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Helene Böhlau, Fotoatelier Elvira (c) privat

München, Kaulbachstraße 62 (Helene Böhlau)

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Kaulbachstraße 61a (1910), DE-1992-FS-NL-PETT1-1643 (c) Stadtarchiv München

In dem Haus in der Kaulbachstraße 62 hat die aus Weimar stammende Münchner Schriftstellerin Helene Böhlau von 1890 bis 1900 gelebt. Zwei Schwerpunkte lassen sich in ihrem Werk ausmachen. Zum einen das emanzipatorische Recht der Frau (Im frischen Wasser, 1891; Der Rangierbahnhof, 1896; Das Recht der Mutter, 1896; Halbtier, 1899), zum anderen die Altweimarer Vergangenheit (Ratsmädelgeschichten, 1888; Altweimarische Geschichten, 1897; Der gewürzige Hund, 1916; Die leichtsinnige Eheliebste, 1925). Böhlaus frühe, vom Naturalismus beeinflussten feministischen und emanzipatorischen Romane erregen großes Aufsehen. In der Engagiertheit ihrer Romane spiegelt sich die naturalistische Programmatik, der es um eine Verbesserung des sozialen Zustandes in der Gesellschaft geht.

Ab 1882 veröffentlicht sie Novellen und Kurzgeschichten. Auf einer Reise lernt sie den Architekten und Privatgelehrten Friedrich Arnd (1839-1911) kennen und lieben. Um Helene heiraten zu können, konvertiert er vom Judentum zum Islam und nennt sich fortan Omar al Raschid Bey. 1886 heiraten beide in Konstantinopel. Ihr Vater verbietet ihr daraufhin das Haus. 1990 zieht das Paar dann nach München in die Schönfeldvorstadt, in die Kaulbachstraße 62. 1895 wird hier auch Sohn Omar Hermann geboren. Genau wie Emmy von Egidy steht sie zu dieser Zeit in engstem Kontakt zu Herman Obrist, den sie schon aus ihrer Weimarer Zeit kennt und der in München eine Stickerei betreibt. Im Stile seiner Schule bestickt Helene Böhlau Decken und malt Jugendstilbilder. Auch Helene Böhlau tritt in den 1894 gegründeten Verein zur Förderung der geistigen Interessen der Frau ein (1899: Verein für Fraueninteressen), durch den sich die bürgerliche Frauenbewegung in Bayern verbreitet. Angeregt durch dieses Umfeld verfasst Helene Böhlau 1895 den Roman Der Rangierbahnhof und 1896 Das Recht der Mutter. 1899 veröffentlicht sie den Aufsehen erregenden Roman Halbtier, der über seine Zeit hinaus auch auf den sich um 1910 formierenden Expressionismus vorausweist und dazu führt, dass Helene Böhlau um 1900 auch als Frauenrechtlerin gilt. Böhlau legt dem Buch ein radikales Emanzipationsprogramm zugrunde: „Ein Kind und Arbeit!“ das ist die Forderung ihrer Protagonistin Isolde. Beides soll der Frau möglich sein:

Isolde träumte, während die kompakten Schatten Bericht erstatteten, was in Sache der Frauen in diesem Jahr geschehen und nicht geschehen war. Gut bürgerliche Vereinsbefriedigung lag währenddem über ihnen. Isolde träumte, daß sie aufgestanden und an den Tisch vor den gelben Sonnenhintergrund getreten wäre und in die Blendung hinein und zu den mächtigen, dunkeln Schatten gesprochen hätte: »Würdige Frauen, laßt doch eure Barmherzigkeit jung sein! Jung und stark. Laßt sie nicht alte ausgekrochne, ausgeschlichne Geleise schleichen. Thut doch etwas ganz Erstaunliches! Etwas, worüber die Welt in Lachen ausbricht, in Zorn und Wut. Weil ihr zu trotten versucht, wie der Mann trottet, so schwer und bedächtig – glaubt ihr, ihr habt es schon erreicht, was ihr wollt – oder werdet's erreichen? – O weh, etwas Altes!« Aber das klagende Stimmchen im Raum ist noch so jung. »Ich beschwöre euch, thut etwas Königliches, etwas Freies! Nichts Althergebrachtes. Nichts Kluges – nichts Vernünftiges – laßt die That der Frau wie eine lang verschüttete, eingeengte Quelle mächtig rücksichtslos hervorsprudeln – thut etwas, das davon zeugt, daß ihr den großen Willen habt, den weltüberwindenden Willen. Breitet eure großen Flügel aus wie Glucken. Bereitet dem jungen starken Weib ein Nest. Ein eignes Nest mitten in der harten, frechen Welt. Baut eine uneinnehmbare Veste aus eurem Willen. Ohne daß ein Funke von Verachtung in eurem Blick aufsteigt, laßt in unangetasteter Reinheit das junge Weib ein Kind ihr eigen nennen dürfen. – Ein Kind und Arbeit! Gebt ihnen Arbeit, bei der ihnen die Seele weit wird, und ein Kind, das ihnen das Herz froh macht. Seht ihr – ich gebe euch den großen Willen – nehmt ihn! Laßt sie nicht in der Arbeit, nach einem Kind hungernd, wie ein Raubtier verlangen. Macht etwas Ganzes aus ihr! [...] Des Menschen Wille schafft die Welt! Weshalb dem jungen Weib nicht ein Nest, worin es werden kann, was es werden will und werden muß, wenn es einmal mit beiden Lungen frei atmen kann, wie ein Geschöpf Gottes und beides hat, ein Kind und Arbeit. Und aus diesem kleinen Nest wird eine neue starke Menschheit kommen – allen zum Trotz, die eine Menschheit von Sklaven und Haustieren wollen.

Isolde selbst bleibt ein Kind verwehrt. Und das Bild das Böhlau von der Mutterschaft anderer Frauengestalten im Roman zeichnet, ist desillusionierend. Drastisch schildert sie Familien- und Entbindungsszenen mit einer solchen Intensität des Grauens, dass ihr Verleger um Abmilderung bittet. Mit psychologischem Scharfblick stellt Böhlau dar, wie verzweifelte Mütter ihre kleinen Kinder zum einzigen Lebensinhalt hochstilisieren und Söhne sich ihren Müttern gegenüber nicht viel anders verhalten als andere Männer gegenüber Frauen.

Die Literaturwissenschaftlerin Gisela Brinker-Gabler hat Halbtier als den „provozierendsten Frauenroman der Jahrhundertwende“ bezeichnet.

 


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Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Ingvild Richardsen

Sekundärliteratur:

Böhlau, Helene (1899): Halbtier. 12. Kapitel.

Brinker-Gabler, Gisela (1988): Perspektiven des Übergangs. Weibliches Bewußtsein und frühe Moderne. In: Dies. (Hg.): Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 2. C. H. Beck, München, S. 169-205.

Reuter, Gabriele (1921): Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Berlin.

Schwerte, Hans (1955): Böhlau, Helene. In: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 376f. URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118878484.html, (14.12.2017).

Soergel, Albert (1880): Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. 3. unveränd. Abdr. Voigtländer Verlag, Leipzig.

Verein für Fraueninteressen (1897): 3. Jahresbericht. München.

Zils, Wilhelm (1913) (Hg.): Al Raschid Bey. In: Geistiges und künstlerisches München in Selbstbiographien. Max Kelleres Verlag, München, S. 6f.