwischen Vulkan und Venus am Abende, bevor diese die Regierung der Erde auf 1815 antrat – der 8. Teil des dritten Bändchens der Herbst-Blumine – teilt uns mit, dass der Chimborazzo „nach Humboldt nur 3,357 Toisen hat“. „E voilá, wie meine Mutter sagt“, wie der Fürst Pückler im Jahre 1834 anlässlich der unabsichtlichen, doch nicht unangenehmen Begegnung mit einem „warmen elastischen“ Körper einer jungen Dame im abgedunkelten Opernhaus zu Bayreuth schrieb.