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Gedenktafel am Vorderhaus der Barer Straße 37 (c) Literaturportal Bayern

Graf: Barer Straße 37

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Gruppenbild 1920 (v.l.n.r.): Mirjam Sachs (1890-1959), Oskar Maria Graf und Karoline Graf, geb. Bretting (?). Bildsign.: BSB/Ana 440.52.A.198.

Über ein Jahrzehnt verbringt Oskar Maria Graf mit seiner künftigen zweiten Frau Mirjam Sachs im Atelier im Rückgebäude der Barer Straße 37 (amtlicher Einzug im Melderegister am 16. August 1919). Nachdem er am 26. Mai 1919 aus der Haft entlassen wird, sind er und Mirjam endgültig ein Paar. Die beiden haben sich über Grafs erste Frau Lina im Sommer 1918 kennen- und lieben gelernt und heiraten nach der Scheidung von Karoline Bretting am 2. Oktober 1944. Mirjam Sachs, die noch Studentin ist und selber Gedichte schreibt, gibt ihr Studium auf und arbeitet als Fremdsprachenkorrespondentin. Der geschäftstüchtige Oskar Maria Graf organisiert im Rückgebäude der Barer Straße 37 ausgelassene Atelierfeste gegen Bezahlung:

Ich kam aus dem Halbrausch und dem vernebelten Taumel kaum mehr heraus und tobte wie ein ungeschlachter brüllender Bär durch die eng aneinandergepreßten Tanzenden im überfüllten Atelier herum, packte ein Mädchen am Hintern oder am Busen, küßte es lachend ab und wieherte anspornend: „Erotik, mehr Erotik, bitte! – Hier herrscht Sexualdemokratie, bitte! – Auf und los, Höchstentfaltung der Geilheit und Sexualität, bitte! Los, Mann! Was tappen Sie so beschissen herum? Hingabe, Hingabe bis ins Letzte!“ (aus: Oskar Maria Graf: Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918-1933. Werkausgabe in 16 Bänden. Hg. von Wilfried F. Schoeller. Bd. 1-13. List Verlag, München/Leipzig 1994, Bd. 10, S. 179f.)

Sein Talent beim Feiern hat Einfluss auf die Kunst: der 1904 in München geborene Künstler Erwin Kreibig, Schüler von Richard Riemerschmid an der Kunstgewerbeschule, ist von den Atelier- und Faschingsfesten derart angetan, dass er Larven, Kostüme und wild sich gebärende Festgesellschaften zum fortwährenden Thema seiner Arbeiten macht. Dagegen bleibt Grafs Lebensgefährtin Mirjam von den Festivitäten weitgehend verschont, da dieser pedantisch dafür sorgt, dass alles wieder aufgeräumt wird:

und wenn Mirjam, vor dem Weggehen in ihr Büro, aus ihrem weit abgelegenen Zimmer, ganz hinten im Gang des oberen Stockwerkes, herunterkam und sagte: „Na, sauber sieht's aus. Und du erst? Und das findest du schön, das brauchst du?“, dann antwortete ich: „Schön nicht, aber interessant, hochinteressant. Erst dabei zeigt sich, was jeder Mensch für ein Popanz ist –“. (ebenda, S. 181)

Von Mai 1920 bis Juni 1921 geht Graf einer geregelten Arbeit nach: Er ist Dramaturg an der Neuen Bühne in der Senefelderstraße. Als Dramaturg hat er die Aufgabe, die eingehenden Manuskripte zu sichten und einleitende Ansprachen vor Publikum bei den Vorstellungen zu halten. Einmal wird ihm ein bedeutsames Stück vorgeschlagen – es ist Brechts Trommeln in der Nacht, das dieser selbst bei der Neuen Bühne einreicht. Weil aber aus feuerpolizeilichen Gründen nicht mehr als acht Schauspieler auftreten dürfen, kann Graf das Stück nicht zur Aufführung bringen.

Um 1921 wendet sich Graf von der expressionistischen Lyrik ab und beginnt längere Prosatexte zu schreiben. Sein Debüt als Geschichtenerzähler gibt er 1922 mit dem Erzählband Zur freundlichen Erinnerung. Neben Frühzeit (1922), einem autobiografischen Roman Grafs über dessen Ankunft in München 1911 bis zur Revolution 1918, weiteren Erzählungen und Romanen (u.a. Bayrisches Lesebücherl, Die Heimsuchung, Die Chronik von Flechting, Finsternis, Kalender-Geschichten) entsteht sein wohl bedeutendstes Werk dieser Jahre, der allseits gelobte, von Thomas Mann in der Frankfurter Zeitung und in einem US-Magazin besprochene Roman Wir sind Gefangene (1927). Das Bayrische Dekameron (1928) sichert ihm zudem den „Durchbruch zum literarischen Geschäft“ (Gerhard Bauer).

Im Laufe der 1920er-Jahre kommt Oskar Maria Graf endlich dazu, von seinen Einnahmen als Schriftsteller zu leben. Für das Jahrbuch des Backmittelherstellers Diamalt schreibt er mehrere Geschichten über seine Erlebnisse als Bäckerlehrling, für die er fürstlich entlohnt wird. Sogar eine eigene Oskar-Maria-Graf-Zigarette lässt er sich durch einen lukrativen Handel mit dem Zigarettenfabrikanten Abels angedeihen.

In einem Passus in Gelächter von außen (ebenda, S. 401) spricht Graf von der „Wohnung“ im Gegensatz zum „Atelier“ im Rückgebäude der Barer Straße 37. Die Wohnung im dritten Stock der Hohenzollernstraße 23 beziehen er und Mirjam möglicherweise schon vor 1931.

 


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